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I. Einführung 1. Absicht der Untersuchung: Selbstaufklärung der Psychiatrie

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Seit Einstein und Heisenberg quälen sich die Naturwissenschaftler mit der Frage nach der Legitimität, nach der Berechtigung ihrer Tätigkeit angesichts der grenzenlosen Möglichkeiten, aber auch Gefahren der modernen Naturwissenschaft. Und es ist gut möglich, daß unser aller Leben mehr von der Ehrlichkeit und Stetigkeit dieses »Sich-Quälens« abhängt als von dem sonstigen Tun der Naturwissenschaftler. In diesem Zusammenhang definieren sie die »klassische« Naturwissenschaft als Einzelfall der modernen Naturwissenschaft, stellen Fragen nach der Rolle des Subjekts im naturwissenschaftlichen Kalkül, nach der ethischen Begründung der Machbarkeit des Machbaren, nach ihrer eigenen Geschichte, dem historischen Warum und Wozu ihres Handelns und nach den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingtheiten und Auswirkungen ihrer Arbeit. Kurz, nachdem die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts die Erkämpfung der Eigenständigkeit ihrer Wissenschaft durch Sprengung der Fesseln der Philosophie gefeiert hatten, bemühen sie sich im 20. Jahrhundert um die Wiederherstellung der handlungsorientierenden Bindungen des philosophischen Denkens. Sie quälen sich mit ihrer eigenen Selbstaufklärung.

Die Psychiater bzw. psychiatrisch Tätigen aller Berufe haben allen Anlaß, diesem Beispiel der exakten Naturwissenschaften zu folgen. Gegenüber der »klassischen Psychiatrie« können auch sie von schier grenzenlosen Möglichkeiten – z. B. der Psychotherapie, der Chemotherapie oder der soziotherapeutsch-gemeindepsychiatrischen Lokalisierung von Menschen – sprechen, aber auch von grenzenlosen Gefahren, wenn man nur an die Opfer der Gehirnoperationen seit den 30er Jahren oder der Euthanasieaktionen während der 40er Jahre denkt. Was die Atombombe von Hiroshima für die Physik ist, sind die Gaskammern von H adamar für die Psychiatrie.

Dennoch tun sich die Psychiater schwerer als die Physiker, obwohl es in beiden Fällen um dieselbe Frage geht, die nach der Grenze zwischen erlaubten und unerlaubten Beziehungen zwischen Menschen. Erst in der jüngsten Zeit nimmt die Bereitschaft der psychiatrisch Tätigen zu, sich angesichts der eigenen Geschichte der Aufgabe der Selbstaufklärung zu stellen. Diese Untersuchung möchte die Bereitschaft hierzu fördern, die Bereitschaft, das alltägliche Handeln mit dem Nachdenken über die Wahrheit dieses Handelns zu begleiten.

Die Untersuchung beschäftigt sich nur mit einer der oben angedeuteten lebensnotwendigen Fragen: der Frage nach der Entstehung der Psychiatrie als Institution und Wissenschaft. Angesichts der Tatsache, daß die europäischen Nationen auf einem bestimmten Stand ihrer gesellschaftlichen Entwicklung ein spezielles psychiatrisches Versorgungssystem und eine ebensolche Wissenschaft ausgebildet haben, ist die Frage berechtigt: Warum ist überhaupt Psychiatrie und nicht vielmehr keine Psychiatrie? Es ist dies eine Frage nach dem Grund der Psychiatrie, nach ihren Ursachen, Bedingungen und damit auch nach ihren Aufgaben und ihrem Zweck. Der Titel Bürger und Irre besagt, daß das Verhältnis zwischen den Irren und der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, deren auf die Irren professionell bezogene Stellvertreter die Psychiater sind, erörtert wird. Dabei muß jedoch gleich eingeschränkt werden, daß das Verhältnis zwischen Bürgern und Irren mehr in der Sicht der Bürger bzw. Psychiater und weniger in der Sicht der Irren dargestellt wird, da mir zum Zeitpunkt der Niederschrift der Studie für eine gleichgewichtige Beschreibung des Wechselverhältnisses zwischen Bürgern und Irren die erforderlichen Quellen und methodischen Voraussetzungen noch fehlten. Erst 1980 hat der Historiker Blasius den ersten schüchternen Versuch unternommen, die Geschichte der Psychiatrie aus der Perspektive der Irren, also der Betroffenen darzustellen. Hier wartet noch viel Arbeit. Sind im Selbstverständnis der Psychiater die Irren »Gegenstand« der Psychiatrie, so macht diese Untersuchung immerhin Irre und Psychiater-Bürger zugleich zu ihrem »Gegenstand« und sucht die sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen zu ermitteln, unter denen im Zusammenhang mit der politischen und industriell-kapitalistischen Revolution der bürgerlichen Gesellschaft auch jenes Verhältnis von Bürgern und Irren entstand, das die Institution und Wissenschaft Psychiatrie begründete. In diesem Rahmen lenkt die Untersuchung die Aufmerksamkeit vor allem auf drei Probleme, die ihr ein über den Fall der Psychiatrie hinausgehendes, allgemeines Interesse verleihen könnten. Erstens wird die Dialektik aller modernen Wissenschaft verfolgt, die Dialektik zwischen ihrem Anspruch auf Emanzipation des Menschen als Einlösung des Versprechens der Aufklärung einerseits und ihrer oft entgegengesetzten Wirkung der Rationalisierung, Integration und Kontrollierbarkeit des je bestehenden Gesellschaftssystems andererseits. Zweitens zwingt die Tatsache, daß die Bürger die Psychiatrie gerade zur Domestizierung der armen Irren eingesetzt haben, dazu, in diesem Vorgang auch ein Moment des Klassenkampfes und eine der ersten Lösungen der aufkommenden »sozialen Frage« zu sehen, so daß die Untersuchung nicht nur zur Selbstreflexion der Psychiatrie beiträgt, sondern zugleich über eine bisher vergessene Wurzel und Vorform der Soziologie berichtet. Drittens endlich steht zur Diskussion das Wechselverhältnis von Vernunft und Unvernunft – u. a. als Gesundheit und Krankheit –, in der äußeren Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie in der inneren Ökonomie ihrer Mitglieder.

Bürger und Irre

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