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Das Programm von »Bürger und Irre« war und ist aber nicht nur die Selbstaufklärung der Psychiatrie als Institution, sondern auch als Wissenschaft. Dies ist hilfreich, nachdem seit 1980 eine jüngere Generation in der Lage war, sich endlich auch der Frage zu stellen, wie es möglich war, daß während des Dritten Reiches so viele psychiatrisch Tätige sich in die NS-Vernichtungsprogramme psychisch kranker und geistig behinderter Menschen integrieren ließen, obwohl sie vermutlich nicht besser oder schlechter waren als wir. Die Reform-Engagierten wurden zugleich Geschichts-Engagierte, was der Verantwortlichkeit der Durchführung der Reform, dem »langen Marsch durch die Institutionen« gut getan hat. Es begann damit, daß inzwischen wohl in jedem psychiatrischen Krankenhaus, in jeder Anstalt, eine Gruppe von Mitarbeitern sich mit der Selbstaufklärung der Einrichtung während der NS-Zeit beschäftigte. Daraus entstand eine neue Literaturgattung, die innerhalb von 10 Jahren in einer Bibliothek mehr als drei Meter umfassen würde. In einem »Arbeitskreis zur Erforschung der NS-Euthanasie« treffen sich die Beteiligten bis heute, um als historische Laien sich mit professionellen Historikern auszutauschen, zumal bald deutlich wurde, daß die professionelle Geschichtsschreibung, auch die Zeitgeschichte, in Fortsetzung der Ausgrenzungspolitik der modernen Gesellschaft gerade diejenigen 10% der Bevölkerung aus ihrem Gesellschaftsbegriff ausgeklammert hatte, die die Zielgruppen der NS-Vernichtungspolitik waren, also u. a. psychisch Kranke, geistig Behinderte, Körperbehinderte, Suchtkranke, Homosexuelle, das kaum abgrenzbare Heer der sogenannten »Asozialen« (»Lumpenproletariat«) sowie Sinti und Roma. Unsere, wenn auch späte, Solidarisierung mit ihnen führte dazu, daß Vertreter dieser Gruppen 1987 erstmals vor dem zuständigen Ausschuß des Bundestages selbst für sich sprechen konnten, was zu ihrer Anerkennung als Verfolgte, wenigstens zweiter Klasse, und zur Zuerkennung gewisser Entschädigungsleistungen führte.

