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2. Industrielle Revolution, Romantik, psychiatrisches Paradigma a) Sozioökonomische Konstellation

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Dieser Abschnitt betrifft den Zeitraum zwischen 1750 und 1785. In diese Zeit fallen die Geburt des Industriekapitalismus, der erste Gipfel der Romantik, ein erster Ansatz der Soziologie in der schottischen Moralphilosophie und die Entstehung der Psychiatrie – für England und damit für das ganze Europa. Wir können uns nicht unterstehen, dieser Gleichzeitigkeit in ihrer Breite gerecht zu werden, sehen aber auch nicht, daß dies von irgendeiner Disziplin aus bisher gültig geschehen ist. Vielmehr haben wir nur dafür den Nachweis zu liefern, daß in dieser Epoche etwas zustande gekommen ist, das man erstmals Psychiatrie zu nennen berechtigt ist, und daß dies nur in Zusammenhang mit den übrigen aufgeführten epochalen Bewegungen zu begreifen ist.

Schon vor der Jahrhundertmitte hatten sich in England einige für eine Industrialisierung entscheidende Vorbedingungen entwickelt. Einerseits hatte die Expansion des Handels – durch koloniale Eroberungen und Merkantilpolitik der Krone bzw. der Regierungen – zur Ansammlung bedeutender Kapitalien geführt. Andererseits hatten die frühzeitig einsetzende Ausdehnungstendenz des Landadels und die wissenschaftliche Rationalisierung der Landwirtschaft (Fruchtwechsel, Stallfütterung) sowohl die Größe und damit die Marktleistungsfähigkeit der agrarischen Betriebe erhöht, als auch große Teile der bisherigen Kleinbauern zur Abwanderung in die Städte gezwungen.40 Hinzu kam, daß um 1750 die Gewerbefreiheit weitgehend hergestellt war, was u. a. die Wirkung hatte, daß zunächst zahlreiche Gewerbetreibende zur Arbeitslosigkeit »befreit« wurden. Der unmittelbare Anstoß der folgenden Bewegung muß wohl auch in den Kriegen gegen Frankreich und seine Verbündeten zwischen 1744 und 1763, die nahezu in der gesamten kolonial erschlossenen Welt geführt wurden, gesehen werden. Der Frieden von Paris (1763) offenbarte Englands politische und koloniale Führungsrolle in der Welt.

Die damit verbundene Ausdehnung des äußeren wie des inneren Marktes für den Handel verlangte aber ein gleiches für die Produktion. Hierdurch wurde ein Widerspruch offenkundig. »Die alten Produktionsmethoden und Werkzeuge begannen jetzt zu einem Hindernis für den sich ausdehnenden Markt und die entsprechende Erweiterung der Produktion zu werden.«41 Diese Situation erst stellt die Konstellation für die industrielle Revolution dar. Hier haben drei Prozesse ineinanderzugreifen: 1. Die nun unzureichenden Werkzeuge der Manufakturbetriebe müssen durch Maschinen mit potenzierter Produktivität ersetzt werden. England wird in den 60er Jahren das Land der technischen Erfindungen; es sei nur an die Dampf-, Spinn- und Webmaschinen erinnert und an den technischen Fortschritt für den Bau des ersten ökonomisch bedeutenden Kanals. 2. Bau und Inbetriebnahme der neuen Maschinen und Transportmittel sind nur durch Anlage größerer – meist aus dem Handel stammender – Kapitalien, als »konstantem fixem Kapital«, möglich. Gerade dieses unterscheidet den Industriebetrieb von der Manufaktur, und erst ab der Zeit der ersten Massenanlage solchen konstanten fixen Kapitals kann man – bei gleichzeitig herrschender freier Konkurrenz – von der eigentlichen kapitalistisch-industriellen Revolution sprechen. Die Vorbereitungs- und Mobilisierungsperiode hierfür erstreckte sich in England auf die Periode zwischen den 50er und den beginnenden 80er Jahren. 3. Diese Umstellung auf eine neue, leistungsfähigere Produktionsform zerstörte zwar auf der einen Seite die Existenzgrundlage für viele unter den alten Bedingungen Beschäftigte, war mit Not und Verunsicherung verbunden. Auf der anderen Seite war sie aber angewiesen auf die Rekrutierung einer weit größeren Zahl von Arbeitern, als sie die bisherige Wirtschaftsform beschäftigen konnte. Sie führte zur Massenanlage nicht nur von konstantem Kapital, sondern auch von variablem Kapital, d. h. sie bedurfte der massenhaften Mobilisierung möglichst billiger und kalkulierbarer menschlicher Arbeitskraft und ihre Einbeziehung in die kapitalistisch organisierte Wirtschaft.42

