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c) Funktionalisierung der Hysterie

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Es ist die Entwicklung nachzutragen, die die Bedeutung von Hysterie bzw. Spleen seit 1750 genommen hat, d. h. derjenigen minder schweren Nervenstörungen, die schon vor dieser Zeit Bürgerrecht erlangt hatten. 1746 erschien von John Andrée das erste Buch speziell über Epilepsie; als Gründer und Arzt des »London Infirmary« hatte er erstmals Gelegenheit, über diese Kankheit ausgedehnte Erfahrungen zu sammeln. Auch auf diesem Gebiet bedingte also eine praktische Einrichtung die ersten wissenschaftlichen Fortschritte. Jedenfalls führte das dazu, daß man Hysterie deutlicher von der schwereren und eher organisch anmutenden Epilepsie abzuheben verstand, wenngleich diese Differenzierung letztlich noch über 100 Jahre in Anspruch nehmen sollte. Weiter erschien 1796 G. B. Morgagnis, des größten Anatomen seiner Zeit, Werk über die Befunde von über 700 Sektionen. Es machte klar, daß man sich bei Annahmen über die körperliche Fundierung der Krankheiten des Geistes und der Nerven kritisch zurückzuhalten hatte.

Wichtiger noch ist eine Spaltung der medizinischen Vorstellungen, die gerade um die Jahrhundertmitte hervortritt. Die Spirits repräsentierten noch eine nahezu metaphysische Einheit der körperlichen und nichtkörperlichen, der äußeren und inneren Phänomene. Sie werden jetzt allmählich ersetzt durch Modelle der Nerventätigkeit, die – im Verein mit den Fortschritten physiologischer Experimente – stärker an der Physik orientiert sind: an der Bewegung fester und flüssiger Materie, an Tonus und Spannung/Erschlaffung elastischer Fasern, an der Vibration gespannter Saiten. Auf der einen Seite werden so die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die medizinischen Fächer zu einer einheitlichen Wissenschaft von den Gesetzen des menschlichen Körpers und seiner Störungen werden. Auf der anderen Seite entwickelt sich an denselben physikalischen Begriffen eine – von ihrer Funktion der Erklärung körperlicher Vorgänge sich abhebende – bildhaft – symbolische Bedeutung. Die »Natur« des Menschen wird doppeldeutig, zerfällt in eine innere und äußere. Die »innere Sicht«, die Sydenham noch für die somatisch-psychosozialen Spirits behauptete, löst sich von der Körpersphäre, deren Funktionen nun einer äußeren Erklärung verbleiben, und wird zunehmend zu einer – psychologischen – Betrachtung mit unmittelbarem und subjektivem Wahrheitsgehalt. Für »Seele«, »Empfindung«, »Sympathie«, »Sensus communis«, »Leidenschaft« gilt das Äußerlich-Sichtbare nur noch als Mittel oder als Analogie, um das Innerlich-Unsichtbare erkennen zu können. Auch der Begriff der »Konstitution« wird zu einem Instrument, mit dem man anhand äußerer Zeichen psychisch-innere Dispositionen ablesen kann. Wie sehr die Leidenschaften ihr Kriterium an moralischen Normen statt an Naturgesetzen finden, war bei Arnold das Thema. Wie sehr z. B. das Modell der Elektrizität Vorstellungen über das Innere des Menschen und auch diesbezüglichen praktischen Absichten dienlich sein kann, deuteten wir bei Wesley an. Wie die an physiologischen Experimenten geprägten Begriffe der Sensibilität und Irritabilität Hallers ärztlichen und weltanschaulichen Bedürfnissen zuliebe verändert wurden, war im Extrem an J. Brown zu sehen. Zugleich bilden all diese begrifflichen Verinnerlichungen eine Vorlage der literarischen Romantik in England.

In dieser Bewegung steht Robert Whytt (1714-1766), der den Ruf der schottischen Medizin als Vorgänger Cullens begründete, der 1751 eine erste, von Spirits weitgehend befreite somatisch-neurologische Medizin schuf und der 1765 das einzige bedeutende Buch über Hysterie der 2. Jahrhunderthälfte schrieb. Als »Neurologe« entdeckte er nicht nur einige höchst wichtige Reflexe: die Pupillenreaktion auf Licht, Pupillenstarre nach Zerstörung der Vierhügelregion des Gehirns, Nies-, Würg-, Husten-, Blasenentleerungsreflex, Erektion und Ejakulation.85 Gerade gelegentlich seiner Reflex-Experimente kam er zu klareren Vorstellungen-von der Beziehung der Muskelbewegung zur Sensibilität. Insbesondere fand er in diesem Zusammenhang zu der Annahme, daß Bewegung durch einen Nervenimpuls, auch ohne Anstoß durch einen höheren Willen oder einen äußeren Reiz, in Gang gesetzt werden kann; d. h. es gibt »vital« oder »involuntary motions« ohne »express consciousness«, also ohne eine dirigierende Instanz wie die Seele. Dann gibt es auch nicht – getrennt voneinander – eine anima = »vital or sentient soul«, die wir mit den Tieren gemein haben, und einen rein menschlichen Animus = »the seat of reason and intelligence«, sondern »there seems to be in man one sentient and intelligent PRINCIPLE, which is equally the source of life, sense and motion, as of reason«.86 Es ist dieses – bei Whytt stets abstrakt bleibende – »Prinzip«, das es ihm erlaubt, die traditionelle Trennungslinie zwischen menschlich-bewußten und tierischunbewußten Funktionen durch eine andere zu ersetzen, die, wie Hunter und Macalpine meinen, eine neurophysiologische von einer psychologischen Betrachtungsweise scheidet87, wobei beide – die eine äußerlich, die andere innerlich – die Gesamtheit der Funktionen des Menschen als einen eigengesetzlichen, gleichsam geschlossenen Kreislauf zu beschreiben in der Lage sind.