Damit war klar, daß die offizielle Geschichtsschreibung aufgrund ihrer Ausgrenzung der leistungsschwachen Teile der Bevölkerung etwas vom Wesen des Nationalsozialismus nicht hat erkennen können, wenn nicht gar vom Wesen der Moderne. So kann man etwa erst seit 1993 in deutscher Sprache lesen, daß der Übergang vom handwerklichen zum industriellen Morden durch Vergasen von den Nazis schon im Oktober 1939 vollzogen wurde, und zwar anhand von polnischen psychisch Kranken im Fort VII der Befestigungsanlagen von Posen (Z. Jaroszewski: Die Ermordung der Geisteskranken in Polen 1939–1945 Warschau 1993, zu beziehen über den Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh). Darüber hinaus wurde es dem Euthanasie-Arbeitskreis immer klarer, daß man die Verbrechen der Nazis nur begreifen könne, wenn man deutlich weiter in die Geschichte zurückgehen würde. Auf dieser Spurensuche landeten wir schließlich, ähnlich wie in derselben Zeit auch Zygmunt Bauman (Dialektik der Ordnung, Europäische Verlagsanstalt Hamburg 1992), in der Zeit um 1800, also in derjenigen Zeit, in der die Entstehung der Psychiatrie sich inzwischen als Symptom des Beginns der Moderne herausgestellt hat. Unsere Gedanken hierzu, mit denen wir einen Aspekt von »Bürger und Irre« weiter ausgearbeitet haben, habe ich in »Tödliches Mitleid« (Verlag Jakob von Hoddis, Gütersloh 1993) zusammengefaßt. In der gebotenen und damit vereinfachenden Kürze geht es dabei um folgendes: Der Urknall, mit dem die Energien der aufklärerischen Vernunft die alte ständisch-feudale Ordnung in zumindest drei wesentliche Spaltprodukte sprengte oder weiterentwickelte und damit die Moderne ermöglichte, begann damit, daß man in Anwendung der instrumentellen Vernunft die leistungsstärkeren Menschen aus ihren tradierten Bindungen löste, in denen sie immer zugleich produktiv und sozial tätig waren, um sie in menschheitsgeschichtlich erstmals eigens dafür gebauten Institutionen (Fabriken, später Büros) familienfern den ganzen Tag nur noch produktiv tätig sein zu lassen. Bis dahin hatte es im landwirtschaftlichen und handwerklich-gewerblichen Bereich praktisch nur Heimarbeit gegeben. Jetzt gab es mit der zumindest täglichen Trennung vom familiären Verband Arbeitswege. Diese Herauslösung des produktiven Tuns aus dem gelebten Leben, wogegen die Menschen sich nach Kräften, aber vergeblich, wehrten, war der Kern der Entfremdung der Arbeit. Diese zweckrationale Operation, durch die die Produktivität sich ins Unermeßliche steigern ließ, veränderte alles. Insbesondere die Leistungsschwächeren, also z. B. die psychisch Kranken, geistig Behinderten, Körperbehinderten, Alten, die bisher im alten »Haushalt« im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der heimischen Produktion beteiligt waren, im übrigen aber von den Leistungsstarken soziale Fürsorge und, falls nötig durchaus nicht zimperlich, soziale Kontrolle erfuhren, konnten nun nicht von den familiären und nachbarschaftlichen Verbänden getragen werden. Über sie entstand die Soziale Frage, die mit ihrer Institutionalisierung beantwortet wurde, wie in »Bürger und Irre« z. B. mit J. Benthams Organisationsvorschlag plastisch geschildert. Es entstanden flächendeckende Netze spezieller sozialer Institutionen und über sie eine bis heute zunehmende Zahl neuer Berufe, die nur noch sozialen Inhalt haben. Das menschheitsgeschichtliche und damit auch anthropologische Grundmuster der Einheit produzierenden und sozialen Handelns wurde sowohl im einzelnen Menschen aufgespalten als auch in der Gesellschaft, die in ein immer wirtschaftlicher werdendes Wirtschaftssystem und ein immer sozialer werdendes Sozialsystem zerfiel. Der Rest des alteuropäischen »Haushalts«, zunehmend sowohl vom produzierenden als auch vom sozialen Tun entlastet, entwickelte sich zur Gefühlsgemeinschaft der Kleinfamilie, mit abnehmender gesellschaftlicher Bedeutung. Aus der unmittelbar gelebten Solidarität zwischen Stärkeren und Schwächeren, im Sinne der Selbstjustiz sicher oft brutal genug, wurde die abstrakt-bürokratische Solidarität zwischen Institutionen durch Finanzausgleich zwischen Wirtschafts- und Sozialsystem. Das 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch die Expansion der Institutionalisierung leistungsschwächerer Bevölkerungsteile und dadurch, daß das ursprünglich aufklärerisch-pädagogische Denkmodell des Umgangs mit den Insassen allmählich durch das medizinische Denkmodell ersetzt wurde, wodurch die Entfremdung der Ausgegrenzten von der Restgesellschaft sich verschärfte. Aus dem Verkehr gezogen und unsichtbar gemacht, wurden sie zu den inneren Fremden, als Gehirnkranke und später als Erbkranke aufgefaßt, zu den Unheimlichen und Bedrohlichen, seit den 1890er Jahren als »Minderwertige« und »Untermenschen« auch schon der präventiv-eugenischen Sterilisation zugeführt. Hierzu ein Zitat des um 1900 sicher weltweit bekanntesten Psychiaters August Forel aus der Schweiz: »Wir bezwecken keineswegs, eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen, sondern nur die defekten Untermenschen allmählich... durch willkürliche Sterilität der Träger schlechter Keime zu beseitigen und dafür bessere, sozialere, gesündere und glücklichere Menschen zu einer immer größeren Vermehrung zu veranlassen« (zit. nach Dörner, Tödliches Mitleid, S. 32). Dieses Zitat, das sich beliebig vermehren ließe, könnte aber auch schon, wie wir heute wissen, das subjektive Selbstverständnis der NS-Verantwortlichen sein, die am 1. September 1939 den Vernichtungskrieg nicht nur nach außen, sondern auch nach innen begonnen haben. Es war ihr zweckrational kaum zu widerlegendes Motiv, daß sie der Welt zeigen wollten, daß eine Gesellschaft, die nur ein einziges Mal die Brutalität aufbringt, sich von ihrem gesamten sozialen Ballast zu befreien, wirtschaftlich und militärisch unschlagbar wäre und den Traum der Aufklärung von der leidensfreien Gesellschaft aus lauter leidensfreien Menschen würde verwirklichen können. Während in Polen zahlreiche psychiatrisch Tätige im Widerstand umkamen oder mit ihren Patienten ermordet wurden, gab es in Deutschland nur einen Psychiater/ Psychotherapeut, der aktiv im Widerstand tätig war und deshalb hingerichtet wurde: Seine, John Rittmeisters, Biographie und sein Gefängnistagebuch erinnern an ihn (Hier brennt doch die Welt, Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh 1990).

