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b) Hysterie und Identität des Bürgers
ОглавлениеEs fällt auf, daß Willis nur die Hysterie und die ihr ähnlichen Störungen fast ganz in seine Nerventheorie einbringt, sie von ihrem altehrwürdigen Sitz im Uterus löst und zu einem »nervösen« Leiden macht. Die Melancholie hingegen wird teils noch traditionell-chemisch, teils in den Nervenspirits (das leere Reden) und teils im Herzen (die traurigen Gefühle) lokalisiert. Dabei knüpft die theoretische Erklärung (»low spirits«) mehr ans Nerven-Modell, die Therapie (traurige »passions« durch angenehme ersetzen) mehr an das Herz an – erste Andeutung späterer Arbeitsteilung zwischen theoretisch-naturwissenschaftlichem und praktisch-romantischem Ansatz. Noch peripherer und nur als Ableitung von anderen Bildern erscheinen bei Willis Manie bzw. »madness«, also die zentralen Formen des Irreseins.
Es ist dies ein genaues Abbild davon, daß die Hysterie in der Öffentlichkeit bzw. in der öffentlichen Diskussion zugelassen ist und hier auch eine bedeutende Rolle spielt, während die Irren weitgehend noch unter dem Verdikt der tatsächlichen und dadurch auch der wissenschaftlichen Ausgrenzung der Unvernunft stehen, weshalb bis zur Jahrhundertmitte auch nicht von einer theoretisch-praktischen psychiatrischen Wissenschaft gesprochen werden kann. Diese Situation kann durch nichts besser beschrieben werden als durch die rationalistisch-dressierende, strafende und grausame Behandlung, die Willis den eigentlich Irren für angemessen hält: »For the curing of Mad people, there is nothing more effectual or necessary than their reverence or standing in awe of such as they think their Tormentors. [...] Furious Mad-men are sooner, and more certainly cured by punishments, and hard usage, in a strait room, than by Physick or Medicines. [...] Let the diet be slender and not delicate, their cloathing course, their beds hard, and their handling severe and rigid.«15
Th. Sydenham, ebenfalls aus der Royal Society und befreundet mit Lokke und Boyle, bringt 1682 mit seiner Beschreibung der Hysterie eine weiterführende Vermittlung von Willis und Glisson16 zustande, die zugleich unter der Hand zu einer Art moralischer Beschreibung der bürgerlichen Öffentlichkeit Englands der Wende zum 18. Jahrhundert gerät. Er identifiziert weitgehend – was das klinische Bild angeht – die bei Frauen vorherrschende Hysterie mit der Hypochondrie, ihrem Äquivalent bei Männern, und mit der Melancholie. Er vervollständigt also hier die bei Willis bemerkte Tendenz. Vom eigentlichen Irresein ist bei ihm um so weniger die Rede. Frei von Hysterie sind fast nur Frauen »such as work and fare hardly«. Umgekehrt sind von den Männern vor allem von dieser Störung befallen solche, »who lead a sedentary life and study hard«17, also Männer mit einer Tätigkeit in kaufmännischen oder sonstigen Büros und in akademischen oder literarischen Berufen. Damit ist mit dem Begriff der Hysterie ziemlich genau der Bereich der ökonomischen und der literarisch-humanen, d. h. für einen Akademiker sichtbaren bürgerlichen Öffentlichkeit gemeint. Der typische Bürger leidet auch an Hysterie bzw. Hypochondrie. Das übrige bleibt mehr oder weniger im Dunkel – eine gesellschaftliche Sichtverkürzung, die (nicht nur) Psychiater immer wieder zu Fehlschlüssen führen wird.
