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Rudolf Otto: das Gefühl für das Numinose
ОглавлениеRudolf Otto (1869–1937) lebte in finstereren Zeiten als Schleiermacher. Der berauschende Optimismus, der der Französischen und Amerikanischen Revolution folgte und der Europa zur kulturellen Vorherrschaft in der Welt brachte, kollabierte während Ottos Lebenszeit im Gemetzel des Ersten Weltkrieges. Große Kunst, so zeigte sich, war durchaus kompatibel mit moralischer Beschränktheit, und der sinnlose Tod von achthunderttausend französischen und deutschen Soldaten vor Verdun wurde untermalt von der Musik eines Richard Wagner und Richard Strauss. Unterhalb der aufgeklärten Appelle an die Vernunft warteten tiefere und verstörende Leidenschaften darauf, entfesselt zu werden, im Schlamm der Schützengräben und Heulen der Granaten und dem Schreien der Männer.
Man kann Otto nicht dafür verantwortlich machen. Aber als er über seine Zeit nachdachte, war er sich weit mehr als Schleiermacher der nicht-rationalen und oft destruktiven Kräfte bewußt, die im Menschen schlummern. Ottos großes Werk, Das Heilige, veröffentlicht 1917 und während des Weltkriegs vervollständigt, lokalisiert das Herz der Religion im Nicht-Rationalen. Wie Schleiermacher suchte auch Otto – und er meinte, er hätte es entdeckt – nach dem Wesen des religiösen Gefühls. Merkwürdigerweise fand er aber ein anderes Gefühl als Schleiermacher. Um sein Gefühl beim Namen zu nennen, übernahm er (und dachte zunächst, er hätte es erfunden) das Wort „numinos“; dabei gab er ihm die besondere Bedeutung als Objekt des speziellen und unverkennbaren nicht-rationalen Elements des Gefühls oder der Intuition in der Religion.
Während die Romantiker das religiöse Gefühl im Sinne einer grundsätzlich wohlwollenden Unendlichkeit erkannten, beschreibt Otto das Numinose in Begriffen des „Unheimlichen“, des „Seltsamen“ und dessen, was in uns „Schrecken voll innerem Grauen“ erzeugt. Er schildert die Geburt der Götter in der Entstehung dieses Gefühls in der Prähistorie. Den Sinn für das Numinose fasst er als den Sinn für eine Realität als mysterium tremendum et fascinans (derartige Ideen hören sich auf Latein stets bedeutender an).
Das Gefühl ist eines des „Versinkens“ in das „eigene Nichts“ angesichts einer „schlechthinnigen Überlegenheit“. Es enthält ein Element des Mysteriösen, weil es rational unverständlich, außerordentlich und jenseits aller Begriffe liegt. Naturgemäß kann man, da es ja jenseits aller Begriffe liegt, nicht viel darüber sagen. Aber es ist das Gefühl, mit etwas „ganz Anderem“ konfrontiert zu sein, das außerhalb jeder normalen Erfahrung liegt, vollständig anders und fremd, dem Denken nicht zu vergleichen. Es ist kein Puzzle, das wir eines Tages vielleicht verstehen werden. Es ist ein Mysterium; etwas, das der Geist eben nicht erfassen kann. Und es begegnet uns in einer besonderen Erfahrung – man möchte sagen: Es wird aufgegriffen, aber nicht begriffen und ist auch nicht zu begreifen. Otto fordert uns schlicht dazu auf, über eine derartige Erfahrung innerhalb unseres eigenen Lebens nachzudenken, und wenn wir das nicht können, dann, so schreibt er, brauchen wir sein Buch auch nicht weiterzulesen.
Das mag als gute Absicht erscheinen, dafür zu sorgen, daß das Buch tatsächlich ungelesen bleibt. Tatsache aber ist, daß es sehr bald zu einem der Klassiker religiöser Schriften wurde – eines von einer Handvoll, die man gelesen haben sollte, wenn man den gedankenvollen Diskurs über das merkwürdige Phänomen des religiösen Glaubens verstehen will. Zumindest ist es weit von dem Denken entfernt, daß die Begegnung mit den Göttern wie die mit ein paar hübschen jungen Männern oder Frauen ist, denen man auf der Straße begegnet. Obwohl Otto annimmt, die meisten Menschen hätten eine Ahnung von solchen Erfahrungen, meint er doch, daß diese Erfahrung im vollen Umfang nur auf sehr wenige Menschen beschränkt sei, auf „Wahrsager“ oder Seher, deren Leben durch die Begegnung mit dem höchsten Mysterium verändert worden sei.