Warum ist ausgerechnet kurz nach 1945, also nach Beendigung der Nazi-Zeit, erstmals systematisch und weltweit in allen entwickelten Gesellschaften neben die herkömmliche moderne Ausgrenzung eine immer wirksamer werdene Bewegung der Emanzipation und Integration psychisch Kranker und anderer Behinderter getreten? Man wird es wohl nicht beweisen können, aber vieles spricht dafür, daß wenn schon kein Wissen, so doch ein Ahnen durch die Welt gegangen ist, daß die Vernichtungspolitik der Nazis vielleicht nur die Konsequenz aus der Institutionalisierungs- und Ausgrenzungspolitik der letzten 150 Jahre gewesen ist, daß sich damit der Weg als falsch oder zumindest als überholt erwiesen und daß man daher alle Anstrengungen zu unternehmen habe, auf dem Wege der De-Institutionalisierung die Wiederherstellung des unmittelbaren Miteinanders von Stärkeren und Schwächeren mit zeitgemäßen Mitteln zu versuchen. Auch das spricht dafür, daß ebenfalls seit der Nachkriegszeit neben die beiden anderen Kolonisierungsrichtungen im Hinblick auf die nicht industrialisierten Länder der Welt und im Hinblick auf die Natur erstmals systematisch De-Kolonisierungsbewegungen treten, wenn auch mit wechselndem Erfolg. Seit den 80er Jahren scheint nun die Bewegung der De-Institutionalisierung in eine kritische Phase gekommen zu sein. Diese ist nicht nur gekennzeichnet durch strukturelle Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, sondern auch dadurch, daß nun wieder das Reden vom »lebensunwerten Leben« öffentlich erlaubt ist, daß gefordert wird, pflegebedürftige Menschen sollen sich von ihrem Arzt den Tod geben lassen, daß eugeniknahe pränatale Diagnostik verlangt wird, daß mit dem Hirntod die Todesdefinition ein Stück weit ins Leben vorgeschoben wird, daß behinderte Neugeborene nicht unbedingt leben müssen, daß Eingriffe an Behinderten vorgenommen werden sollen, daß genetische Eingriffe die Identität des Menschen fraglich machen sollen, daß Träger psychiatrischer Krankenhäuser sich an ihren letzten Anstaltsinsassen wie an Geiseln festklammern, um ihre Existenz zu sichern, usw. Das ganze wird garniert von einem merkwürdigen Ethik-Boom, von dem aber nur die utilitaristischen Bioethik-Konzepte öffentliche Aufmerksamkeit finden, also gerade die philosophische Tradition, die auch schon durch Philosophen wie J. Bentham um 1800 zur Akzeptanzbeschaffung für das Projekt der Moderne diente. Im Gesundheits- und Sozialwesen wird jetzt nicht mehr nur von Rationalisierung, sondern von Rationierung gesprochen, weil »nicht mehr alles bezahlt werden« könne. Die profitträchtigen Grenzen des technisch Machbaren immer weiter hinauszuschieben und sich hier gegen die Konkurrenz zu behaupten, koste so viel Geld, daß für die Grundbedürfnisse aller Menschen im Kernbereich der Gesellschaft nicht mehr genug Geld da sei. Die abstrakt-bürokratische Form der Solidarität zwischen Stärkeren und Schwächeren über den Finanzausgleich zwischen Wirtschafts- und Sozialsystem der 150jährigen Zeit der Moderne beginnt zu bröckeln, während noch nicht gesichert ist, wie weit sie durch eine neue, postmoderne gemeindepsychiatrische kommunale Solidarität ersetzt werden kann, während die Teilhabe der psychisch Kranken am Arbeitsmarkt als Beweis für eine gelungene Emanzipation und Integration bestenfalls unterwegs ist.

