Читать книгу Gott - Keith Ward - Страница 12
Friedrich Schleiermacher: eine romantische Darstellung der Götter
ОглавлениеWährend Wordsworth in Dovedale sinnenhaft in Ohnmacht fiel, schrieb in Berlin ein Pastor der reformierten Kirche eine ganze Reihe von Reden an die „Gebildeten unter den Verächtern“ der Religion.
Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der das einzigartige Mißgeschick hat, daß kein englischsprachiger Student seinen Namen korrekt buchstabieren und noch weniger aussprechen kann, tat das Seine dazu, um die kosmische Maschine zu sabotieren.
Calvinisten haben zuweilen einen schlechten Ruf bei denen, die sich den Künsten weihen. Haben sie denn nicht auch das Tanzen verbannt, die Spielkarten, Theater und andere vergnügliche Beschäftigungen und den Sonntag für ganze Generationen von Puritanern zum langweiligsten Tag der Woche gemacht? Wenn das das Bild ist, das man von Calvinisten hat, wird einem Schleiermacher recht überraschend vorkommen – obwohl er einer der erfolgreichsten Prediger Berlins wurde. Er war sich bewußt, daß viele kultivierte Menschen Religion als engstirnige, sektiererische Angelegenheit ansahen, die weitgehend reaktionäre Moralvorschriften sowie unverständliche Dogmen ausgab und dabei die Angst vor einem rächenden Gott oder die Hoffnung auf einen illusorischen Himmel jedermann einflößte, der sich in seinen Netzen verfing.
In den Reden machte er sich daran, diesen Eindruck zu korrigieren, indem er zu den Wurzeln der Religion in der menschlichen Psyche zurückging. Er unterstellte, daß Religion nicht wirklich von Glaubensbekenntnissen und spekulativen Überzeugungen handele, die großenteils von ausgedörrten alten Männern ersonnen worden wären, die nichts Besseres zu tun hatten. Und in der Religion geht es nach ihm auch nicht um moralische Regeln, die von einem mediterranen Berg herabgereicht wurden, die alte Stammestabus fortschreiben, deren Grund längst vergessen ist, wenn es überhaupt je einen gegeben hat. Religion, so Schleiermacher, ist „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. Sie ist eine Angelegenheit von Intuition und Gefühl: „Das Wesen der Religion ist weder Denken noch Handeln, sondern Intuition und Gefühl“ (aus der Zweiten Rede).
Man muß zugeben, daß diese Idee etwas schwierig zu begreifen ist. Wie soll man das Unendliche oder das Ewige oder das „Ganze“ intuitiv erfassen? Wie fühlt es sich an, und woher weiß man, daß es existiert oder existiert hat? Aber so redet nur der analytische Philosoph, der gerne all das verachtet, was nicht präzise definiert und ausgedrückt werden kann. Schleiermacher will eine bestimmte Haltung begründen, einen Weg, die Lebenserfahrung ins Auge zu fassen. Und dies ist kein zu analysierender, mit Etiketten zu versehender und zu definierender Weg. Indem er um Worte ringt, sagt er, daß die Haltung, die er beschreiben will, die ist, „daß man alles individuell als Teil des Ganzen und alles Begrenzte als Darstellung des Unendlichen“ akzeptiert. Heutzutage mögen wir das eine „holistische Vision“ nennen, wenn man alle Dinge als Teile des Ganzen erkennt, das unaufhörlich in seinen Teilen aktiv ist, dabei aber auf unendlich viele unterschiedliche Arten gesehen wird. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, einen Teil dieser universellen Aktion zu begreifen, aber jeder mag auch empfindlich sein für manche Besonderheiten als Vehikel des Ewigen und Bilder der Unendlichkeit, für andere aber nicht. Es kann also eine Million unterschiedlicher Formen von Religion geben, oder auch 33 Millionen Götter, da „im Unendlichen alles Endliche ungestört neben dem anderen steht“, ohne Widerspruch.
