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b) William Battie

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Geistliche der verschiedenen Kirchen, die nach der Revolution so streitbar die Moralisierung der erweiterten Gesellschaft wahrnahmen, die die neue romantische Literatur von der Kanzel aus propagierten und sich zugleich gegenseitig bekämpften, waren – so scheint es – nicht selten auch die Väter der nun auftretenden ersten Psychiater. Dies gilt auch für William Battie (1704–1776), der bis in die jüngste Zeit in der Psychiatriegeschichte vergessen war. Es scheint uns, daß Battie der Psychiatrie das erste »Paradigma« gegeben hat, und zwar denkbar vollständig nach den Richtungen der Institution, der Praxis und der Theorie. Aus dem, was bis dahin mit dem zwiespältigen Begriff »Mad Business« bezeichnet worden war, wurde eine wissenschaftliche Disziplin der Medizin, aus den »armen Irren« wurden Patienten. Dies ist freilich antizipierend zu verstehen: Battie und sein Krankenhaus repräsentieren lediglich – jedoch für lange Zeit exemplarisch – den Beginn des langen Weges der Irren, als eines Teils der ausgegrenzten Vernunft, in die gesellschaftliche Integration. Daß der Stand der gesellschaftlichen Entwicklung ein solches Bedürfnis sichtbar machte, wurde beschrieben. Die Person Batties konnte dem entsprechen. Nach dem Tod seines Vaters studierte er weitgehend ohne eigene Mittel Medizin, hielt schon früh anatomische Vorlesungen, gab Ausgaben von Aristoteles und Isokrates heraus und war in seiner bei Cambridge eröffneten Praxis so erfolgreich, daß er 1738 nach London übersiedeln konnte. Er wurde Fellow of the Royal College of Physicians, hielt physiologische und klinisch-medizinische Vorlesungen, publizierte Bücher in diesen Spezialitäten, erhielt verschiedene ehrenvolle Aufträge und wurde endlich 1764 Präsident des College – der erste und offenbar bisher einzige Psychiater, dem diese Ehre zuteil wurde. Wenn es wichtig ist für die Konstituierung einer neuen Wissenschaft, daß der prospektive Gründer bereits in einem anderen Fach avanciert ist und daß ein Interesse einflußreicher Personen vorhanden sein muß, so verband sich beides in Battie: er war einer der berühmtesten Ärzte Londons und besaß hohes gesellschaftliches Ansehen. Hinzu kamen seine rastlose und vielseitige Aktivität – er baute ebenso gern Häuser wie er sich in Prozesse verwickelte – und eine Reformfreudigkeit, die Anstoß erregte; so gab er sich auf dem Lande gern als sein eigener Tagelöhner und kleidete sich entsprechend. Er führte ein, daß seine Kähne Themse-aufwärts nicht mehr von Menschen, sondern von Pferden gezogen wurden, was ihm den Zorn der Reichen wie der Armen eintrug. Battie ist somit mit jenen Unternehmern späterer Jahrzehnte zu vergleichen, die die sozialen Mißstände wahrnahmen und die Reformen einleiteten, ohne darüber den eigenen Gewinn zu vergessen. Als Battie starb, besaß er 1–200 000 Pfund, zumal er ab 1754 auch ein eigenes privates Mad-House betrieben hatte.

Seine psychiatrische Tätigkeit begann damit, daß er sich 1742 zum »governor« (also in den »Aufsichtsrat«) des Bedlam Hospital wählen ließ. Hier nahm er sich – neben seinen medizinischen und sonstigen Aktivitäten – acht Jahre Zeit, um die Irren zu beobachten und um die dortigen, schon sprichwörtlichen Mißstände kennenzulernen. Gerade in dieser Zeit wurde Bedlam von den meisten romantischen Schriftstellern besucht, Hogarth umgab mehrere Sujets mit Szenen aus dem Irrenhaus, und bei den Karikaturisten wurde es modern, die großen Politiker angekettet in Irrenzellen zu zeichnen. 1750 versammelten sich – wohl auf Batties Anregung – sechs angesehene Londoner Bürger (unter ihnen zwei Kaufleute, ein Drogist, ein Apotheker und ein Arzt), um einen Spendenaufruf zu erlassen für eine neue, bessere Institution – eigens für die Irren, namentlich die »armen Irren«. Schon diese Schrift, von Battie diktiert, muß als revolutionär angesehen werden: es ist nicht nur ständig von »eure« statt von »care« die Rede, und es wird nicht nur beschrieben, daß nirgends eine Institution für die wenig bemittelten Irren existiert, zumal die Behandlung lange und teuer sei, sondern es wird auch zum erstenmal schriftlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß dem Wartungspersonal für die Irren eine Spezialausbildung zuteil werden müsse; und endlich wagt man es, diese neue Einrichtung von vornherein als psychiatrische Ausbildungsstätte für Medizinstudenten zu planen: »For more Gentlemen of the faculty, making this Branch of Physick, their particular Care & Study, it may from thence reasonably be expected that the Cure of this dreadful Disease will hereafter be rendered more certain and expeditious, as well as less expensive.«53 Man versteht das Umwälzende dieser Forderung, wenn man erfährt, daß das Bedlam sich noch bis 1843 sträubte, Medizinstudenten zum klinischen Unterricht zuzulassen. Schon 1751 konnte diese neuartige Einrichtung, als St. Luke’s Hospital, eröffnet werden. Battie wurde von den Governors zum ersten Arzt bestellt und erhielt 1753 von ihnen gleichsam den ersten Lehrauftrag. Obwohl es auch hier noch Zwang (z. B. Handschellen) gab, kam es nie zu Mißbrauch und zu Skandalen, wie sie für das Bedlam charakteristisch waren. Ebensowenig wurde der Brauch der öffentlichen Irren-Schau fortgesetzt. Battie ersetzte diese Einrichtung, in der die Irren in ihrer Ausgegrenztheit der Moralisierung der Öffentlichkeit dienstbar gemacht waren, durch eine neue Institution, in der die Irren zwar in den Raum gesellschaftlicher Tätigkeit hineingezogen werden, aber – abgeschirmt von der bürgerlichen Öffentlichkeit – in einen neutralisierten Sonderbereich verwiesen werden, den der medizinischen Wissenschaft, der seinerseits – durch die Zulassung von Studenten – zu einer immanent-medizinischen Öffentlichkeit erhoben wird.