Erklärt wird die Hysterie zunächst durch Unordnung, Ataxie der Spiritus animales. Es bedeutet aber eine Verinnerlichung des Prinzips Willis’ – jetzt auch methodisch –, wenn Sydenham dann differenziert: »As the body is composed of parts which are manifest to the senses, so doubtless the mind consists in a regular frame or make up of the spirits, which is only the object of reason. And this being so intimately united with the temperament of the body, is more or less disordered, according as the constituent parts thereof, given us by nature, are more or less firm.«18 Man darf wohl der Interpretation Foucaults folgen, daß hier die neutralisierende naturwissenschaftliche Beobachtung Willis’ durch eine innere Sicht ersetzt ist, die durch Beziehung der Spirits auf die Dichte der Konstitution die innerlichkörperliche Dimension mit der moralischen zusammenbringt, die Schwäche der Konstitution mit der Schwäche des Herzens.19 Denn Sydenham begründet gerade aus diesem Zusammenhang die größere Disposition der schwächeren Frauen für die Hysterie und damit kulturkritisch den inkonstanten, weiblichen Charakter der neuen bürgerlichen Gesellschaft: »Hence women are more frequently affected with this disease than men, because they have receiv’d from nature a finer and more delicate constitution of body, being designed for an easier life and the pleasure of men, who were made robust, that they might be able to cultivate the earth, hunt and kill wild beasts for food, and undergo the like violent exercises.«20
Als Therapie kennt Sydenham zunächst reinigende Entleerungen des Körpers, sodann zur Stärkung der Spirits Eisenmittel und zu ihrer naturgemäßen Regulierung vor allem tägliches Reiten.21 Dies letztere Therapeutikum kann als Beginn der Tendenz angesehen werden, die gesamte Verhaltensordnung des Patienten in den Heilungsplan einzubeziehen; denn da die Symptome der Hysterie als Bewegungsunordnung sowohl der Nervenspirits als auch der sozialen Verhaltensweisen aufgefaßt werden, hat auch die Therapie eine Neuausrichtung dieser sozio-somatischen Bewegung anzuzielen.
Ein Beispiel wird Sydenham zugeschrieben, das, selbst wenn es Legende sein sollte, besonders instruktiv ist. Als der Arzt bei einem besonders hartnäckig leidenden »Nobleman« mit seiner Kunst am Ende war, gab er ihm eine Empfehlung für einen nicht existenten hochberühmten Kollegen, der im hohen Schottland wohne. Als der Patient nach langer und vergeblicher Reise und voller Vorwürfe zu Sydenham nach London zurückkehrte, war er geheilt. Erklärung: Die Verwirklichung der beschwerlichen Reise (Reise als Selbstzweck, »Reisen ohne anzukommen«) und der anschließende Affekt gegen den täuschenden Arzt hatten dem Patienten vermittelt »a motive of sufficient interest to divert the current of his ideas from the cherished theme« und ihm dadurch eine gesunde Bewegungsordnung zurückgegeben.22
Das Modell der Medizin für nervöse bzw. psychische Krankheiten ist somit das, was in der bürgerlichen Öffentlichkeit sichtbar wird: die Hysterie.23
Die Theorien, die anläßlich dieser repräsentativen Störung von Willis und Sydenham entwickelt werden, bestimmen bis zur Jahrhundertmitte das ärztliche Denken und Handeln. Wie die armen Irren weitgehend außerhalb der Öffentlichkeit und damit außerhalb dessen, was die Bürger als Gesellschaft verstehen, aber auch außerhalb des Interesses des Staates stehen, so beherrscht die Hysterie den Markt des Interesses an sich selbst. Sie wird zu einem Instrument, durch das der Bürger sein menschliches Selbst und sein gesellschaftlich-nationales Selbst zur Deckung bringen kann. Eine Bedingung dafür ist, daß den Ärzten im Enthusiasmus der öffentlichen Diskussion über alles ihre traditionelle Autorität abhanden gekommen ist, zumal sie sich selbst nur als Diskutanten unter anderen verstehen. Von den vier bedeutendsten Krankenhäusern Londons rechnen sich zwei zu den Whigs und zwei zu den Tories. So entsteht das Bild des Arztes, der sich zwar viel mit Politik, Ökonomie und Literatur beschäftigt, aber von der Medizin nicht viel mehr versteht, als daß er ein gutes Geschäft daraus zu machen weiß. Die Sprechstunde fand zu einem guten Teil im »coffee-house« statt; und auch der Teil der medizinischen Tätigkeit, der später die Psychiatrie ausmacht, war Sprechstunde – für hysterische Patienten, also »Sprechstundenpsychiatrie«.24
Aus dieser wechselseitigen gesellschaftlich-ärztlichen Verflechtung wird nicht nur verständlich, daß alle Welt – Ärzte und Nicht-Ärzte – über Hysterie schrieb, sondern auch, daß die Mehrzahl dieser Bücher und Zeitschriftenaufsätze von der Beschreibung der eigenen Krankengeschichte des Autors ausgingen und daß sie – an die Gesamtheit der gebildeten Öffentlichkeit gerichtet – nicht an die ärztliche Autorität verwiesen, sondern durch Mitteilung eines umfassenden Heilungsplans zur Selbsthilfe aufforderten. Das Bemühen, aus einer als gefährlich empfundenen »instability« zu einer stabilen Ordnung, zur Identität, zu einem Selbst zu finden, das selbsttätig funktioniert und nicht durch eine äußere Autorität oktroyiert wird, war der Kern aller öffentlichen Diskussion – auf der politischen Ebene, so bei Locke25, wie auf der individuellen.