Die Götter werden individuell sein, und doch werden sie zugleich gebrochene Bilder der einen unendlichen Totalität sein, die unsere Welt ist, die aber auch mehr als die Welt ist. Wie es eine der frühesten indischen heiligen Schriften sagt, der Rigveda, verfaßt Hunderte von Jahren vor der Ilias: „Die Wahrheit ist eines; die Weisen nennen sie mit vielen Namen.“ Die Götter haben Tausende oder Millionen von Gesichtern; aber dahinter liegt die grenzenlose Energie der gesamten Welt, ausgedrückt in unendlicher Vielfalt. Die Götter zusammen, in ihrer endlosen Vielfalt, bilden die aktive Kraft des Ganzen ab, die aktive Kraft des Seins selbst in seinen sich stets ändernden und immer besonderen Formen. Daher ächten die Anbeter Apollos nicht die Anhänger Athenes, und daher nehmen dieselben Kräfte und Götter in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Namen an – Zeus, Jupiter, Ares, Mars –, während sie zugleich auch ihre Besonderheit haben. Die Götter fließen ineinander, vereinen und vermehren sich, wachsen und sterben, so wie bestimmte Bilder die Vorstellungskraft beflügeln oder ihre Anziehung verlieren und schlicht und einfach archaisch und langweilig werden.
Aber war denn Schleiermacher nur ein wenig zu nostalgisch und romantisch in bezug auf die Götter, so wie dies auch Wordsworth und Blake auf ihre Weise waren? Die gemeinsame Vision ist die einer vollständig gütigen Pluralität von Göttern und ihrer Anbeter, die alle die Unendlichkeit auf ihre jeweilige Art erfassen und eine „freundlich einladende Toleranz“ gegenüber denen bekunden, die die Unendlichkeit anders begreifen. Ich denke, Schleiermachers Vision erfaßt etwas sehr Wichtiges im Zusammenhang mit religiösem Gespür, dem „Gespür für die Götter“. Und obgleich Wordsworth und Blake eine ganz andere Ausrichtung der Romantik repräsentieren, ist doch ihre Dichtung ein eindringlicher Ausdruck eben dieses Gespürs. Sie alle repräsentieren die Revolte gegen den cartesianischen Mechanismus, den Wunsch nach Rückkehr zu einer poetischeren ursprünglicheren Vision; nach der die Welt, wie sie von den Menschen erfahren wird, von Anwesenheiten spricht, von Präsenz und Energie, die uns herausfordern kann, die bewegen und inspirieren kann und eine Dimension des Seins ausdrückt, die nur durch eine besondere Art der menschlichen Empfindsamkeit erfaßt wird.
Wenn das stimmt, dann wird Homers Dichtung nicht eine Geschichte realer Menschen sein, die oben auf dem Olymp wohnen. Sondern es wird eine metaphorische Personifikation jener Kräfte und Energien sein, in denen und durch welche die religiöse Empfindungsfähigkeit das Göttliche, das Ganze, das Unendliche und Ewige wahrnimmt, das sich im Endlichen und Vergänglichen abbildet. Wenn man Homer auf diese Art liest, kann er eine größere Tiefe gewinnen und selbst zur Ermutigung werden, erneut das Gefühl für die Götter in einer Welt zu pflegen und kultivieren, aus der die Götter offenbar entflohen sind.
Doch wir können die alte griechische Religion nicht zu eng an die deutsche oder englische Romantik anpassen. Es gab Kriege unter den Göttern und ihren Anhängern. Zeus selbst verdrängte und bannte seinen Vater Kronos, der seinerseits seinen Vater Uranos entmannte. Die Götter, die zu den Griechen hielten, waren überkreuz mit denen, die Troja unterstützten. Und manche Historiker der klassischen Welt nehmen an, daß das gesamte olympische Pantheon wie auch die Priester und Seher eine frühere Form der matriarchalischen Verehrung der Göttin durch militärische Kraft ersetzten.
Aber Toleranz war nicht nur nicht immer so einladend, sondern Schleiermacher erwähnte auch nicht Menschenopfer, Tempelprostitution und orgiastische Fruchtbarkeitsriten als besonders produktive Arten, das Unendliche intuitiv zu erfassen. Natürlich konnte er immer behaupten, daß derartiges nie zur „wahren Religion“ gehört habe, so wie er auch behauptete, daß Metaphysik und Moral nicht dazu zählten. Das Problem ist, daß das, was er hinterließ, etwas ist, das nie existierte, außer in jener kurzen romantischen Periode der europäischen Geschichte, als die Französische und die Amerikanische Revolution für einen kurzen Augenblick eine neue Morgenröte der Menschlichkeit versprachen.
