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Streit unter Göttern
ОглавлениеWordsworths’ Gespür für die Götter war sehr englisch. Dove Cottage, heute das Mekka tausender von Touristen, die die Straßen scharenweise auf der Suche nach der Einsamkeit und Ruhe der Visionen Wordsworths’ bevölkern, war einst eine kleine, einsame Hütte in einem sattgrünen Tal. Keine Windstürme oder Orkane stören den sanften Nieselregen, der nur selten von Sonnenstrahlen unterbrochen wird, die hier niemals etwas verbrennen oder versengen. Keine unendlichen Wüsten oder kahle Berge unterbrechen den Anblick der rundlichen Hügel, der im vollen Blattwerk stehenden Bäume und angenehm zu schauenden dunklen Moore. Es stimmt schon, man spürt hier eine Ahnung von Gefahr und Risiko in all den rauschenden Bergbächen und den Nebeln, die von den scharfen Felsen herabkommen. Man kann wohl verlorengehen oder von Felsen herabstürzen, aber das kostet ein wenig Anstrengung. Und es ist wahrscheinlich, daß man einsam als Wolke inmitten einer Wiese voller goldener Osterglocken umherwandert und spürt, wie schön und sanft die Natur ist, wie großzügig ihre Gaben sind und wie freundlich sie ist, uns zu so geringem Aufwand eine solch große Schönheit zu gewähren.
Auch Griechenland ist schön. Tausende von Touristen, die vom steten Regen auf Dove Cottage genug haben, buchen Pauschalreisen nach Griechenland und liegen am Strand in weinseliger Benommenheit: Sonnenanbeter, die ihre Körper Apollo, dem Glänzenden, darbieten, dem Gott der Sonne und heute vielleicht dem der Pauschalreisen.
Aber in den Tagen, ehe es Wasser in Flaschen gab, Wasserspülung auf Toiletten und tiefgefrorene Lasagne, die aus Athener Fabriken eingeflogen wird, war die Sonne ein Feind wie auch ein Freund des Lebens. Die Suche nach Wasser und Schatten wurde ernsthaft betrieben. Und wenn der Regen kam, kam er in Stürmen daher, mit Winden, die von der See her bliesen und in ihrer Wut Häuser und das Leben der Menschen bedrohten. In der mediterranen Welt ist die Natur zugleich rauh und schön. Die Götter sind keineswegs nur wohlwollend. Welche göttliche Gegenwart soll man auch in Erdbeben und Orkan wahrnehmen? Nicht die sanfte Göttin von Kumbrien und der englischen Seen, sondern das Donnern und Blitzen des Zeus, des Kriegsgottes und Siegers über den Gott Kronos, und man sieht die brennenden Pfeile des Sonnengottes, der so oft das tötet, was er doch erst zum Leben erweckte.
Für die alten Griechen gab es keine unendliche Gegenwart, „die durch alles hindurchging“. Es gab vielmehr viele Anwesenheiten, Präsenzen, manche davon wohlwollend, manche bedrohlich, alle zusammen aber unzuverlässig, und das religiöse Gespür der Griechen war weder das der englischen romantischen Dichter noch das eines noch weit bequemeren internationalen Touristen. Es war vielmehr zwiespältig und hatte viele Gesichter. Die Intrigen und Streitigkeiten der olympischen Götter drücken die Unsicherheiten und Konflikte in den Energien der natürlichen Ordnung aus, von Sonne und Sturm, Fruchtbarkeit und Tod, Sieg und Plagen.