Wie aber wurde deren Leben verändert? Ich nehme an, es ist wie das plötzliche Gespür, daß das ganze Leben bis zu diesem Punkt wie ein Traum gewesen ist; etwas, das zwischen Realität und Nicht-Realität schwebte, ohne jene Art solider Realität, von der man meinte, sie sei doch vorhanden gewesen. Alles, was uns einst so wichtig schien – Karriere, Wertschätzung durch andere, sogar die Liebe der Familie –, wird geringer und unbedeutend. Platon sagte das recht elegant in seinem Dialog Der Staat, auf den wir später zurückkommen werden. Sind wir nur einen Moment aus dem Käfig unserer Illusionen entkommen, können wir nie mehr in unser früheres Leben zurückkehren. Niemals werden wir in der Lage sein zu sagen, was wir gesehen haben, aber wir tragen gleichwohl die unerschütterliche Überzeugung in uns, daß die Dinge nicht die sind, die sie scheinen und daß unser rationales kleines Leben an der Grenze zum unendlichen Mysterium gelebt wird.
Das aber reicht noch nicht für das religiöse Gespür des Numinosen. Es mag zumeist dazu führen, daß wir permanent verblüfft sind, aber nicht viel mehr. Es soll aber noch weiteres folgen. Die numinose Erfahrung ist nicht nur ein mysterium, sondern auch tremendum. Sie enthält ein Element des besonders Schrecklichen, des „Schreckens voll innerem Grauen“. Das hört sich eher nach der Erfahrung an, die man macht, wenn man einen Horrorfilm anschaut; oder wie man sich fühlt, wenn das nicht liebenswerte Baby in Alien aus einem menschlichen Körper herausplatzt. Das läßt einem die Haare zu Berge stehen.
Wir sehen bloß das junge Paar, das sich dem einsamen Haus auf dem Hügel nähert und ein seltsam schlurfendes Geräusch hört, sich ansieht und sagt: „Irgendwas stimmt hier nicht, Liebling.“ Wir erwarten nicht, daß einer der beiden sagt: „Ich glaube, ich hab’ eine religiöse Erfahrung.“ Es ist ja kein Zufall, daß solche Geschichten zumeist als Geistergeschichten bezeichnet werden, die man gern anläßlich von Halloween erzählt, wenn die Toten auf der Erde wandeln; und es ist auch kein Zufall, daß solche Geschichten oft die Rückkehr von Toten einschließen oder von Dämonen aus der Hölle.
Wir nennen sie Dämonen, aber auf Griechisch bezeichnet daimon einen minderen Gott, einen dienstbaren Geist oder Genius. Für die Griechen waren alle Götter fähig, schreckliche Mächte und böswillige oder gefährliche Aspekte an den Tag zu legen. So bringt Apollo mit seiner dämonischen Seite Plagen über die griechische Armee, obgleich seine positive Seite die lichtbringenden Kräfte der Sonne verkörpert. Zeus ist der große Vater aller Götter, aber im siebten Buch der Ilias wird erzählt, daß, als er Unheil plante, „drohend mit Donnergetön“, die griechischen Soldaten „bleiches Entsetzen“ erfaßte.
Es gibt aber nicht nur das Gespür für den Schrecken. Der Schrecken ist mit dem Gefühl der überwältigenden Macht und Energie verbunden. Die Götter sind nicht bloße Geister. Sie sind enorme Energien, die nicht so sehr böswillig als vielmehr gleichgültig gegenüber dem Wohlergehen oder der Moral der Menschen sind. Sie sind die kosmischen Energien; besser noch: Energien, die ihre Natur im und durch den Kosmos ausdrücken. Sie sind wohlwollende Energien in bezug auf neues Leben und berückende Schönheit, aber eben auch furchterregende Energien von Tod und Zeit.
Alle Götter haben diesen Doppelaspekt, und nirgendwo wird das innerhalb der religiösen Literatur deutlicher als in der großen Offenbarung im elften Gesang der indischen klassischen Bhagavadgita, dem „Sang des Erhabenen“, der um 300 vor Christus entstanden sein mag. Krishna, der in diesem Text der höchste Gott ist und als Wagenlenker des Krieges Arjuna auftritt, enthüllt diesem Arjuna seine wahre Gestalt. Er verleiht ihm das „mystische Auge“, das allein die Form, die Gestalt erkennen kann. Was Arjuna nun sieht, ist die brennende, funkelnde und allumfassende, unendliche Einheit von einer Million Namen und Formen. Innerhalb der unbegrenzten Unendlichkeit sind zahllose aufgerissene Münder mit vielen Zähnen, worin früher oder später alle Wesen verschlungen werden. „Sie nahen eilend sich zu deinem Rachen, den schrecklichen, klaffend mit dräuenden Zähnen; … wie Schmetterlinge in ein flammend Feuer“ (11, 27). Götter und Krieger, Bauern und Könige werden verschlungen, „es stecken manche schon zwischen den Zähnen, man kann sie sehen mit zermalmten Köpfen“: Arjuna sieht diese Vision; die Haare stehen ihm dabei voller Schrecken zu Berge (wie es Rudolf Otto erwartet). Und mit Zittern fragt er, wer das sei, den er allzu vertraut als seinen Wagenlenker angesprochen hat. Krishna, der Herr des Universum, antwortet ihm: „Ich bin die Zeit, die alle Welt vernichtet“ (11, 32); schon vorher: „Ich bin der Tod, der alles raubt“ (10, 34) – die Worte, die der amerikanische Physiker Robert Oppenheimer von sich gab, nachdem die erste Atombombe über der Wüste von Neu-Mexiko am 16. Juli 1945 explodiert war.