Mandeville kann in seiner Lebensweise und in seinen medizinischen Schriften vielleicht als idealtypisch für den Arzt dieser Zeit gelten. Er betrieb seine Praxis nur lässig, bezog von einigen holländischen Kaufleuten eine Pension. Seine Interessen waren literarisch, politisch, ökonomisch eher als medizinisch. Vornehmlich in literarischen Zirkeln verkehrend, kannte er Addison ebenso wie Benjamin Franklin. 1711 schrieb er einen Treatise of the Hypochondriack and Hysterick Passions, verbunden mit der Darstellung der »real art of physick itself«, d. h. »writ by way of information to patients« und nach einer »method entirily new«: als Dialog zwischen Arzt und Patient. Auch hier wird die eigene Krankheit – als Angst, an Syphilis zu leiden – eingeschoben. Therapeutisch ist ihm keine eigene Theorie, sondern die erleichternde und über die Irrtümer des Patienten und der ärztlichen Kollegen satirisch aufklärende Diskussion selbst wichtig. Eingedenk seiner Vorliebe für die Funktion der »selfishness of man« läßt er den Patienten seine Aggressionen gegen ihn abreagieren – und läßt sich dafür nach Zeit bezahlen. Zugleich schreibt Mandeville – hier am Beispiel der hysterischen Tochter eines Patienten – einen »course of Exercise« vor, der den ganzen Tageslauf genau skandiert und ausfüllt; u. a. werden verlangt: frühes Aufstehen, mehrere Stunden Reiten, heftiges Hautbürsten durch eine Bedienstete und ein mehrstündiger Spaziergang. So etabliert sich das Hygieneideal der höheren Bürgerstochter.
Auch wird es in der ersten Jahrhunderthälfte Mode, über die Hysterie das individuelle und das gesellschaftliche Selbstbewußtsein unmittelbar zu identifizieren, gleichsam aus einem Mangel für die Individuen die Besonderheit und Größe der bürgerlichen Gesellschaft und Nation zu erklären, während Sydenham hier noch eher eine unerfreuliche Instabilität sah. Der »medical journalist« Blackmore verfaßte 1725 einen Treatise of the Spleen and Vapours: or, Hypocondriacal and Hysterical Affections. Auch er hält die Störungen der Männer und Frauen für Formen derselben Krankheit. Die Konstitution der Milz, der »spieen«, bestimmt, wie lasziv oder träge eine Person in sexueller und jeder anderen Aktivität ist. Zudem wird ihm der »English Spleen« zu einer Art Individuationsprinzip, das die Verschiedenheit des individuellen Genius und die Besonderheit der Nation bewirkt. Gegenüber den anderen Völkern »the temper of the Natives of Britain is most various, which proceeds from the Spleen, an Ingredient of their Constitution, which is almost peculiar, at least in the Degree of it, to this Island. Hence arises the Diversity of Genius and Disposition, of which this soul is so fertile. Our Neighbours have greater Poverty of Humour and Scarcity of Originals than we. [...] An Englishman need not go abroad to learn the Humours of these different Neighbours; let him but travel from Temple-Bar to Ludgate, and he will meet [...] in four and twenty hours, the Dispositions and Humours of all the Nations of Europe.«26
The English Malady: or, a Treatise of Nervous Diseases of all Kinds... with the Author’s own Case at large von G. Cheyne erschien 1733. Hier ist die nationale Krankheitsbezeichnung als stolzes Bekenntnis zu den unter diesem Begriff vorgetragenen Angriffen des Auslands gewählt. Denn für Cheyne sind die Gründe der Häufigkeit dieser Krankheit in England gegenüber allen anderen Nationen u. a. »the Richness and Heaviness of our Food, the Wealth and Abundance of the Inhabitants (from their universal Trade) the Inactivity and sedentary Occupations of the better Sort (among whom this