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Gott, Buchstäblichkeit und Dichtung
ОглавлениеTraditionelle Gottesbilder scheinen in der modernen amerikanischen und europäischen Zivilisation ihre Anziehungskraft eingebüßt zu haben. Nicht, daß gleich die Existenz Gottes widerlegt worden wäre – nach wie vor streiten Philosophen ergebnislos über die Beweise, und kein gut informierter und aufrichtiger Beobachter der philosophischen Szene glaubt ernsthaft, daß der Fall gelöst worden wäre noch je gelöst würde. Nein, Gott ist schlicht und einfach langweilig und irrelevant geworden. Wir sehnen uns nicht mehr nach großen Männern mit weißen Bärten; wir spüren nicht länger das Gewicht der gewaltigen Schuld, das den Pilger auf seine Pilgerfahrt trieb. Jesus ist zwischen den Seiten der für immer verlorenen Geschichte versunken, und es scheint unmöglich, ihn in einer neuen Auferstehung dort herauszuziehen, was ihn für mehr als nur eine Handvoll unserer Zeitgenossen zu einem machtvollen Bild der Unendlichkeit machen würde.
Das Traurige ist – und es ist traurig, weil es den Verlust einer bestimmten Wahrnehmung bedeutet, den Verlust einer spezifisch menschlichen Sichtweise –, daß es scheinbar nichts gibt, das solche Bilder ersetzen und uns zeigen könnte, daß wir „mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in jedem Augenblick“ (Schleiermacher, Reden über die Religion, Zweite Rede, 1799).
Spiritualität, die Kultivierung der ekstatischen Zustände unseres Bewußtseins, mag uns zwar ins Grenzgebiet unserer Kultur führen; Religion aber, der offizielle, organisierte Kultus der Anbetung Gottes, stirbt. Das sieht man in Europa am klarsten: wo die Pilgerorte zu Touristenattraktionen verkommen sind, Kirchen zu Architekturdenkmälern wurden und religiöse Rituale zu Aufführungen geworden sind, die von Anthropologen mit Camcordern aufgezeichnet werden. Aber auch in Amerika gibt es, während die populäre Religion nach wie vor stark ist, einen weitverbreiteten intellektuellen Widerwillen gegen die organisierte Religion. Es besteht eine Feindschaft gegenüber der scheinbar naiven wörtlichen Auslegung des Bibeltextes innerhalb vieler christlicher Kirchen; eine Feindschaft, die ihrerseits von einer entsprechenden feindlichen Haltung gegenüber vielen Lehren der modernen Wissenschaft beantwortet wird. In den wilden Kämpfen um Kreationismus und Fundamentalismus hat es oft den Anschein, daß wir heutzutage ganz einfach das Gespür verloren haben, worum sich Religion eigentlich dreht. Wir streiten über Theorien und Lehren und Tatsachen, die nur schwer zu begründen sind, und dabei reduzieren wir die Religion auf eine Art argumentativer und spekulativer Wissenschaft. Oft scheinen wir das Gefühl für Gott oder die Götter ganz einfach verloren zu haben, für die ursprüngliche Vision also, die der Ursprung aller Religion ist.
Wieso das? Auch deshalb vielleicht, weil die Menschen die traditionellen Gottesbilder zu wörtlich genommen haben. In einer Zeit, in der die Wissenschaft zur Königin der Akademien geworden ist, wird generell angenommen, daß das wörtliche, zählbare und wiegbare Wirkliche auch das Wahre und damit die einzige Form der Wahrheit ist. Demgemäß muß Gott, wenn es denn einen gibt, ein Wesen sein, das die Wissenschaft beschreiben kann – Gott muß ein Übermensch, eine Super-Person sein, mit einem nachvollziehbaren und deutlichen Einfluss auf die Welt, den wir testen und verifizieren können. Gott muß eine Ursache sein, deren Wirkungen wir durch Experiment und Beobachtung entdecken können. Doch dieser Gott hat sich als überflüssig hinsichtlich unserer Ansprüche entpuppt. Gott ist, um es klar zu sagen, ganz einfach redundant, eben überflüssig geworden. Keine spezielle göttliche Auswirkung ist je in einem wissenschaftlichen Laboratorium aufgezeichnet worden, und die Wissenschaft erklärt die Welt sehr wohl auch ohne Gott. So daß also Gott, der Gott, der doch eine weitere Tatsache sein sollte, die wir aufzeichnen und dokumentieren können, aus der modernen Welt verschwunden zu sein scheint.
Das wiederum legt den Gedanken nahe, daß das, was vielleicht schiefgelaufen sein könnte, die Idee von Gott als einer Art zusätzlicher wörtlicher Tatsache war. Was aber könnte Gott sonst sein? Um das herauszubekommen, müssen wir wohl zu den Wurzeln der religiösen Überzeugungen innerhalb der menschlichen Erfahrungswelt zurückgehen und zu entdecken versuchen, wie das Reden über Gott oder die Götter aufkam und was es bedeuten sollte. Gibt es so etwas wie ein Gefühl für die Götter, das durch unser modernes Betonen des Faktenwissens womöglich unterdrückt worden ist? Es kann durchaus erhellend sein, einen Blick auf eines der frühesten literarischen Zeugnisse der westlichen Geschichte zu werfen, auf Homers Ilias. Thema dieses Epos ist der Trojanische Krieg, aber es ist auch voller Hinweise auf die Götter, die den Menschen in diesem Epos erscheinen, an ihren Kämpfen teilnehmen und letztlich deren Geschicke bestimmen. Die Ilias konnte als literarischer Text gelesen werden, in welchem eindeutig fiktionale übernatürliche Wesen mit den griechischen und trojanischen Kriegern sprechen und kämpfen. Tatsächlich legt das New Shorter Oxford English Dictionary eine solche Interpretation dieser Wesen nahe:
„God – a superhuman person regarded as having power over nature and human fortunes“ (Gott – eine übermenschliche Gestalt, der Macht über die Natur und das Geschick der Menschen zugesprochen wird).
Die Ilias ist endlich auch Dichtung, weshalb wir annehmen dürfen, daß Homer (wobei wir der Tradition folgen, gemäß der es einen solchen Dichter gab, der der Autor dieses Epos ist) also noch etwas anderes mit seinen Göttergeschichten bewirkt – etwas, das immer noch die Fähigkeit hat, Licht auf die menschliche Erfahrung zu werfen und so gegen das Gefühl der Irrelevanz angeht, das Gott und die Götter heute doch so oft zu umgeben scheint. Die Götter und Göttinnen sind vielleicht nicht als wahre Personen erdacht worden, die auf dem Olymp lebten, Festgelage hielten, sich stritten und in allerlei Komplotte verstrickt waren. Schließlich war der Olymp nicht allzu schwierig zu erklimmen, und man konnte leicht entdecken, daß Zeus dort oben keinen Palast hatte. Vielleicht gewinnen wir, wenn wir die Ilias als Dichtung erkunden, ein besseres Gespür für die Gefühle, die Homer ausdrücken wollte, als er in dieser Weise über die Götter schrieb.