Tod und Zeit zerstören alles, und die ursprüngliche religiöse Vision schreckt nicht vor dem Gedanken zurück, daß die gleichen Götter, die erschaffen, auch zerstören. Für die Griechen zahlt es sich nicht aus, mit den Göttern allzu vertraut zu sein; es ist vielmehr weise, angesichts ihrer zerstörerischen Fähigkeiten Schrecken zu empfinden. Es ist daher auch weise, ihnen mit großem Respekt zu begegnen, und hundert Ochsen sind nur ein kleiner Preis, den man für Apollos Freundschaft entrichtet. Für alle Menschen ist das Vorkommen von Krankheit, Katastrophe und Tod etwas, dem man ins Antlitz zu blicken hat. Die Griechen hatten nicht unrecht, sich diese Vorkommnisse als dem Unwillen der Götter entsprungen zu denken, die untereinander im Streit lagen; wer aber unter die Autorität eines höheren Gottes käme, dessen Absichten mochten am Ende den Sieg davontragen. Respekt und Furcht gehören zur richtigen Einstellung den Göttern gegenüber.
Es scheint also, daß das Gespür für das Numinose dem Gefühl der steten Verwunderung noch den lähmenden Schrecken hinzufügt. Für Rudolf Otto aber ist auch diese Rechnung noch nicht vollständig. Hinzutreten muß noch das Gespür für das fascinans, eine berauschende Verzückung, die den Verstand auf eine veränderte, höhere Bewußtseinsebene hebt, angesichts deren die normale Erfahrung zur relativen Bedeutungslosigkeit versinkt. Mit anderen Worten ist der vollständige Sinn für das Heilige ein Sinn für eine Realität, die vollständig jenseits allen rationalen Verständnisses und aller Beschreibbarkeit liegt, die einen mit Furcht und Schrecken erfüllt, doch zugleich Faszination und unwiderstehliches Verlangen hervorruft. Ist man verblüfft, fühlt man sich paralysiert und zugleich berauscht, dann hat man das Gespür für das Numinose, das Heilige.
Dies ist also ein viel präziseres Bild des religiösen Gefühls als das von Schleiermacher oder Wordsworth. Vielleicht findet man es auch zu präzise, und es mag extrem schwer sein, zu entscheiden, ob man exakt dieses Gefühl gehabt hat, womit man zugleich niemals ganz sicher ist, ob man nun religiös gewesen ist oder nicht. Ottos Anspruch, daß dies die einzige Quelle allen religiösen Gefühls sei, ist vermutlich viel zu kühn. Religion hat noch andere Gesichter. Es gibt, wie William James es in seinem Klassiker The Varieties of Religious Experience sagt, viele Arten religiöser Erfahrung und viele Wege, den Göttern zu begegnen. Rudolf Otto hat nicht den einzigen entscheidenden Kern der Religion gefunden. Aber er hat sehr effektiv einige der Gefühle beschrieben, die im Menschen das Gespür für das Heilige aufkommen lassen.
Vermutlich können wir das Gefühl wiedererkennen, das uns zuweilen glauben macht, wir seien in der Gegenwart von etwas Phantastischem, das man nicht in Worte fassen kann. Es gibt ja ein Wissen, das man nicht ausdrücken kann; ein Erkennen, das sich jedem begrifflichen Denken entzieht; es gibt ein Gespür für „Anwesenheit“, das unsere sämtlichen Bilder und Symbole nur schwach ausdrücken und angesichts dessen wir letztlich nur still und sprachlos sein können. Wir mögen auch die Scheu erkennen, die den Verstand angesichts der Unendlichkeit des Weltraums und der katastrophischen Gewalt von planetarischen Erdbeben und stellaren Supernovae erfüllt. Vielleicht fühlen wir unsere Hilflosigkeit angesichts von Hungersnot, Plagen und dem unvermeidlichen Tod, die durch unsere Welt toben. Und zuweilen spüren wir vielleicht die Trunkenheit, die von der Schönheit herrührt und kaum auszuhalten ist, so wie wir mit einem Mal und in einem wunderbaren Moment die Welt in all ihrer verwickelten Ordnung und unaufdringlichen Intensität wahrnehmen.