Diese Prozesse – namentlich der letztere – waren von tiefgreifenden Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft und der bürgerlichen Öffentlichkeit begleitet. Gegenüber dem Führungsanspruch der aristokratischgroßbürgerlichen Klassen, der »guten Gesellschaft«, entwickelte sich das – wenn auch widersprüchliche – Selbstbewußtsein einer breiten mittel- und kleinbürgerlichen Schicht. Das zeigte sich in ökonomischer Hinsicht. Bei Verarmung eines Teils der Mittelschicht stieg ein anderer Teil – durch Expansion des Warenverkehrs und Industrialisierung, d. h. nicht nur als Kaufmann, sondern auch als Unternehmer, Ingenieur oder Kolonialbeamter – zu neuem Besitz und Ansehen auf, das wenig gemein hatte mit dem des Kaufmanns alten Stils oder des Landadels. Gleichzeitig bringt die »Revolution des Gefühls«, die romantische Stilisierung des Privaten und Innerlichen, der Mittelschicht das Selbstbewußtsein des endgültigen Sieges über aristokratischen Rationalismus und Skeptizismus, und das in dem Augenblick, da ihr die soziale »Nachtseite« sichtbar zu werden beginnt. Dies ist im Zusammenhang mit der Hysterie noch aufzugreifen.

Zugleich findet durch diese Vorgänge eine Dissoziation der bürgerlichen Öffentlichkeit statt. Wo diese sich nicht mehr defensiv gegen den äußeren Zwang absolutistischer Autoritäten zu konstituieren hat, sondern nach ihrem Sieg sich als »Gesellschaft« gleichsam mit sich selbst auseinandersetzt, erweist sich die Fiktivität der Lockeschen Identität des gesellschaftlichen Individuums als Eigentümer und Mensch. Politische und literarische Öffentlichkeit treten auseinander. Es kommt zum Begriff des Eigentums als Aneignungsrecht des für den eigenen Bedarf arbeitenden Kleineigentümers das Recht auf Eigentumswahrung hinzu, das Recht auf systematische Verwertung von Großeigentum an Wirtschaftsgütern.43 Es erfolgt der Schritt zur »Politischen Ökonomie« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die die von Locke immer noch naturrechtlich formulierten Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates »zu Naturgesetzen der Gesellschaft selbst erklärt«.44 Adam Smith tritt seine Professur in Glasgow 1751 an. Dieser Bewegung immanent ist der Widerspruch zwischen ökonomischem und politischem Liberalismus. Zugleich entwickelt sich aus der literarischen Öffentlichkeit die Bewegung auf das Unmittelbare des »rein Menschlichen«. Sie entfaltet sich literarisch in der Romantik, politisch im Anspruch auf die Menschenrechte, und die Naturwissenschaften gewinnen getrennt und doch parallel zu ihrer wachsenden Objektivierung und Neutralisierung eine humanitäre, philanthropische Dimension; dies bezeichnet funktionell den Ort, an dem innerhalb der Medizin die Psychiatrie entsteht. Allen drei Entfaltungsrichtungen wohnt die Gefahr inne, den Menschen als abstrakt Subjektives – unter Kurzschließung seiner gesellschaftlichen und ökonomischen Existenz – auf einen abstrakt objektiv verstandenen Staat zu beziehen. Hier stellt die Moralphilosophie einen Vermittlungsversuch dar, indem sie kritisch die Nützlichkeit des bürgerlichen Wirtschaftens und der staatlichen Autorität in Einklang zu bringen trachtet – im Dienst einer »natural history of civil society«, nach der die Menschengattung von Natur aus dazu disponiert ist, ihre Lebensumstände zu verbessern.45