1758 erschien Batties theoretischer Ansatz A Treatise on Madness, der erste, der auf umfangreicher eigener Erfahrung basiert und entsprechend auf alle theoretische Fundierung der Tradition verzichtet, dabei den Gegenstand vollständig behandelt und zugleich von selten wieder erreichter Kürze ist (99 Seiten). Auch er sieht sich, in der Einleitung, in einem pragmatischen Zusammenhang: die Bürger von London dachten an die Zukunft und an die Irren aller Nationen, als sie die Gründung von St. Luke’s von der Planung an als Gelegenheit und Aufforderung dafür ansahen, daß mehr Mediziner sich mit den Problemen der Irren und ihrer Behandlung vertraut machen sollten. Für diese und andere Studenten habe er seine Gedanken niedergeschrieben. Damit war das erste psychiatrische Lehrbuch entstanden und der Kanon der formalen Bestandteile und Einrichtungen, die die Psychiatrie als Einheit von Forschung, Lehre und Praxis ausmachen, fast vollständig.

Auch der Inhalt dieses Buches ist modellhaft, schon weil Battie Vorstellungen in ein Konzept zusammenbringt, die erst nach mehr oder weniger langer Zeit als Alternativen auseinanderfallen und zum Teil noch heute dem Prinzipienstreit der Psychiatrie Nahrung geben. In einer Art von negativdialektischem Pragmatismus differenziert er zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen, zwischen »positive« und »negative science«, hält aber beides für die Erkenntnis der »practical Truth« für gleich wichtig.54 Die Erklärung der Empfindung (»natural sensation«) bestimmt zunächst anatomisch ihren Sitz in Nerven und Gehirn, in keiner anderen Materie. Er unterscheidet von den (äußeren und inneren) Objekten bzw. Reizen als entferntere Ursachen die essentielle und innere Ursache, die wir nicht kennen, die aber in der Konstitution der Nervensubstanz selbst liegen muß. Das letzte Glied, dessen Wirkung von den Objekten her wir kennen, ist der Druck (»pressure«) auf die Nervensubstanz. Denn die Objekte können schon deshalb nicht die nächste Ursache darstellen, weil die Irren auch ohne die entsprechenden Objekte wahrnehmen können. Von diesem Ernstnehmen der Wahrnehmungen der Irren kommt Battie zu seiner Definition des Irreseins, der »madness«: »Deluded imagination, which is not only an indisputable but an essential charakter of Madness [...] precisely discriminates this from all other animal disorders: or that man and that man alone is properly mad, who is fully and unalterably persuaded of the existence or of the appearance of any thing, which either does not exist or does not actually appear to him, and who behaves according to such erroneous persuasion. [...] Madness, or false perception, being then a praeternatural state or disorder of Sensation.«55 Hier liegt ein Unterschied zu Locke: »madness« ist nicht mehr nur eine reine Verstandesstörung, eine falsche Ideenassoziation, sondern es kann die Empfindung selbst gestört sein, »disordered«, »false«, »deluded«, – sowohl die äußere wie die innere, »sensation« wie »imagination«. Es wird der Irre nicht mehr – aufgeklärt-absolutistisch – nach dem Modell vernünftiger Irrtumswiderlegung bzw. Unvernunft ausgrenzenden Zwangs gesehen, sondern die Störung wird als tiefgreifender und als realer, als neue eigenständige Realität anerkannt – gerade in ihrer Fiktivität. Indem hier die Empfindung selbst als krank erfaßt wird, wird die Störung in einen weiteren Rahmen gespannt, in dem ihr »Inneres« auf der einen Seite in der konkreten Körperlichkeit der Nervenmaterie verankert wird, während ihm auf der anderen Seite gerade dadurch ein Raum des selbständig Psychischen garantiert wird. Diese Konstellation wird es nach einigen Jahrzehnten erlauben, Wahnvorstellung, Halluzination und Paranoia psychologisch zu analysieren, wie Leibbrand und Wettley richtig sehen56, während zunächst noch Lockes »Verstandesstörung« das Modell blieb. Die Formel der »deluded imagination« zeigt darüber hinaus, daß Battie zwar auch von der romantischen Bewegung ergriffen ist. Aber gegen die enthusiastische Benutzung der »imagination« zur Aufhebung aller Grenzen des Gesunden und Kranken, wie Samuel Johnson sie durchspielt57, gewährt dasselbe Konzept der »madness« auch Distanz, insofern es sie – anatomisch lokalisiert – zugleich der materiellen Natur und ihren Gesetzen reserviert.

Eine weitere Kritik Batties richtet sich dagegen, in den Erscheinungen des Lebens eine rationale Vorplanung heilsamer Zwecke, d. h. die Herrschaft einer waltenden Vernunft zu sehen. Willis habe zu diesem Zweck die metaphorischen Begriffe »nature« und »anima« eingeführt. Stahl habe sie fälschlich mythologisiert, »deifyed«. Sie sind aber lediglich nützliche Worte, um die Darstellung medizinischer Tatsachen abzukürzen, und der junge Anfänger muß aufpassen, sie nicht mit einer wirklichen »intellectual agency« der »animal oeconomy«, »vital action« zu verwechseln, was so absurd wäre wie die »Faculties of the Ancients«.58 D. h. die erste Konzeption der »madness« ist verbunden mit der Annahme einer autonomen, sich selbst regulierenden Ökonomie, ohne planende Vernunft »von oben«.