Solche Momente der „Divination“ eröffnen uns die Tiefen der Realität, die man sonst nicht sieht oder spürt. Es kann sein, daß wir, wenn wir wahrhaft dieses Gefühl der erstaunten Ruhe verspüren, der furchtsamen Scheu und der ekstatischen Verzückung, dem Gefühl nahekommen, das die Götter der Griechen ausgedrückt haben. Das Problem dabei ist nur, daß sogar bei Homer die Götter ihre Macht verlieren können, eine solche Sensibilität zu bewirken, und statt dessen bloß zu zänkischen und lästigen übermenschlichen Gestalten werden, die unterhalten oder ablenken, uns aber nie inspirieren oder umformen.
Wie inspirieren die Götter überhaupt? Auf zweierlei Art: indem sie unsere Sicht der Realität vertiefen, und indem sie unsere schöpferischen Kräfte vergrößern. Die Götter gewähren uns womöglich – oder rufen in uns hervor – die Wahrnehmung einer Unendlichkeit, die jenseits und doch in den Dingen und durch die Dinge hindurchwirkt. Und angesichts dessen werden wir sprachlos, und unser Leben zerbricht zur Nichtigkeit, und doch sehen wir in diesem Licht, daß und wie eine ewige Bedeutung die Welt verklärt. Die Götter mögen uns dabei ein wenig von ihrer eigenen Unsterblichkeit überlassen und transzendieren für eine kurze Weile die normalen Grenzen unseres weltlichen Menschseins.
Können Zeus und Hera, Athene und Ares, Thetis und Apollo das bewirken? Für ihre Anhänger ja. Die Haltungen gegenüber den Göttern sind so weit gefächert, wie die menschlichen Interessen und Fähigkeiten variieren. Für manche sind die Götter Kräfte, die durch Rituale und Opfer besänftigt oder beschwatzt werden können. Für andere sind sie Dämonen, die Krankheiten verursachen, oder sie sind Geister, die Glück bringen. Es gibt Anhänger und Talismane, die das Böse abhalten sollen; es gibt Anzeichen aus der Zukunft, die man in der Leber toter Ziegen lesen kann. Rituale der menschlichen Opfer und auch sexuelle Erniedrigung spiegeln die wahrgenommene Grausamkeit und Amoralität der chaotischen Naturkräfte und die Verzweiflung jener, die danach streben, sie zu besänftigen. Es wird aber auch immer solche geben, deren Gott einen Aspekt der Welt ausdrückt, der von ihrer eigenen Geschichte und Persönlichkeit widerhallt und über die symbolische Form hinaus auf das verborgene Mysterium des Numinosen hinweist.
Jenseits der Formen, der Gestalten der Götter liegt das Formlose, aus dem alle Formen entspringen. Die Phantasie des Menschen versucht, dies zu erhaschen und im Bilde festzuhalten. Aber diese Porträts tragen dabei allesamt den Stempel ihrer menschlichen Schöpfer, und Götzenverehrung liegt dann vor, wenn man die Form für die Realität nimmt. Doch diese vorgestellten Formen können, in ihrer wahren selbst-transzendierenden Bedeutung, der Zeit ermöglichen, in Ewigkeit überführt zu werden und unserer menschlichen Wahrnehmung dieser sublunaren Welt den Weg weisen, daß sie durch eine Vision des Persönlichen verwandelt wird, das gleichwohl in tausend Namen und Formen manifestiert wird, dabei sich immer der menschlichen Sucht nach präziser Definition und Beschreibung entzieht.
Das Gespür für die Götter ist die Schau des Persönlichen in den genannten tausend Formen. Die Götter, die Unsterblichen, drücken dieses Gespür für die Ewigkeit aus, die die Zeit berührt und von dem Schleiermacher schrieb; es ist das Gespür für das unendliche Mysterium, für die schreckliche Macht und das ekstatische Entzücken, welches Rudolf Otto als das Numinose beschrieb. Zu diesen Einsichten aber muß noch ein weiteres Element hinzutreten, das Element, welches die Verfasser der Lexikon-Definitionen verleitet – im guten oder schlechten Sinne –, die Götter als „übernatürliche Personen“ zu bezeichnen.
Wenn wir, anstatt nur einen Nebelmorgen am Meer zu erkennen, Thetis erblicken, wie sie früh am Morgen aus der wogenden See in den riesigen Himmel und zur Gegenwart Zeus’ aufsteigt, dem Sammler der Wolken, dann erkennen wir im morgendlichen Nebel auf dem Meer eine Enthüllung der unbegrenzten Unendlichkeit, des Mysteriums, der Kraft und Schönheit, aber wir erblicken dazu noch etwas mehr.