Diese kritische Phase, diese Krise ist ernst zu nehmen, jedoch nur bei mangelndem historischen Bewußtsein ein Grund zur Resignation. Die Grundkenntnisse von »Bürger und Irre«, die sich bis heute eher zunehmend bestätigt haben und aus sich heraus weiterentwickelt werden können, wie ich dies in diesem Vorwort hoffe gezeigt zu haben, dürften hinreichend tragfähig sein, um auch für unsere Gegenwart zu handlungsleitenden Perspektiven zu führen. Wenn die umfassende aufklärerische Vernunft mit Beginn der Moderne sich in ein konkurrierendes Verhältnis zwischen instrumentelier Individualvernunft (oder Ethik) und bezie-hungsstiftender Sozialvernunft (oder Ethik) aufgespalten hat, die erstere während des 150jährigen Projektes der Moderne federführend war, während die letztere nur um den hohen Preis der Institutionalisierung der schwächeren Bevölkerungsteile überwintern konnte, dann hat die Sozialvernunft seit der Bewegung der De-Instutionalisierung der Nachkriegszeit erheblich aufgeholt. Wir befinden uns also heute in einer wesentlich besseren Lage als noch vor 50 oder 100 Jahren, nämlich in der Lage, in der beide Ausformulierungen der Vernunft (oder der Ethik) sich in einem wesentlich gleichberechtigteren Gleichgewicht oder Spannungsverhältnis befinden. Beide nämlich sind von gleicher Notwendigkeit für eine gedeihliche Weiterentwicklung der Gesamtgesellschaft, wobei wir aus der Geschichte der Moderne gelernt haben dürften, daß es unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß keine Seite die andere dominieren darf, daß das Spannungsverhältnis erhalten bleibt. Selbst das Fernziel als Beweis für die Vollständigkeit einer gelungenen De-Institutionalisierung, nämlich die Wiedervereinigung von Wirtschafts- und Sozialsystem als wesentlichen Spaltprodukten des Urknalls der Moderne, ist zunehmend wahrnehmbar und erlebnisfähig: Die Werkstätten für Behinderte sowie die Selbsthilfe- und Zuverdienstfirmen sind Zonen der Wiedervereinigung von produktivem und sozialem Tun – sowohl im einzelnen Menschen als auch in der Gesellschaft. Wer’s nicht glaubt, suche einen solchen Ort auf und lasse die Atmosphäre auf sich wirken.

Klaus Dörner

Januar 1995

Bürger und Irre

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