Von »madness«, als qualitativ Neuem, sind zwei quantitativ-mechanische Empfindungsstörungen zu trennen: Angst, als zu große Erregung aufgrund eines realen, aber zu lange wirkenden Reizes einerseits und ihr Umschlag in zu geringe Erregung aufgrund eines realen Anlasses, die »insensibility«, bis hin zur Idiotie, andererseits. Wenn für Battie zu viel Angst »madness« einleitet und »insensibility« (oder Idiotie) ihren Ausgang darstellt, dann wird hier »madness« erstmals als historischer Verlauf konzipiert, in dem die qualitativ-irrationale Störung des Irreseins als mittleres, sich verselbständigendes Stadium eines rational faßbaren, quantitativ-mechanischen Prozesses begriffen wird. Auch hieraus entwickeln sich später – je nach der Akzentuierung des quantitativen oder des qualitativen Aspekts – konkurrierende Alternativen.59

Ätiologisch unterscheidet Battie 1. »original madness«, die nur durch »internal disorder« der Nervensubstanz bedingt ist, und 2. »consequential madness«, bei der die Störung »ab extra« erfolgt und über einen mittelschweren Druck (»pressure«) laufen muß, um jenes mittlere Stadium des Irreseins produzieren zu können. Die möglichen mechanischen und psychisch-moralischen (entfernteren) Ursachen stellt Battie in einem auch für die Zukunft recht vollständigen Katalog zusammen: Unfallverletzungen, Schädel-Exostosen, Hirnhautveränderungen, Gehirnerschütterung, Sonnenstich, Muskelspasmen (Fieber, Epilepsie, Geburtsvorgänge, Leidenschaften wie Freude und Zorn), Gifte, auch Alkohol und Opium, Geschlechtskrankheiten, langdauernde Konzentration des Geistes auf ein Objekt, Bewegungsmangel, Faulheit und Völlerei.60 – Mit der »original madness« hat Battie nicht nur das heutige Problem der Endogenität vorweggenommen, sondern auch die in Halle von G. E. Stahl philosophisch deduzierte »idiopathische Verrücktheit« negativ-klinisch definiert: »madness« ist eher original, wenn weniger Ursachen erkennbar sind, das Nervensystem schon erblich geschädigt ist und die Krankheit spontan, »without any assignable cause«, kommt und geht, weshalb diese Form weniger durch medizinische Wissenschaft, wohl aber oft von selbst heilbar ist. Hingegen ist »consequential madness« durch Ausschalten der sie bedingenden Ursachen zu heilen – doch nur bei schnellem Eingriff, da sonst durch Habitualisierung der mechanischen oder moralischen kausalen Gegebenheiten die Störung – im Sinne einer zweiten Natur – so unangreifbar wird wie der Naturdeterminismus der »original madness«.61 Durch diese Betonung der Macht der Gewohnheitsbildung tritt ein wesentlicher Teil der Unvernunft des Irreseins – wie gleichzeitig auch die Hysterie – hinsichtlich möglicher ärztlicher Praxis in den Bereich moralphilosophischen Denkens.

Unter dessen Einfluß geschieht es auch, daß Battie die spätere, die Irren insgesamt vergesellschaftende Bewegung des »moral management« einführt. Sein lapidarer Satz »management did much more than medicine« besagt für den als Psychiatrie sich verselbständigenden Bereich der Medizin, daß man die herkömmliche Anwendung zahlloser Medikamente als unsinnig abtut und daß diese neue Spezialität sich auch in der Richtung einer »moral science« entwickelt. Für die durch das Medium des St. Luke’s oder ähnlicher Einrichtungen in die bürgerliche Gesellschaft eintretenden Irren bedeutet dieser Satz, daß an die Stelle ihrer bisherigen Ausgegrenztheit, ihrer naturwüchsigen »Freiheit« und ihres Ausgesetztseins privater Willkür und Ausbeutung, beliebiger Gewaltanwendung und allgemeiner Regel- und Rechtlosigkeit nun eine dem Anspruch nach zwar philanthrope, aber ebenso universelle moralische Ordnung aller Daseinsbereiche tritt, solange diese Krankheit »inexplicable by general science and the common law of Nature« ist. Diese Einschränkung zeigt, daß hier »moral management« nur ersatzweise für den eingestandenen Mangel der Naturbeherrschung eintritt, während spätere Zeiten diese »negative science«, die Widerständigkeit der Natur aus ihrem Erkenntniskalkül streichen und »moral management« selbst als spezifisches Mittel bestimmen werden. Die andere Differenz des »moral management« gegenüber der rationalistischen Ausgrenzung liegt darin, daß »madness« jetzt nicht mehr als Irrtum am Maßstab einer objektiven Wahrheit verstanden und durch Korrektur des Irrtums zu heilen ist. Vielmehr gilt »madness« nun als Abweichung (»deviation«) der Empfindungen bzw. des Verhaltens vom rechten Mittelmaß der »animal oeconomy«. Heilung ist Reduktion der Extreme auf diese Mitte der »practical truth«. Die Regeln dieses »management« sind etwa folgende: völlige Loslösung aus den sozialen Beziehungen (Wohnung, Familie), wobei selbst gegenüber den Reichen die wissenschaftliche Autorität sich über die soziale hinwegsetzt, indem solchen Patienten ihre gewohnten Bediensteten zu nehmen sind; Fernhalten der Nerven von allen reizenden Objekten; Ordnung der ungeregelten Strebungen; Zerstreuung der fixierten Imagination; Beschäftigung muß zwischen Lust und Unlust indifferent sein; im Rahmen dieses Regimes versucht man, die erkennbaren Ursachen zu eliminieren, wobei die Leidenschaften durch Narkotika oder durch Erregung der entgegengesetzten Passion (Furcht gegen Zorn, Sorge gegen Freude) aufs Mittelmaß zu temperieren sind; bei Völlerei und Müßiggang ist dem Arzt auch Zwang – z.B. schmerzerzeugende Medikamente – erlaubt, um die Patienten zu einem maßvollen und arbeitsamen Lebenswandel zu konditionieren.62

Sich erstmals »vulgarly« den Dingen zuwendend, versucht Battie nicht nur, die Irren und ihre Unvernunft dem Streit philosophischer Schulen zu entreißen63, er polemisiert vielmehr vor allem gegen seinen mächtigen Konkurrenten und Repräsentanten der traditionellen Auffassung des Irreseins, den Arzt des Bedlam, John Monro, und gegen die Privatbesitzer von Irren-Unterkünften. Deren Schweigen, der »defect of communication«, sei schuld am fehlenden Wissen über die Irren, das nur durch Diskussion der ärztlichen Erfahrungen entstehen könne. Batties buchstäbliche Veröffentlichung seiner Erfahrungen ist also ein frontaler Angriff gegen solche private und schweigende Ausbeutung sowohl der Irren selbst wie des Wissens über sie.64

