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Eine Welt voller Götter
Оглавление„Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus …“ So fängt die Ilias an. Hier ist ein Gott, jedenfalls aber eine Göttin, schon in der ersten Zeile erwähnt. Der Dichter sagt aber keinem anderen, er oder sie möge das Epos für ihn schreiben. Oder etwa doch? Die Göttin wird durch ihn singen. Er wird die Worte niederschreiben, aber sie werden einer Quelle entspringen, die jenseits seines Bewußtseins liegt: von einer inspirierenden Macht herrührend, einer schöpferischen, expressiven und wahrhaft übernatürlichen, angesiedelt außerhalb der natürlichen Fähigkeiten der meisten Menschen (die Gott sei Dank nicht alle Dichter sind).
Homer beschwört die Göttin beziehungsweise ihre Fähigkeit, seinen Geist mit der Kraft der Phantasie und mit Schönheit zu erfüllen. Es ist dies nicht nur eine archaische, primitive Phantasie, sondern eben auch eine völlig zeitgenössische. Wenn wir uns hinsetzen, um den großen Roman zu schreiben, der ja angeblich in jedem von uns schlummert, warten wir auf die Muse, die uns inspirieren soll. Nur scheint die Muse meist auf Urlaub zu sein, und das große Buch wird niemals geschrieben.
Es gibt etwas fast Übernatürliches bei Homer, bei Mozart, Bach, Leonardo und Rembrandt. Mozart mochte ein kindischer Schelm gewesen sein, aber erhabene Musik floß nur so aus ihm heraus. Zuweilen schaue ich mir voller Konzentration Porträts von J. S. Bach an, als wollte ich das Genie erkennen, das, was ihn von anderen Menschen unterscheidet. Aber so intensiv ich auch schaue: Er sieht ganz gewöhnlich aus, ein bürgerlicher Herr mit einer konventionellen Perücke und einem recht plebejischen, fleischigen, selbstzufriedenen Gesicht. Wo sind die h-Moll-Messe, die Matthäus-Passion, Hunderte von zutiefst bewegenden Kantaten? Jedenfalls nicht in seinem Gesicht geschrieben.
Erstaunlich ist, daß all diese schönen, leidenschaftlichen, belebten Gesichter mit dem wallenden Haar, der hohen Stirn, der gebogenen Nase und den durchdringenden Augen Schauspielern zu gehören scheinen, die niemals eine einzige Note Musik schreiben könnten. Das Problem mit den wirklich Großen ist, daß sie eher wie Gärtner aussehen, was keine Beleidigung sein soll. Die Geistesaristokraten, die Götter der Kunst, haben meist oft grobe Züge und Knollennasen. (Dabei denke ich zugegebenermaßen an Rembrandt; man muß einräumen, daß er tatsächlich eine massive Knollennase hatte.)
So können ganz offenbar diese Individuen aus Fleisch und Blut nicht der Quell all des Schönen in Musik und Vision sein, dieser wunderbaren Ordnung und des herzzerreißenden Gefühls. Sie, diese irdischen Instrumente, werden von den Musen, den Töchtern der Erinnerung, übernommen und benutzt, um vergängliche Bilder der unsterblichen Welt zu spinnen, in welchen die Götter, die wahrhaft Schönen, ihre ewigen Spiele spielen.
Das ist zugleich die erste Lektion, die wir über die Götter lernen. Sie sind poetisch, sind symbolische Konstruktionen der menschlichen Phantasie. Die Musen, diese neun Göttinnen, sind keine hübschen jungen Frauen, die mit ihren Eltern auf dem Olymp leben und ab und zu auf die Erde hinabsteigen, um Gedichte zu schreiben und Lieder zu singen. Die Musen sind phantastische Symbole der schöpferischen Energie von Weisheit und Schönheit, die eher selten manche Menschenwesen zu inspirieren scheinen (die meisten von uns wirklich nur sehr gelegentlich); sie kommen und gehen, als stünden sie außerhalb jeder Kontrolle durch das Bewußtsein.
Wieso neun Musen? Diese Zahl entspricht den verschiedenen Arten der Kreativität – Gesang, Schauspiel, Tanz etc. –, so wie sie im alten Griechenland unterteilt wurden.