Konstitutiv für all diese Vorgänge ist indessen ein bisher nur peripher erwähnter Umstand, der wohl am meisten dazu beitrug, daß diese in radikaler Weise die Gesellschaftsstruktur veränderten, und der sie erst als einheitliche Bewegung verständlich macht. Die vom Standpunkt des Absolutismus und der bisherigen sozialen Erscheinungsformen des Naturrechts vernünftige Ausgrenzung der Unvernunft brach zusammen. In doppelter Expansion drang die Unvernunft – im Kern: die Armen und die Irren – in die bürgerliche Gesellschaft ein, und dehnte umgekehrt die Gesellschaft ihren zugleich befreienden und integrierenden Anspruch auf die Unvernunft aus, ohne daß dieser ambivalenten Dynamik widerspruchsfreie Formen zu Gebote standen. Das soziale Sichtbarwerden der Unvernunft vollzog sich in den einzelnen Dimensionen verschieden, überall jedoch mit buchstäblich »gemischten Gefühlen«. In der Wirtschaft stand der Abstiegsangst ruinierter Bauern und Kleinbürger der ständig wachsende Bedarf der Industrie an menschlicher Arbeitskraft gegenüber, und zwar – unter den Bedingungen der beginnenden Kapitalisierung – ein Bedarf an Menschen, gerade insofern sie arm, d. h. bedürftig und frei, d. h. ausgegrenzt aus tradierten sozialen Bindungen, also absolut verfügbar waren. Dem politischen Denken erschien diese Grenzaufhebung unter dem doppelten Aspekt der Ausdehnung des Rechts auf Freiheit auf alle Menschen und des Anspruchs ebenso umfassender Integration und der Verhinderung politischen Aufruhrs. Die Romantik erlebte sie – bedrohlich und faszinierend – als die Macht des Irrationalen. Nicht anders wurde sie von den Kirchen erfahren: zugleich als Bedrohung ihrer Zuständigkeit für die bürgerliche Moral und als Aufruf zu erweiterter caritativer und seelsorgerischer Tätigkeit. Besonders die Medizin wurde hierdurch einer Verflechtung dieser verschiedenen und gegensätzlichen ökonomischen Bedürfnisse, politischen Ansprüche, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Objektivierungen und humanitären Versprechen ausgesetzt, von der sie wohl durch ideologische Verdeckung, aber nie mehr faktisch loskam. Sie erlangte gesellschaftliche Autorität als Wissenschaft, auch unabhängig von dem von ihr jeweils erreichten Stand des Wissens und der Technik. Das gilt von der Medizin im allgemeinen, z. B. im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Seuchenbekämpfung, die Verlängerung der Lebenserwartung, die allgemeine Hygiene (Ernährung, Kleidung, Wohnung) und die Intensivierung der Arbeitsleistung. Aber ebenso bedeutsam war die Arbeitsteilung, die die Medizin vornahm, indem sie die Konstituierung einer eigenständigen Psychiatrie betrieb. Hierdurch erst wurde es möglich, zu einer Differenzierung und Entmythologisierung der klassischen Unvernunft zu kommen, d. h. dem »harten Kern« der Unvernunft, dem Irresein als Krankheit eine rationale Institution zuzuweisen, um der großen Mehrheit der Unvernünftigen – den Armen – viel von der in ihr gefürchteten Gefährlichkeit zu nehmen und sie umso reibungsloser in die neue Vernünftigkeit, die der Ökonomie, eingliedern zu können. Denn umgekehrt war es so, daß nicht so sehr die philosophische Deduktion der Unvernunft, nicht ihre bürgerliche Form, die Hysterie, zur Psychiatrie führten, auch nicht die Existenz der privaten Mad-Houses und die Sorge, die Defoe sich um dorthin exilierte bürgerliche Ehefrauen machte, sondern das gesellschaftliche Sichtbarwerden der Unvernunft, d. h. der Irren als »arme Irre«.