Am Ende zieht Battie ein humanitär-emphatisches Fazit aus seinen Erfahrungen: »We have therefore, as Men, the pleasure to find that Madness is, contrary to the opinion of some unthinking persons, as manageable as many other distempers, which are equally dreadful and obstinate, und yet are not looked upon as incurable: and that such unhappy objects ought by no means to be abandoned, much less shut up in loathsome prisons as criminals or nuisances to the society.«65 Die Einführung des »management« als Methode macht für Battie die unheilvolle Unterscheidung zwischen Heilbaren und Unheilbaren, die das enge medizinische Denken fordert, gegenstandslos: der Psychiater ist für alle da. Vor allem den Anfänger warnt Battie jedoch vor therapeutischem Aktivismus, mit dem man eine Heilung auch verhindern kann, da man nie genau weiß, ob die Nerven mehr durch die »madness« oder durch die Therapie strapaziert werden: sie müssen ihre »natural firmness« »at liberty« wiederfinden. Im übrigen muß der Arzt das Unglück seiner Mit-Geschöpfe stets zu mildern bestrebt sein, auch wenn es nur für einen Augenblick ist.66

Monro hat diese Polemik sehr wohl verstanden, und nichts verdeutlicht die epochale Bedeutung Batties mehr als der Umstand, daß Monro umgehend auf diese Herausforderung antwortete, wodurch die 200jährige Tradition der Bedlam-Ärzte, in Sachen der Irren zu schweigen, beendet war. Noch im selben Jahr, 1758, erschienen Monros Remarks on Dr. Battie’s Treatise on Madness.67 Sie suchen als unsinnig nachzuweisen, daß »madness« überhaupt zum Gegenstand ärztlicher Diskussion gemacht wird: »Madness is a distemper of such a nature, that very little of real use can be said concerning it; the immediate causes will for ever disappoint our search, and the care of that disorder depends on management as much as medicine. My own inclination would never have led me to appear in print, but it was thought necessary for me, in my situation, to say something in answer to the undeserved censures which Dr. Battie has thrown upon my predecessors.«68

Doch zeigt sich hier die Dialektik der konservativen Haltung: unterwirft sie sich der sprachlichen Äußerung, steht sie – auch gegen den eigenen Willen – unter den Gesetzen des Räsonnements. Allein um Battie kritisieren zu können, muß er gegen dessen »deluded imagination« eine eigene Definition entwerfen: »madness« ist bei ihm »vitiated judgement« – gemäß der rationalistischen Tradition. Nun ist zwar zu sagen, daß Batties umfassendere Formel sich für die Psychopathologie des ganzen 19. Jahrhunderts als fruchtbarer erwiesen hat, doch ist ebenso zuzugeben, daß Monro hier der neuen Bewegung eine Warntafel an den Anfang ihres Weges stellt. Denn während die Bestimmung einer Störung des »judgment« einen restriktiven Gebrauch des Begriffs »madness« nahelegt, impliziert »madness« als Störung der »imagination« die Gefahr, die Grenzen dieses Begriffs aus den Augen zu verlieren und ihn auf alle von einer beliebigen Norm her abnormen Verhaltensweisen in einer Gesellschaft anzuwenden. So wenig Battie dieser Gefahr erlegen sein mag, so oft ist das bei vielen seiner Nachfolger geschehen, die der praktischen Vergesellschaftung des Irreseins eine theoretische folgen ließen, wodurch aus der Psychiatrie ein Instrument zur Bewahrung moralischer Ordnung und gesellschaftlicher Integration wurde. Immerhin kritisiert Monro schon bei Battie diese expansive Tendenz mit Recht: »It is certain that the imagination may be deluded where there is not the least suspicion of madness, as by drunkenness, or by hypochondriacal and hysterical affections.«69

Der Streit Battie-Monro bewegte die Öffentlichkeit. Einerseits wurden die beiden Bücher in The Critical Review ausführlich analysiert, und T. G. Smollett schrieb in seinem Roman Sir Launcelot Greaves ganze Passagen aus ihnen ab.70 Andererseits war das Interesse am Mad Business sowohl der medizinischen als auch der parlamentarischen Öffentlichkeit durch diese Diskussion so weit geweckt, daß das College of Physicians sich jetzt nicht mehr – wie noch 1754 – weigerte, an einem Gesetz über die Kontrolle der privaten Mad Houses mitzuarbeiten, und daß das Parlament 1763 eine Kommission zu diesem Zweck einsetzte, der Fox und William Pitt angehörten. Vor dieser Kommission wurden als Spezialisten Battie und Monro gehört. Beide waren sich darin einig, daß eine gesetzlich geregelte Kontrolle solcher Privatunternehmungen erforderlich sei. Zwei Gesetzentwürfe scheiterten 1772 und 1773 am Widerstand des Oberhauses. Erst 1774 kam das erste »Act of Parliament for regulating Madhouses« durch. Die widerstrebenden Interessen werden in dem beschränkten Wirkungskreis des Gesetzes deutlich: es beabsichtigte lediglich, Rechte und Wohlfahrt der bemittelten, selbstzahlenden Irren in den privaten Häusern zu sichern, nahm die »armen Irren« aus – sowohl diejenigen, die in den »workhouses«, »poor-houses« usw. untergebracht waren, als auch die armen Insassen privater Einrichtungen, die dort von ihren Gemeinden bezahlt wurden. Vom College of Physicians zu ernennende fünf »Commissionars« hatten von nun an Lizenzen an Personen zu erteilen, die mehr als einen Irren in einem Hause aufnehmen wollten, und hatten einmal im Jahr die Madhouses zu inspizieren – doch nur bei Tage. Alle Aufnahmen mußten von den Unternehmern gemeldet werden, in London binnen 3 Tagen, in der Provinz in 14 Tagen, ausgenommen die »armen Irren«; dasselbe galt für die Anordnung, daß Personen nur aufgrund eines durch einen Arzt ausgestellten Attestes aufgenommen werden durften. Die Ausführung dieses unvollkommenen Gesetzes war entsprechend lückenhaft; über manche Häuser erschien nie ein Bericht. Wenn auch die »poor lunatics« – wie die »labouring poors« – als existent wahrgenommen wurden, dauerte es doch noch ein halbes Jahrhundert, bis sie gesetzlich eines gewissen Schutzes für würdig erachtet wurden.71

Daß der theoretische Streit zwischen Battie und Monro sie nicht hinderte, in der Praxis zusammenzuarbeiten, zeigte sich nicht nur hier und nicht nur bei häufigen gegenseitigen Konsultationen, sondern auch vor Gericht. Als Monro von einem ehemaligen Patienten wegen illegaler Einsperrung angeklagt war und den Prozeß zu verlieren schien, wurde Battie als Sachverständiger zugezogen. Durch Befragen konnte er den Kläger dazu bringen, sein Wahnsystem, das im Kreuzverhör unerkannt geblieben war, vor dem Gerichtshof zu demonstrieren, so daß Monro freigesprochen wird. So konnte Battie nicht nur die Überlegenheit seines Ansatzes über Monros Konzept der reinen Verstandesstörung in praxi beweisen, sondern hiermit war auch ein in der englischen Rechtsgeschichte oft zitiertes Exempel für die Notwendigkeit eines psychiatrischen Sachverständigen gegeben. Im übrigen kann man wohl gerade dieses forensischen Aspekts wegen Batties »Paradigma« das Prädikat der Vollständigkeit geben.