Die alte griechische Religion drehte sich eigentlich viel weniger um das „unendliche Ganze“ als dies für Schleiermachers Lehre gilt. Schließlich lebte er, nachdem die Menschen erstmals vollständig des unendlichen Ausmaßes des Universums gewahr wurden; nachdem die Vorstellungen der „Naturgesetze“ formuliert worden waren und nachdem Philosophen wie Kant und Spinoza den Begriff eines „Ganzen“ als erstrebenswerte Vorstellung für die Vernunft entwickelt hatten. Die Götter Homers aber, obwohl sie eine Art Familie sind, bilden keine übergreifende Einheit, so daß sie als Aspekte der einen und vereinten Totalität begriffen werden könnten. Sie sind zu sehr fragmentiert und zu wenig systematisiert. Doch es bleibt eben auch wahr, daß die Individualität der Götter eine relative Angelegenheit ist, und sie alle drücken aus, was jenseits ihrer phantasievoll ersonnenen Formen liegt.
Die Religion der Griechen enthielt zudem Elemente, die um einiges weniger wohlwollend waren als die, auf die Schleiermacher hinwies. Wenn er sagt: „Das Universum soll intuitiv erfaßt und auf alle Arten angebetet werden“, dann denkt er vermutlich nicht wirklich an das Kinderopfer für den Kriegsgott, damit man den Sieg im Kampf erringt. Es gibt dunkle und chaotische Kräfte unter den Göttern, und die menschlichen Beziehungen zu ihnen reichen von freimütig-utilitaristischen („ich gehorche dir, wenn du das und das für mich tust“) bis zu mystischen („Laß deine Weisheit in mir leben“).
Die Anbeter der Götter kümmern sich zudem sicherlich mehr um die kausalen Kräfte ihrer Götter, als Schleiermacher dies erlauben würde. Sie wollen sich wirklich von den Plagen befreien, eine gute Weizenernte einfahren und ihre Feinde im Krieg besiegen. Sie flehen die Götter an, ihnen bei der Gewährung ihrer menschlichen Wünsche zu helfen und ihre Menschenfurcht zu zerstreuen. Das mag unbeholfen, primitiv und auch ineffektiv sein. Düngemittel sind vielleicht ein besseres Mittel für gutes Korn auf den Feldern als ein Gebet zu Hera. Aber das Gebet zu den Göttern war im homerischen Zeitalter eben Teil der Religion. Man kann sich nur schwer vorstellen, daß diese Gläubigen sich nur und ausschließlich der müßigen Kontemplation hingeben wollten. Die Götter symbolisierten schließlich aktive Kräfte, und daher glaubte man von ihnen, daß sie von einiger Wirkung auf das Weltgeschehen wären. Natürlich wußte Schleiermacher um die Naturgesetze und wußte, daß die alten Götter vor langer Zeit schon in Pension geschickt worden waren. Für die alten Griechen aber konnten die Götter in alles Menschliche eingreifen, wenn sie es nur wollten. Welche kausalen Ursachen auch immer die Symbole der Götter bedeuteten, so konnten sie doch durch die Rituale der Menschen und ihr Flehen beeinflußt werden, und daher bezogen sie auch ihre Wichtigkeit. So scheint Schleiermachers Konstruktion der Religion – sie würde in ihrer reinen Form nur im Fühlen existieren – nicht vollständig die Komplexität der menschlichen Psyche wiederzugeben, die Art, wie die Menschen meinen, sie könnten eine kausal wirksame Beziehung zu den Göttern haben.
Auch die Art und Weise, wie Schleiermacher das religiöse Gefühl beschreibt, hat einen eindeutig aus dem späten 18. Jahrhundert stammenden Anstrich. Es ist eine berüchtigtes Stelle in der zweiten seiner Reden, in welcher Schleiermacher die religiöse Intuition mit dem Geschlechtsverkehr vergleicht – „wie eine bräutliche Umarmung“.
Ihr liegt dann unmittelbar an dem Busen der unendlichen Welt. Ihr seid in diesem Moment ihre Seele, denn ihr fühlt, wenn gleich nur durch einen ihrer Theile, doch alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie Euer eigenes; sie ist in diesem Augenblick Euer Leib; denn ihr durchdringt alle Muskeln und Glieder wie Eure eignen, und Euer Sinnen und Ahnen setzt ihre innersten Nerven in Bewegung.