Man hatte wenig oder gar keine Vorstellungen eines höchsten Schöpfergottes, nach dessen Willen alles passiert. Die schöpferischen und zerstörerischen Energien des Kosmos sind eher willkürlich miteinander verbunden. Sie haben jeweils ihren eigenen Willen. Im ersten Buch der Ilias hält Athene, die Göttin des Krieges und der Weisheit, Achills Wut auf Wunsch Heras zurück, der Göttin der Erde und Beschützerin der Griechen. Achill, der unter der Demütigung durch König Agamemnon leidet, geht hin und spricht mit seiner Mutter Thetis, einer Göttin und Tochter des Nereus, einem Meeresgott. Thetis ist die Göttin des vom Meer aufsteigenden Nebels. „Sie erhob sich aus dem Meer wie grauer Nebel … sie erhob früh am Morgen sich durch die schwellende See und zog hin zum unendlichen Himmel.“ Sie sucht bei Zeus nach, um einen Weg zu finden, der ihrem Sohn Achill die Ehre widerfahren läßt, und Zeus entspricht ihren Bitten. Dann greift Hera, die Gattin des Zeus, ihn mit Worten an und bezichtigt ihn geheimer Absprachen ohne ihr Wissen. Ein Streit kommt auf, in welchem Zeus seine höchste Macht über die Götter festsetzt. Alles endet dann aber doch harmonisch, als Hephaistos, Gott des Feuers und des Betrugs, die Götter allesamt zu einem Fest überredet, und Apollo spielt die Leier, während die Götter in unkontrolliertes Gelächter und Schlaf versinken.
Auf einer bestimmten Ebene ist dies eine einfache Intrigengeschichte am Sitz der Götter, die sich nach Belieben in die Angelegenheiten der Menschen einmischen und auf ihre Freuden und Tragödien mit distanziertem Amüsement herabsehen; diese Götter sind außerdem leicht mit Unmengen von Wein und Rindfleisch zu besänftigen. Und natürlich erzählt Homer eine Geschichte, und er ist darauf bedacht, die Charaktere der Götter unterschiedlich zu entwickeln und sie nach seinem eigenen Gutdünken in olympische Seifenopern zu verwickeln.
Es ist auch möglich, daß Homer das frühe Beispiel eines alten griechischen Skeptizismus in bezug auf jene Götter war, die dann drei-, vierhundert Jahre später die Stücke von Sophokles und Aristophanes bevölkerten. So konnte er sehr menschlich und humorvoll über die furchteinflößenden Mächte schreiben, die in früheren Zeitaltern fromm angebetet wurden. Zusammen mit Hesiod (dem Autor der Theogonie, dem ersten Versuch einer systematischen Genealogie der Götter) soll Homer den Griechen ihre Götter gegeben haben. Vielleicht aber verloren in Homers Werk die alten Götter tatsächlich schon ihre alte Macht.
Doch schon im ersten Buch der Ilias kann man Spuren eines älteren, archaischeren Gespürs für diese Macht aufspüren. Wenn Achill beschließt, nicht gegen Agamemnon zu kämpfen, ist es Athene, die Weisheit, „ihm allein sichtbar“, die ihn zurückhält. Diese Weisheit wird vom Gedanken des allgemeinen Wohlergehens des griechischen Heeres nahegelegt („gesandt von der lilienarmigen Hera, die um beide zugleich in liebender Seele besorgt war“). Achill sitzt am Meer, als die Morgensonne den Nebel aufsteigen läßt, um über seine Zukunft nachzusinnen. Aber so unergründlich sie auch ist, wird sie doch ganz „das Wirken von Zeus’ Willen sein“. Und dieser Wille ist selbst den Unsterblichen verborgen.
Die Mächte, die Götter aber haben ihre eigenen Absichten. Thetis, Mutter und Beschützerin des Achill, sorgt sich um die Ehre ihres Sohnes. Hera, Beschützerin der Griechen, denkt an die Bewahrung des Griechen-Heeres vor allem Schaden. Die Götter, die sich um die Menschen sorgen, sind hierüber geteilter Meinung: „Da war ein Aufruhr unter den himmlischen Göttern.“ Jede spirituelle Kraft hat ihre eigenen Anhänger und Verehrer. Wie die Schutzengel des späteren Christentums, als ihre Anhänger miteinander stritten, so streiten auch die Götter. Die Ehre des Achill behauptet sich gegen die Sicherheit des griechischen Heeres. Die Götter sind die Projektionen dieses Konflikts auf die olympische Leinwand.
Letztlich aber siegt Zeus’ Wille, und das beste für die Götter ist, mit ihrem Göttervater Zeus Frieden zu schließen. Obgleich es nur wenig Gespür für einen alles entscheidenden Willen gibt, ist da doch ein Bewußtsein für eine Macht, die „weit stärker als wir alle“ ist. Sie kann hören, einen beschwatzen, schelten, und sie kann sogar schmollen. Am Ende aber, wie es Zeus der Thetis gegenüber ausspricht, „kann kein Wort von mir widerrufen werden oder sich als falsch erweisen oder nicht erfüllt werden, wenn ich mein Haupt zustimmend beuge“.