So wie der Anstoß zur Psychiatrie nicht von der Theorie her erfolgte, sondern primär durch das gesellschaftliche Sichtbarwerden der »armen Irren« und durch Errichtung einer besonderen Institution für sie vermittelt wurde, so fand Battie auch nur wenig unmittelbare Nachfolge in seiner Theorie; vielmehr wurde zunächst seine Institutionsgründung nachgeahmt. Dies begann – nicht zufällig – im Industriezentrum Manchester. In dieser wirtschaftlich entwickelten Stadt mischten sich für die Absicht der Fürsorge für die »armen Irren« ökonomische und philanthropische Motive mit dem Bedürfnis nach einer umfassenden sozialen Ordnung, in der sowohl Reiche wie Arme – wiewohl in angemessener Distanz voneinander – ihren Ort haben sollten. In Manchester zeigte es sich besonders deutlich, daß der kapitalistisch wirtschaftende Liberalismus, der auf die »labouring poors« angewiesen ist, auch die »poor lunatics« – wenn auch gesondert – in die bürgerliche Ordnung aufnehmen mußte. In der ersten Planung einer »Publick Infirmary« von 1752 war es den Verantwortlichen in Manchester noch »extremely inconvenient to admit Poor Lunaticks as In-Patients« – wegen der Kosten für Bau und Personal.

1763 jedoch revidierte man den Plan und beschloß, auch die armen Irren – unter der Definition Batties – in das Programm einzubeziehen. Motive: 1. Fürsorge für die und Schutz der Gesellschaft vor den Irren, denn auch diese unglücklichsten aller Menschen, für die niemand sich zuständig fühlt, müßten einen Ort, Ordnung und Schutz haben; 2. wenn man die Armen als Arbeiter für die Fabriken wollte, mußte man die Irren von ihnen trennen können, da sonst die reibungslose Produktion gefährdet wäre; und 3. die Angehörigen müßten von den hohen Abgaben an die Besitzer privater Mad-Houses und von den Irren selbst befreit werden, um Arbeiter werden zu können. Nach diesen Prinzipien wurde »The Infirmary, Dispensary and Lunatic Asylum, Manchester« erbaut, 1766 eröffnet und schon 1773 erweitert. Manchester war eher noch vorbildlicher und in der Anwendung unmittelbaren Zwangs sparsamer als St. Luke’s – gerade in Zusammenhang mit der eindeutiger ökonomischen und ordnungsbedürftigen Motivation. Ähnlich folgte man Batties Beispiel in Newcastle upon Tyne 1767, York 1777 und Liverpool 1790.72

In dieser Situation mußten die theoretischen Beiträge, die jetzt noch von der allgemeinen Medizin kamen, soweit sie nicht über die der neuen Sicht der Irren angemessenen Beobachtungsmöglichkeiten, d. h. über spezielle Irrenhäuser, verfügten, vergleichsweise einen Rückschritt darstellen: Die »Irrenbehandlung« war bereits zu entwickelt und zu sehr mit sozioökonomischen Bedürfnissen verflochten, um noch mit vorwärtstreibendem Gewinn als Unterabteilung einer allgemeinen Krankheitslehre abgehandelt werden zu können. Dies gilt insbesondere für Schottland, das vermöge seiner Sonderrechte sich allen englischen Aufforderungen zur Schaffung einer Ordnung für die Irren – in der traditionellen wie in der jetzigen neuen Form – widersetzte, weshalb noch bis weit ins 19. Jahrhundert das Gros der schottischen Irren »frei« und damit die Möglichkeit ärztlicher Erfahrungssammlung beschränkt war. Gerade aber die schottische Schule wurde ab 1750 in der Medizin führend, neben Whytt vor allem sein Nachfolger William Cullen (1710 bis 1790), der den philosophischen Empirismus mit der Nerventheorie verband und so nahezu die gesamte Medizin auf eine Neuro-Physiologie und -Pathologie gründete, indem er die Konzepte der deutschen Physiologen Friedr. Hoffmann (Eigenaktivität der Muskelfasern) und A. v. Haller (Unterscheidung der Sensibilität der Nerven und der Irritabilität der Muskeln) so kombinierte, daß er zu einer »Identität von Nerven und Muskeln« kam (die Nerven haben nur »sentient and moving extremities«) und damit zu einer einheitlichen »Nervenkraft«, die identisch mit dem körperlichen Leben selbst ist, freilich in Wechselwirkung mit einer immateriellen, rationalen Seele. Auch alle Krankheiten, als widernatürliche Bewegungen der Nervenkraft, sind daher Nervenkrankheiten, »morbi neurosi«, »neuroses«. Die an der bürgerlichen Krankheit Hysterie von Willis, Sydenham und Whytt entwickelte Nerventheorie wird so zur pathogenetischen Basis der gesamten Krankheitslehre. Diese wird von Cullen als vollständiges, »natürliches« System ausgebaut, konstruiert nach der botanischen Methode der »Genera morborum« K. v. Linnés (1763). In diesem System aller (Nerven-)Krankheiten unterscheidet Cullen vier Klassen, von denen eine – neben den fieberhaften, den cachektischen und den lokalen Krankheiten – die Klasse der Neurosen im engeren Sinne, da fast ausschließlich das Nervensystem betreffend, ausmacht.73

Der Begriff der Nervenkraft bedeutet eine Dynamisierung der bisherigen mechanischen Nerventheorien, zumal Kriterium für gesundes und krankes Leben jetzt nicht mehr die unterschiedliche Menge an »Nervensaft« ist, sondern seine unterschiedliche Beweglichkeit, das Alternieren zwischen Tätigkeit, Erregung, Spasmus und Ruhe, Kollaps, Atonie des Gehirns, und zwar zeitlich und räumlich. Wenn man so will, wird der Mensch jetzt mehr als körperlich arbeitender konzipiert. In die Psychiatrie kommt durch Cullen vor allem das Denken in Polaritäten der Kräfte und Antriebe (Stärke und Schwäche) wie der Gefühle (Exaltation und Depression), andererseits die Vorstellung kranker als Steigerung gesunder Vorgänge.