(Friedrich Schleiermacher, Zweite Rede)
Die Idee der Vereinigung mit dem Unendlichen in einer ekstatischen Umarmung wird heute wohl kaum, obgleich sie Dichtern wie Goethe und Wordsworth gefallen haben mag, einigermaßen häufig innerhalb der presbyterianischen Kirche erwähnt. Und sehr selten ist auch der calvinistische Prediger, der die Kanzel besteigt und erklärt: „Legt all eure Lehren und Überzeugungen beiseite. Sie sind eitle Spekulationen von toten Philosophen und Geistlichen. Legt auch all eure moralischen Regeln und Prinzipien beiseite. Sie sind das Produkt von Jahrhunderten der Sozialisation. Konzentriert euch nur auf das einzig wahre Religiöse: Ich beschwöre euch, daß ihr euch am Busen der unendlichen Welt niederlegt.“
Das scheint in der Tat nicht das zu sein, was Agamemnon und Achill, diese blutdürstigen und heroischen Krieger, wirklich erstreben und noch weniger das, was Presbyterianer in der Kirche finden wollen. Trotzdem ist die Vorstellung nicht absurd, daß Krieger des Altertums und auch protestantische Geschäftsleute in genau der Vorstellung einen Sinn sähen, daß sie voller Macht und Stärke wären, voller Mut, Talent, Energie, die allesamt außerhalb ihres Bewußtseins entstehen. Und sie könnten auch das als sinnvoll ansehen, wenn sie ihr eigenes Leben als Teil dessen erkennen, was Schleiermacher ein „Werk des Weltgeistes, der zur Unendlichkeit fortschreitet“ nennt oder was vielleicht eher griechisches Denken wäre: eine Teilhabe am Spiel der Götter, was den scheinbar zufälligen Launen von Glück und Pech einen tieferen Sinn und dauerhafteren Wert verleiht.
In der Ilias wird das Leben der Menschen in die Zwecke der Götter eingebaut – die ihrerseits zweifelsohne oft selbst willkürlich und pervers sind, zumindest aber unsterblich und auf Ziele aus, die zumindest einige der Götter wertschätzen. Sie sind von den Kräften und Werten der Götter durchdrungen, der Stärke Apollos, der Weisheit Athenes, der Wildheit von Ares. Ihre kurzen Leben sind geheiligt, von Unsterblichkeit angehaucht, der Vision einer größeren Absicht unterstellt; ihre Leben sind zudem gestärkt, um Schmerz und Enttäuschung ins Antlitz zu sehen, weil sie in Gesellschaft der Götter in der Welt wandeln.
Wenn all das eingeschlossen ist, was Schleiermacher mit Gefühl meinte, mit dem „Sinn und Geschmack für das Unendliche“, was meiner Meinung nach zutrifft, dann ist der Sinn für das Religiöse nicht nur eine eher genießerische müßige Kontemplation. Es ist vielmehr ein Versuch, in einer kaum bekannten und verstandenen Welt und zudem in Gesellschaft von Lebensläufen, die kurz sind, flüchtig und eigentlich mit Sicherheit durch Gewalt enden, an dem glücklichen Leben der Götter teilzunehmen. Eine kurze Zeitspanne greifen die Menschen nach der Unsterblichkeit und fühlen zuweilen deren Macht. Sie werden nicht wirklich ewig, aber sie sehen den heiligen Berg Olymp von der Ferne. Sie sehen die Götter auf- und absteigen, um das Leben der Menschen kurzzeitig mit dem unendlichen Leben in Berührung zu bringen. Eine Weile, soweit das endlichen Wesen überhaupt möglich ist, sind diese Menschen in der Lage, alle zeitlichen Dinge unter dem Aspekt der Ewigkeit zu sehen und die „Ewigkeit in einer Stunde“ festzuhalten.
Es ist Schleiermachers Stärke, daß er – naturgemäß in Begriffen der deutschen Romantik seiner Zeit – die Aufmerksamkeit auf eine spezielle Art der Erkenntnis oder Intuition gelenkt hat, die erst den Anlaß gibt, von Gott zu sprechen. Er lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß endliche Dinge von etwas erzählen können, das jenseits von ihnen liegt; von einer transzendenten Tiefe, die sie mit Bedeutung anfüllt, die über ihre vergängliche Individualität hinausgeht und die Verstand und Herz in eine gefühlte Einheit bringen können mit eben dieser Quelle von Bedeutung und Macht. Die Romantiker erfassen etwas Wichtiges an den Göttern. Es ist das Element des Schreckens und der Bedrohung, das zugleich Teil der Antwort der Menschen auf die Götter ist – oder Teil dieser Art Wahrnehmung der Kräfte und Energien der erfahrenen Realität, die ja erst die Bilder von den Göttern entstehen läßt.