Wieso junge Frauen? Weil Männlichkeit, gerade im alten Griechenland, gerne mit kriegerischen Tugenden assoziiert wurde – Mut, Heldentum und Angriffslust. In der Ilias verbringen die jungen Männer ihre Zeit damit, entweder einander zu töten oder darüber nachzudenken, wie man den anderen noch besser töten kann. Weiblichkeit wird meist mit Sorge, Sensibilität und den Tugenden der Muße und des häuslichen Lebens verbunden. Die neun Musen symbolisieren eher die „weicheren“ schöpferischen Energien von Gesang und Tanz als die doch „wilderen“ Energien von Sturm und See.
Warum sind sie Töchter von Zeus und der Erinnerung? „Erinnerung“ wird hier in einem weiteren Sinne gebraucht: Sie soll das gesamte Wissen und die gesamte Erfahrung der Menschen bezeichnen. Die schöpferischen Energien von Weisheit und Kunst benutzen diesen Erfahrungsschatz, um Geschichten und Bilder zu ersinnen, die neue Einsichten in die Bedingungen des Menschen ermöglichen. Sie sind „Töchter“ in dem Sinne, daß sie dem Schatz der gesammelten Bilder und Gefühle entspringen. Sie entspringen zugleich aber auch Zeus, dem endgültig kontrollierenden Willen aller Dinge im Menschenleben. Daher agieren sie unter dem allgemeinen Willen der höchsten schöpferischen Energie, welche unserer Welt zugrunde liegt.
So sind diese Göttinnen also Konstrukte der menschlichen Phantasie? Ja – sie sind keine übernatürlichen Gestalten, eigenständige Individuen mit Eltern, Brüdern und Schwestern. In ihrer eigentümlichen Form und Anzahl sind sie vielmehr Kunstprodukte. Sie sind Symbole und keine wirklichen lebendigen Menschen, Übermenschen oder dergleichen.
Das heißt aber noch lange nicht, daß sie Lügen wären. Sie repräsentieren tiefe und bedeutende Kräfte, welche das Leben der Menschen transformieren können. Die schöpferischen, künstlerischen Energien inspirieren und begeistern die Menschen. Sie ergreifen das Leben der Menschen und heben sie auf eine höhere Ebene, weit über den Alltag. Sie steigen aus den Erfahrungen auf (wie dies auch die Töchter der Erinnerung tun) und drücken auf indirekte und geheimnisvolle Weise manch verborgene Dinge aus unserer Wirklichkeit aus, die letzten Gründe des menschlichen Lebens (ebenso wie die Töchter des Zeus). Jeder strebsame Künstler wäre gut beraten, die Musen anzurufen, auf daß sie seinen Geist mit übermenschlichen Einsichten füllen und durch ihn womöglich unsterbliche Werke der Schönheit hervorbringen.
Die schöpferischen Energien sind also keine Personen. Aber sie werden als Personen angesprochen. Und das bedeutet, daß Energien, die ihrerseits dem menschlichen Leben Grenzen setzen, von denen einige wiederum in bestimmten Augenblicken der Besessenheit oder Inspiration durch das Bewußtsein kanalisiert werden können – daß diese Energien also nicht bloß unpersönliche, unbewußte Kräfte sind. Sie sind etwas dem menschlichen Willen und Bewußtsein Ähnliches, wenn auch nur entfernt.
Und das ist die zweite Lektion, die wir über die Götter lernen. Die Welt voller Götter zu sehen, wie es die Griechen taten, heißt, die Welt als fundamental persönlich in ihrer Natur zu begreifen. Viele der aktiven Energien haben so etwas wie eine Absicht (einen Willen) oder ein Reagieren auf die Umgebung (Bewußtsein) bzw. sie drücken dies aus. Dieses Gefühl aber ist den meisten in unserer modernen Welt vollständig abhanden gekommen. Wenn wir die Natur als große Maschine ansehen, von der wir höchstens winzige computerisierte Teile sind, dann werden die persönlichen Aspekte der Natur unsichtbar. Viele Menschen betrachten den Fortschritt des modernen europäischen Denkens auf diese Art. Es ist wie der Auftritt des großen Unholds mit dem faustischen Versprechen von vollständigem Wissen und Kontrolle über die Natur und der Absicht, die Götter aus dieser Maschine ganz auszutreiben.