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Doktor Seltsam
ОглавлениеIch suche die Hasenheide Nr. 69, aber nicht aus Gründen, die diese Nummer nahelegt (ich meine jetzt in sexueller Hinsicht, falls jemand auf der Leitung stehen sollte, was mir ja ständig passiert), sondern um zu gucken, ob sich hinter dieser Adresse immer noch die Dicke-Pizzateig-Pizzeria von früher verbirgt.
Vor der Tür begrüßt mich Dr. Seltsam. Er hat einen schwarzen Frack an, dazugehörige schwarze Hosen, ein weißes Hemd und eine rote Fliege, die leicht Schlagseite hat. Er hat heute seine nach ihm selbst benannte Wochenshow, und ich bin sein »Hauptact«, wie ich von ihm erfahre.
Zum Glück habe ich mein Buch dabei, aus dem ich was vorlesen kann. Vorher aber erzählt Dr. Seltsam eine kleine Reminiszenz an den vor kurzem verstorbenen Franz Josef Degenhardt. Gut, dass Franz Josef Degenhardt die nicht mehr hören kann. Nach einem Konzert nämlich, als der große und noch sehr junge Fan Dr. Seltsam in Degenhardts Garderobe vorgedrungen war, fragte Degenhardt nicht ihn, seinen Fan, sondern einen »üblen Halunken« von der Plattenfirma: »Und? Wie bin ich gewesen?« Das war der erste große Knacks in der Beziehung zwischen Dr. Seltsam und Franz Josef Degenhardt.
Danach kommt ein sehr expressiv vorgetragenes und vertontes, aber sich nicht reimendes Gedicht von Brecht, das ich nicht verstehe, mich aber sehr beeindruckt. Und danach wiederum kommt der »Hauptact«, also ich. Dr. Seltsam sagt, ich würde schreiben wie Franz Hessel, dessen Sohn Stéphane Hessel ja auch ein Buch mit dem Titel »Empört Euch!« geschrieben habe, und das wäre ja auch mal wieder nötig gewesen.
Ich sage, dass sein Vergleich mit Franz Hessel einen Haken hätte, und zwar den, dass ich jetzt Franz Hessel lesen müsste. Aber das ist gar nicht nötig, denn Dr. Seltsam klärt mich in der restlichen Zeit bis zur Pause auf, wie Franz Hessel hier durch die Gegend flaniert sei, immer wachsamen Auges, und dabei solche Dinge wie ein Einhorn auf der Kirche am Südstern entdeckt habe, und wenn man ein Einhorn sähe, wäre man ein glücklicher Mensch.
Außerdem hätte es schräg gegenüber mal eine Ruine gegeben, in der sich Andreas Baader versteckt hätte, heute befände sich da leider eine Werbeagentur, und ein paar Häuser weiter hätte die Spionageorganisation Rote Kapelle ihr Hauptquartier gehabt, die nur durch einen dummen Zufall aufgeflogen sei, weil die Putzfrau nicht in die geheime Tätigkeit von Harnack und Co. eingeweiht gewesen sei. Ich weiß das alles nicht. Ich glaube, ich bin als Flaneur ein Versager.