Die Klasse der Neurosen bei Cullen umfaßt vier Ordnungen: neben den Comata (z. B. Schlaganfall), Adynamien (z. B. Hypochondrie) und Spasmi (z. B. Hysterie) betreffen die Vesaniae das eigentliche Irresein. Dieses ist traditionell als Verstandesstörung – »judgement impaired, without pyrexia or coma« – definiert. Dieser theoretischen Ableitung des Irreseins, d. h. einer nunmehr schon fast vergangenen gesellschaftlichen Entwicklungsphase entsprechend, ist auch Cullens therapeutisches Konzept noch am physischen Zwang orientiert, von dessen beiden Funktionen jetzt freilich die eine – der Schutz der Gesellschaft vor den Irren – wenig betont wird, während die andere – das Mittel, das Denken wieder auf den geraden Weg zu bringen – um so mehr hervortritt: »Restraint is also to be considered as a remedy [...], is usefull, and ought to be complete [...], and the strait waistcoat answers every purpose better than any other that has yet been thought of.«74 Auch die Erregung von Furcht ist nützlich, da sie den Geist beruhigt und dem Exzeß der Erregung entgegenwirkt; daher sollten die Personen, die den Irren nahe sind, beständig »Ehrfurcht und Schrecken« zu erregen suchen, was auch durch Peitschen und Schlagen geschehen kann: »Sometimes it may be necessary to acquire it even by stripes and blows. The former, although having the appearance of more severity, are much safer than strokes or blows about the head.«75

Cullen konnte – trotz seiner überragenden Autorität – nur da nachhaltigen Einfluß auf die Psychiatrie gewinnen, wo einige seiner Schüler sich auf die praktischen Probleme des Irreseins einließen; dies gilt namentlich für Th. Arnold, A. Crichton, J. Ferriar und W. S. Hallaran. Darüber hinaus wurde Cullens Theorie zum einflußreichsten Modell für die Begründer der Psychiatrie in anderen Ländern, dem sie zum Teil folgten und an dem sie sich zum anderen Teil kritisch abarbeiteten. Hier sind für Frankreich Pinel, für die USA Rush, für Italien Chiarugi und für Deutschland mehrere Ärzte zu nennen. Das offenbar vollständige Konzept aus der Feder eines der berühmtesten Ärzte seiner Zeit mußte für diese Männer, die sich in ihren Ländern zum erstenmal unmittelbar mit den Irren befaßten, von großem Nutzen sein, mochte es noch so theoretisch sein und mochten sie auch durch eigene Erfahrungen zu anderen Ergebnissen kommen. Auf diesem Hintergrund läßt sich besser verstehen, daß ein Schüler Cullens, John Brown (1735–1788), der seinen Meister in der spekulativen Simplifizierung nervenphysiologischer Befunde weit übertraf, in England kaum Bedeutung erlangte, während sein Einfluß in Deutschland den Cullens in den Schatten stellte und zu einem nachgerade weltanschaulichen Streit um den »Brownianismus« führte. Der ehemalige Theologe Brown generalisierte in seinen Elementa medicinae (Edinburgh 1780) die »Nervenkraft« Cullens zu einer totalen Lebenskraft, der Erregbarkeit (»excitability«), d. h. der Fähigkeit, durch Reize erregt zu werden; und alles, was auf den Organismus wirkt, ist Reiz. Leben ist essentiell (angeborene) Erregbarkeit, wie Eisen magnetisch ist, und zugleich ist es erzwungen, da abhängig von den Reizen und ihrer Intensität; dabei hat die Reizung eines Teils eine einheitliche Kraftwirkung des Ganzen zur Folge. Hier sind die Grenzen der mechanischen Medizin gesprengt; an deren Stelle treten die Prinzipien der Totalität und der Kräfte-Polarität der romantischen Medizin, was die Wirkung auf Deutschland (besonders Schelling) begreiflich macht.76 Diesen Prinzipien des Lebens und der Gesundheit gehorchen auch die Krankheiten. Krankheit ist nur eine – sthenische oder asthenische – Abweichung von der normalen, mittleren Intensität der Erregbarkeit, der die Gesundheit entspricht. Das bedeutet für die Formen des Irreseins: Manie ist zu starke Erregbarkeit, also eine sthenische Krankheit, bedingt durch einen Hirnfehler oder durch zu heftige Reize (Leidenschaften); diese können sich sogar so weit steigern, daß die Erregbarkeit selbst zerstört wird, wodurch ein asthenischer Zustand als uneigentliche Schwäche (Epilepsie oder Schlaganfall) erzeugt wird. Dagegen liegt bei der Melancholie eine zu geringe Erregung, d. h. eine Verminderung der erregenden Leidenschaften vor; damit ist durch eigentliche Schwäche ein asthenischer Zustand entstanden. Das therapeutische Prinzip ergibt sich aus dieser Theorie; es besteht in einem System vielfältiger gegenwirkender Mittel bzw. im Reizausgleich, in deren Dienst Diätvorschriften ebenso treten können wie Züchtigung und die Erregung von Leidenschaften, die dem jeweiligen krankhaften Extrem bis zur Erreichung einer mittleren Norm entgegenwirken sollen.