Evil mostly rages) and the Humour of living in great, populous and consequently unhealthy Towns«. Außerdem werden von der Krankheit gerade nicht »Fools, weak or stupid Persons, heavy and dull Souls« befallen, sondern solche »of the liveliest and quickest natural Parts [...] whose Genius is most keen and penetrating, and particularly where there is the most delicate Sensation and Taste, both of Pleasure and Pain«. Und dies ergibt sich »from the animal Oeconomy and the present Laws of Nature«.27 Auch für Cheyne kann diese Krankheit nur eine körperliche sein. Es liegt eine Schwäche oder Tonusstörung der Nerven vor, doch ist auch hier wieder der zugrunde liegende »Character and Temper of the Patient« entscheidend, so daß die »English Malady« als »Nervous Distemper« zu bezeichnen ist. Daher sind die Symptome dieser Krankheit auch nicht einheitlich, sondern entsprechen den Eigenheiten der jeweils befallenen Körperteile; jedes Organ hat ein ihm eigenes »sentiment«.
Mit dieser Entwicklung der Hysterielehre ist nun ein Teil der ausgegrenzten Unvernunft – namentlich der der Leidenschaften – als wesentlicher Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert, und zwar nicht mehr nur als von der Rationalität zu beherrschendes gefährliches Übel, sondern als durch innere Sicht erkennbare körperlich-sozial-moralische und eigenständig wirkende Kraft. Vom rationalen Aspekt der englischen Aufklärung ist dieser romantische seit der Revolution kaum zu trennen (Sydenham, Shaftesbury).27a Die »hysterical passions« sind ein körperlicher Indikator für Genius und Originalität des Individuums wie für handelskapitalistischen Reichtum – bald auch für Freiheit – der Gesellschaft, aber zugleich für den Grad an Labilität und körperlich-moralischem Leiden, der als Preis dafür zu zahlen ist. Die Spekulationen und der Zusammenbruch der Südsee-Kompanie von 1720, der »South Sea Bubble«, wurde zum paradigmatischen Ereignis. Es brachte die rational schwer erklärbare ärztliche Erfahrung, daß mehr Patienten zur Behandlung kamen, »whose heads were turned by the immense riches which fortune had suddenly thrown in their way, than of those, who had been completely ruined by that abominable bubble. Such is the force of insatiable avarice in destroying the rational faculties.«28 Ähnliches besagt das Staunen Montesquieus darüber, daß die Engländer – im Vergleich zu den Römern – ohne einleuchtenden Grund Selbstmord begehen, selbst auf dem Gipfel des Glücks. Es ist die soziosomatische Gesetzmäßigkeit der Hysterie, die verlangt, ihr mit therapeutischen Mitteln zu begegnen, die denselben Gesetzen entsprechen; denn die Zeiten sind vorbei, in denen hier eine zu sühnende religiöse Schuld vermutet wird. Hysterie und Spleen sind aber ebensowenig vom Körper bzw. von der Gesellschaft abtrennbare »imaginary Whims or Fancies«: es ist hier schlechterdings unmöglich, durch Reden einen Irrtum rational aufzuklären, »to counsel a Man [...], tho’ never so eloquently apply’d«.29 Die Hysterie zeigt dem Individuum wie der Gesellschaft an, daß es nun möglich, aber auch notwendig ist, reflexiv sich selbst zu behandeln, die Stabilität der Bewegungen selbst zu regulieren. Die Stabilität kann nur relativ sein, da sie nicht durch äußere Autorität verliehen wurde, sie darf es nur sein, da von dem Maß garantierter Labilität individuelle Originalität auf der einen Seite, das Bewegungsspiel der Öffentlichkeit, Handel und Reichtum auf der anderen abhängen. Nur so kann es zu befriedigender Stärke und Lebendigkeit der »animal spirits« wie des »public spirit« kommen in der sich modernisierenden Gesellschaft.