Das gesellschaftliche Interesse an den »armen Irren« hatte sich indessen schon in einigen Hinsichten angekündigt, freilich noch kaum im medizinischen Bereich. Zu diesen vorbereitenden Vorgängen gehört es, daß 1736 durch Act of Parliament alle Gesetze »against Conjurations, Inchantments, and Witchcrafts« aufgehoben wurden, die die Grundlage waren zur Verfolgung von Irren als Besessene, Hexen oder Zauberer.46 In Erweiterung des Gesetzes von 1714 wurde 1744 von Gemeinden nicht mehr nur verlangt, ihre »pauper lunatics« zur Sicherung der Öffentlichkeit an einen festen Ort zu bringen, sondern es sollte auch Sorge für ihre Heilung getragen werden: »curing such Person during such Restraint«.47 In der wissenschaftlichen Öffentlichkeit der Ärzte setzte die Diskussion über die »armen Irren« in nennenswertem Umfang später als in der politischen Öffentlichkeit ein.48

Neben den Gesetzgebern wurden die Kirchen frühzeitig aufmerksam. Namentlich soweit sie politisch machtlos waren, entwickelten sie eine zum Teil enthusiastische gesellschaftliche Aktivität. Das gilt vor allem für die methodistische Bewegung und ihren Führer John Wesley. Hier ist der Staat zwar die Verwirklichung der Legalität, aber nicht der Moralität, die vielmehr erst durch die Tätigkeit der Bürger oder durch die Kirchen in den Staat hineingetragen werden muß. Es gelang John Wesley zusammen mit seinen Mitarbeitern und Nachfolgern, die neuen Massen, welche die Industrielle Revolution hervorbrachte, dem Christentum nahezubringen. Mit Recht ist gesagt worden, daß Wesley mit seinen enthusiastischen und volkstümlichen Bekehrungsmethoden der Notleidenden »eine große politische und soziale Revolution in England verhindert hat«.49 Wesley begann 1738 mit seinen, den Bürger in ihrer doppelten Unmittelbarkeit erschreckenden Predigten für die »freien« Armen und in der »freien« Natur.50 Leiden und Schmerz waren die höchst realen Themen, wenn auch die Arbeiter entpolitisierend. Es waren das dieselben Gefühle, die das Bürgertum alsbald sublimiert in der Romantik zu leiden und zu genießen sich anschickte. Wesleys Interesse betraf aber nicht nur das geistliche, sondern auch das körperliche Heil. Schon 1747 verfaßte er in populärer Form Anweisungen für die Selbstbehandlung. In nichts entsprachen jedoch seine Anschauungen von der Spiritualisierung des Körperlichen zugleich mehr den medizinischen Vorstellungen seiner Zeit als im Phänomen der Elektrizität. Unmittelbar nach den ersten therapeutischen Experimenten Franklins mit einer »electric treatment machine« übernahm Wesley diese Methode – mehr als 10 Jahre, bevor sie Eingang in ein Krankenhaus fand. Nach und nach erwarb er mehrere Apparate, um die Behandlung der Armen kostenlos durchzuführen. 1760 brachte er seine Erfahrungen zu Papier unter dem bezeichnenden Titel The desideratum: or, electricity made plain and useful. By a lover of mankind, and of common sense. Es war für ihn vor allem das billigste »and rarely failing Remedy, in nervous Cases of every Kind«.51 Indem er zeigt, daß Hysterie bzw. Spleen nicht mehr das Vorrecht der guten Gesellschaft waren und sich ihre körperliche Qualität zunehmend in eine psychischmoralische umwandelte, wird deutlich, wie weitgehend es sich hier um gesellschaftliche Bedürfnisse handelt, denen sich die medizinische Wissenschaft zum Teil sekundär anpaßt. In seinem Tagebuch reflektiert Wesley 1759: »Why, then, do not all physicians consider how far bodily disorders are caused or influenced by the mind?«52

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