Während Browns Theorie im Grunde schon nicht mehr dieser Epoche angehört (seine Überspitzung der Thesen Cullens, durch die etwas qualitativ Anderes entstand, verfeindete ihn mit seinem einstigen Förderer) und auf die Psychiatrie nur deshalb bezogen ist, weil sie universale Anwendbarkeit beanspruchte, entstand gleichzeitig mit den Hauptwerken Cullens und Browns das nach Battie zweite spezifisch psychiatrische »text-book« durch einen weiteren Cullen-Schüler, das für diese Übergangsära der gesellschaftlichen Integration der Irren und der Etablierung der auf sie gemünzten Einrichtungen und Theorien überaus bezeichnende Aspekte enthält. Der Autor, Thomas Arnold (1742–1816), verdeutlicht zunächst, daß die Bewegung, die Irren als Gegenstand eines spezifischen öffentlichen Interesses zu sehen, nun auch die »private madhouses« erreicht hatte, denn Arnold war Besitzer des drittgrößten von ihnen, in Leicester. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die privaten Häuser seit 1774 sich in den Bereich öffentlicher, sie zu nationaler Verantwortung aufrufender Gesetzgebung gestellt sahen. So geschah es immer häufiger, daß die privaten Unternehmer im »Mad business« in Zeitungsanzeigen, in denen sie ausgiebig Reklame für ihre Häuser machten, darauf hinwiesen, daß sie auch zu einem Teil »arme Irre« aufzunehmen bereit seien. Auch Arnold verstand sein Haus als »generous and patriotic institution«: er unterhielt acht Irre zu einem ermäßigten Kostensatz und »two other free of all expence whatever«. Zugleich arbeitete er gleichsam selbst an der Aufhebung der marktbeherrschenden Stellung des Privatunternehmertums im Irrenwesen – auf sein Betreiben wurde ab 1781 eine öffentliche Anstalt geplant und 1794 mit ihm als erstem Arzt als »Leicester Lunatic Asylum« eröffnet. Unmittelbar im Dienst dieser Intentionen steht auch sein Lehrbuch, das in zwei Bänden 1782 und 1786 erschien, nach Batties das erste eines Vollpsychiaters, sehr um wissenschaftlichen Standard bemüht, systematisch und erstmals mit sorgfältigen Zitatnachweisen. Die Einleitung enthält einen heftigen Protest dagegen, daß durch das System der Privathäuser die Irren zum Gegenstand der privaten Ausbeutung gemacht werden: »Unter der kleinen Zahl derer, die vollkommene Beobachtungen [...] anzustellen Gelegenheit haben, gibt es nur sehr wenige, die das, was ihrem Privatnutzen so vorteilhaft ist, öffentlich bekannt zu machen Lust haben«; daher habe sein Buch den Zweck, das »Interesse des Publikums« zu befördern.77 Dem Buch ist auf dem Titelblatt ein Satz des Epiktet vorangestellt, dem – mit Rücksicht auf die breitere Öffentlichkeit – die englische Übersetzung beigegeben ist: »Men are not disturbed by things themselves; but by the opinions which they form concerning them.« Mit all dem ist die Konstellation deutlicher gemacht, die sich bei Battie ankündete: Die Gesellschaft versteht sich zunehmend als eigengesetzliche Zirkulationssphäre, weswegen sie darauf angewiesen ist, auch die Armen und die Irren zu integrieren; sie braucht sie als Instrumente der zwei Richtungen ihrer Expansion. Sie braucht die Armen für ihre Expansion nach außen – für die ökonomische als Arbeiter, für die kolonial-militärische als Soldaten. Sie braucht aber auch die Irren für ihre Expansion nach innen, für die Herstellung einer inneren Zirkulation, deren sie zu ihrem Selbstverständnis, ihrer Identität, bedarf; denn in der bürgerlichen Revolution, in der Emanzipation von äußerer und physischer Autorität, sich auf sich selbst stellend und zugleich dem Marktprinzip folgend, ist die Gesellschaft zur Orientierung an sich selbst gezwungen. Die Mittel dazu werden die Empfindungen, die (nicht mehr in ratio und physis integrierten) Leidenschaften und die Meinungen (»opinions«); und die Gesellschaft lernt, an ihnen als an etwas Subjektivem, Selbstgesetztem zu leiden, während sie sie zugleich zu Treibriemen der gesellschaftlichen Bewegung wie des Selbstverständnisses macht. In dieser Kreisbewegung haben um 1750 schon die Hysterie und der Spleen ihren Ort; erst jetzt treten die Irren hinzu. Äußerer und innerer Haushalt, »industrial and animal oeconomy« sind nicht mehr zu trennen, wie sehr sich auch gerade hier der Widerspruch zwischen dem Eigentümer und dem Menschen entfaltet. Da die bürgerliche Gesellschaft ihren Anspruch auf öffentliche Autorität nicht von außen, sondern aus sich selbst bezieht und daher ständig der Legitimierungsnotwendigkeit ausgesetzt ist, werden Arme und Irre – diesmal gemeinsam – auch in dieser Hinsicht funktionalisiert: sie sind die hervorragenden Exempel zur Rechtfertigung der Pflicht des bürgerlichen Staates, die innere Ordnung, den Schutz der Öffentlichkeit – mit den Mitteln der Fürsorge und des sozialen Zwangs – zu gewährleisten, gerade in dem für die Strafgerichte nicht erreichbaren Raum.

Bei Arnold sind diese Themen angeschlagen, obschon seine Praxis und Theorie noch nicht zu den Reformversuchen der folgenden Epoche zu rechnen sind. In seinem Buch wird die Häufigkeit des Wahnsinns in England unmittelbar zum Maßstab der Freiheit und Ökonomischen Fortschrittlichkeit Englands erhoben. Damit weitet er den Ansatz Blackmores und Cheynes nicht nur auf den Stand Englands als Industriegesellschaft aus, sondern dehnt auch erstmals die Funktionalisierung von der Hysterie und dem Spleen auf Formen des eigentlichen Irreseins aus: Während die Franzosen von allen gesitteten Nationen die wenigsten Wahnsinnigen haben, weil sie weniger Anlage zu tiefen, starken, traurigen und anhaltenden Leidenschaften besitzen (Zeugen: Addison und Hume), findet man in England gerade diese in reichem Maße, besonders soweit sie auf Religion, Liebe und Handel bezogen sind; und eben diese Leidenschaften sind die entscheidenden Ursachen für den Wahnsinn. Liebe z. B. ist in Frankreich nur eine Angelegenheit flüchtiger Galanterie, nicht eine ernste Sache des Herzens wie in England (Zeuge: Sterne). Auch die Religion weckt in Frankreich keine echten Leidenschaften (z. B. Schuldgefühle), da die dort herrschende katholische Kirche sie durch Absolution niederhält. Endlich sind die Franzosen kaum von der Sehnsucht nach Reichtum oder vom Gewinn selbst affiziert, da sie noch in einem sklavischen Land mit absoluter Monarchie leben, in dem Handel und Äcker darniederliegen. England dagegen, das Land der Freiheit, fördert Unternehmergeist und Risiko, weil das Eigentum garantiert ist, und hat Bedingungen geschaffen, in denen eine »gesunde Philosophie« und das Christentum »den Gebrauch und den innerlichen Werth der Wohlthaten des Überflusses vollkommen lehren«.78 In Frankreich, wo sich »die Ehre eines Edelmannes mit dem Charakter eines Kaufmannes nicht verträgt« und wo der Zwang der Regierung alle Leidenschaften dämpft, kann der Wunsch nach Besitz nicht so stark werden, daß daraus Wahnsinn entsteht. Daher gibt es dort auch nur Luxus in der oberen, in England aber in allen Klassen.79 Wahnsinn ist also funktionell gebunden vor allem an die Ausbreitung von Besitz, Reichtum und Luxus, findet sich daher am meisten auf der Welt »bei der Englischen reichen, freyen und handelnden Nation«.80