Obwohl es also oft Streit unter den Göttern gibt, ist doch Harmonie möglich: wenn die Musen singen, Apoll die Leier schlägt, der Wein in Strömen fließt und die Götter lachen. Das Schicksal der Menschen wird sich abspielen, durch sämtliche Streitigkeiten um Zweck und Verlangen hindurch, bis am Ende möglicherweise die Welt wie in einem Spiegel das Lachen der Götter widerspiegelt.
Gleich am Anfang von Homers Epos sehen wir die Weisheit und Ehre Achills, die prekäre Situation des griechischen Heeres, das gleichsam aus potentiell einander bekämpfenden Stadtstaaten bestand; wir sehen die höchste und letzte Macht des Schicksals und die Möglichkeit der Versöhnung, indem man sich jener unergründlichen Macht unterwirft. All diese Faktoren haben in den Taten der Götter ihre Symbolik; es sind aktive Kräfte, welche die Zukunft bestimmen und in und durch die historischen Ereignisse hindurchwirken, durch die Kräfte der Natur und den Verstand und die Herzen der Menschen.
Man sollte aber nicht denken, daß dies eine Reduktion der Götter auf bloße Symbole bedeutet, auf natürliche Kräfte und Prozesse. Die Götter sind Symbole. Was aber symbolisiert wird, ist nicht „natürlich“ in dem Sinne, daß es rein physikalisch wäre oder ausschließlich in Begriffen der physikalischen Gesetze oder anderer experimenteller Wissenschaften erklärt werden kann. Die Götter symbolisieren natürliche Phänomene. Es wäre wahrheitsgemäßer, wenn man sagte, daß sie die natürlichen Phänomene ermächtigen, andere tiefere Kräfte zu symbolisieren. Auch symbolisieren die Götter nichts „Übernatürliches“ in dem Sinne, daß damit eine Art immaterielles Duplikat des Materiellen gemeint wäre, eine Schattenwelt, die diese substantielle Welt auf gespenstische Art nachäfft. Was also wird symbolisiert?
Es gibt die Geschichte einer russischen Ballerina, die im Kirow-Ballett eine außerordentlich bewegende Vorstellung gab und das Publikum entzückt angesichts dessen zurückließ, was alle als einzigartig inspirierte Gelegenheit begriffen. Später fragte man sie: „Und was sollte es bedeuten?“ „Was es bedeuten sollte?“ antwortete sie. „Was es bedeuten sollte? Wenn ich es mit Worten sagen könnte, hätte ich es nicht getanzt.“
So ist es also, wenn man mit Göttern spricht. Wenn wir in anderen Worten sagen könnten, was solches Reden bedeuten soll, bräuchten wir nicht eine solche Sprache zu nehmen. Wir könnten die Symbole beseitigen und über eigentliche Tatsachen sprechen. „Zeus ist der Donnersturm“, könnten wir sagen, oder „Thetis ist der Nebel auf dem Meer“. Warum dann aber überhaupt noch weiter von Zeus oder Thetis reden? Natürlich sprechen wir ja nicht mehr von ihnen. Wir sind allesamt ernüchtert und prosaisch geworden in bezug auf die Welt, in der wir leben. Wir kennen den Donner und wir kennen das Meer. Die griechischen Götter aber verschwanden vor langer Zeit vom Olymp. Wohin sind sie gezogen? Was haben wir verloren, indem wir nicht mehr von ihnen reden? Ist die Welt seit ihrem Abgang ärmer geworden?
Wordsworth und Blake würden uns oder vielen von uns sagen, daß wir das Gespür für die Anwesenheiten, die zutiefst in Licht und Meer, Luft und Himmel verwoben sind, verloren haben; für die ganze Welt, die man in einem Sandkorn sehen kann, für die Unendlichkeit, die wir in der Hand halten können. Wir haben die Sprache verloren, die all dies möglich macht, und wir haben keine anderen Worte, die je wieder das verschwundene Gewahr-Werden der Heiligkeit des Realen heraufbeschwören können, der Realität, in der wir leben und deren Teil wir sind.