Die eigentliche Theorie Arnolds ist von solchen Anschauungen nicht zu trennen; sie ist nicht nur von seinem Lehrer Cullen, sondern – aufgrund seiner ausgiebigen praktischen Erfahrungen – auch von Battie beeinflußt. Die obligate sensualistische Position wird nicht mehr nur über Locke, sondern auch über David Hartley,81 der ebenfalls psychiatrisch interessierter Arzt war, gewonnen. Die Tendenz Batties wird fortgesetzt, wenn Arnold die Störungen der Sinnesempfindung, d. h. die Halluzinationen, als »ideal insanity« in den Wahnsinn aufnimmt und dieser Form den Wahn der Begriffe, also das Irrereden, die Assoziationsstörung der Lockeschen Tradition, als »notional insanity« gegenüberstellt.

Verschiedene Eigenheiten und Akzente verweisen darauf, daß Arnold bereits mit der Verinnerlichung der romantischen Erfahrung befaßt ist. Er betont nicht nur den (melancholisch oder manisch) affektiven Charakter des Wahnsinns, sondern auch die Möglichkeit, über eine zur Gewohnheit verselbständigte Leidenschaft wahnsinnig zu werden. Das »empire of passions« (und damit die Basis der »pathetic insanity«) umfaßt Liebe, Aberglauben, Geiz, Verzweiflung ebenso wie Heimweh, alle ungeordneten Strebungen und »heftige Neigung zu den ausschweifendst romantischen, kindischen, ungeschicktesten Erdichtungen«.82 Überdies gibt es für ihn zwischen dem bloßen Irrereden aller Menschen und dem eigentlichen Wahnsinn fließende Übergänge. Das heißt, alle Menschen werden – aufgrund der in ihnen selbst verankerten Leidenschaften und Wahnsinnsdispositionen – in den natürlich-moralischen Kreis des Wahnsinns mit der ständigen Möglichkeit zur widernatürlich-medizinischen Form des Wahnsinns einbezogen: »moral insanity« ist die natürlich-allgemein-menschliche Basis der »medical insanity«. Der Narr und das Genie sind in dieser Hinsicht gefährdete, sozial-moralische Grenzgänger (Shakespeare). An Arnolds Einzelbeschreibungen zeigt sich, daß er seinen Begriff des Wahnsinns auf der Erfahrung des Selbstbezugs der Menschen und seiner Störungen (Entfremdungserlebnisse, Deprivationen) gründet.

In der ambivalenten Stellung, die Arnold den Leidenschaften zuschreibt, wird der Widerspruch in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft deutlich. Auf der einen – der wirtschaftenden – Seite ist die Intensität der Leidenschaften Indikator für Unternehmergeist, Gewinnstreben, Mut zum Risiko, Reichtum und Luxus und damit für die Größe und Freiheit der Nation; hier werden die Leidenschaften zudem durch eine »gesunde Philosophie« und durchs Christentum legitimiert. Auf der anderen – der privatinnerlichen – Seite ist die Zeche dafür zu zahlen; hier tragen die Leidenschaften, die Bedürfnisse, nicht nur viel stärker das Risiko des Wahnsinns in sich, sondern hier figurieren sie immer schon als Anlaß, zur Moralisierung des menschlichen Verhaltens aufzufordern, hier geht es um das Verbot der Extreme, um das Einhalten der moralischen Norm, um die Wahrheit, die in der Mitte, im Durchschnitt liegt. Abweichendes Verhalten – ob als Narr und Sonderling oder als Genie – ist gleichsam mit der Strafe der Erkrankung, des Wahnsinns, der »medical insanity« bedroht. Da aber die Disposition zu den verschiedenen moralischen Abweichungen allgemein ist, stellt gerade das Konzept der »moral insanity« – im Gegensatz zur »medical insanity« und nur graduell von dieser zu unterscheiden – eine universale Bedrohung dar, der sich kein Glied der Gesellschaft entziehen kann. Dies sei exemplifiziert an der »appetitive insanity«: Es leidet derjenige an ihr, der unbedingt einem Bedürfnis Genüge tun will, auch wo das den Umständen nach nicht adäquat ist; »sie befällt insgemein solche, die im ledigen Stand, und unter dem äußeren Zwang einer erkünstelten Bescheidenheit geilen Gedanken verliebter Sehnsucht nachhingen, da doch Gesetze, Gewohnheit und Religion sie davon hätten abhalten sollen«, also die, »die eine heimliche, verbotene Flamme in sich ernährten«.83

1809 ließ Arnold einen 3. Band folgen: Observations on the Management of the Insane, Ergebnis einer 42jährigen Erfahrung der Irrenbehandlung, wobei der Unterschied in der Heilungsquote zwischen seinem Privathaus und der öffentlichen Anstalt sich wie 3:2 zu 2:1 verhielt. Die soziale Differenz, die sich hierin ausdrückt, wird noch deutlicher, wenn Arnold einerseits für Humanität und »mild and indulgent treatment« plädiert, andererseits aber offen bekennt: »Chains should never be used but in the case of poor patients, whose pecuniary circumstances will not admit of such attendance as is necessary to procure safety without them.«84

Bürger und Irre

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