Nicht anders ist es bei Whytts Analyse der Hysterie und der Hypochondrie, die er – die eine die Frauen, die andere die Männer betreffend – als »nervous disorders« identifiziert. Ihre Ursache ist »an uncommon weakness, or a depraved or unnatural feeling, in some of the organes of the body«, wobei kennzeichnend die Vielzahl und die Entferntheit der kranken Organe voneinander sind, was nur durch eine gesteigerte Beweglichkeit der körperlichen Beziehungen (besonders der Frau eigen, die daher häufiger erkrankt) zu erklären ist, d. h. durch übergroße »sympathy«, »consensus«. Letztere existieren in den Organen, sind aber zugleich eine Form der Sensibilität und werden durch das Nervensystem vermittelt. Die andere Ursache der »nervous disorders« ist daher »a too great delicacy and sensibility of the whole nervous system«.88 Diese Eigenschaften des Nervensystems sind zugleich psychische, ja moralische Kategorien, und Foucault bemerkt mit Recht: »From now on one fell ill from too much feeling; one suffered from an excessive solidarity with all the beings around one. One was no longer compelled by one’s secret nature; one was the victim of everything which, on the surface of the world, solicited the body and the soul. And as a result, one was both more innocent and more guilty.«89 Denn einerseits werden die Kranken durch die nervliche Irritation, durch ihre schwache und delikate Konstitution in körperliche und unbewußte Reaktionen, ja bis zur Bewußtlosigkeit getrieben. Andererseits kann die Krankheit in einem viel tieferen Sinne als natürliche Strafe für eine Schuld angesehen werden, gerade weil die Ratio nicht mehr eine unabhängige Instanz ist, deren Irrtum einzusehen und zu korrigieren ist. Wo das Ausmaß des Gefühls die Kapazität der Nervenirritation übersteigt, wird der bloße Irrtum zum moralischen Fehler, kann die private Lebensführung in ihrer Gesamtheit zur Sünde an der Natur werden, die hier als bürgerliche Norm der Natürlichkeit erscheint90 und gleichzeitig als körperliche Natur und als Bereitschaft zu abnormer Reaktion zur Instanz moralischer Strafandrohung wird. In ein derartiges säkularisiert-bürgerliches Schuld-Strafe-Verhältnis, das im Dienst einer sich selbst regulierenden Sozialordnung steht, können alle Bedürfnis-Ansprüche, Leidenschaften und Vorstellungen eintreten, besonders aber jeder Mißbrauch, alles »Unnatürlich«-Extreme: das Leben der Städter, Romanlektüre, Theaterbesuch, Diätfehler, Wissensdurst, sexuelle Leidenschaft und jene Gewohnheit, die ihrer Kriminalität wegen nur in Umschreibungen ausgesprochen wurde: die Onanie. Es versteht sich, daß gegenüber der »moral insanity« bei Arnold, die mit dem Wahnsinn droht, diese Konzeption der Hysterie eine unmittelbarere Wirkung hat, da sie schon bei dem unscheinbarsten Ansatz der Selbstbeobachtung und Selbstverständigung als ein Faszination und Zwang ausstrahlendes Interpretationsschema zur Verfügung steht.

Die Moralisierung der Sensibilität und die »Revolution der Gefühle«, die neue Konzeption der »nervous disorders« und die literarische Romantik sind nicht nur gleichzeitig, sie durchdringen sich nicht nur gegenseitig theoretisch und praktisch, sie entsprechen einander auch in ihren gesellschaftlichen Funktionen. Denn wie die ökonomische Revolution um die Jahrhundertmitte beginnt, so auch die Neuordnung des Bereichs des bürgerlichen Privatlebens – wie die Expansion nach außen, so die nach innen. Der Begriff »capital« gewinnt seinen Kurswert, während Sterne die Attribute »interesting« und »sentimental« in Umlauf setzt.91 Die Literaten verlieren mit der Industrialisierung ihre öffentliche Bedeutung für Politik und Wirtschaft, ihre politischen Mäzene, und wenden sich dem Individuum, seiner Natur und Innerlichkeit, seinem Privatleben und seinem Selbstverständnis zu. Der Bürger als Eigentümer und als Mensch treten auseinander; in beiderlei Gestalt zwar – als Unternehmer und als Genie – freie Individuen, markieren sie zwei dem Anspruch nach sich widersprechende, in Wirklichkeit aber sich kompensierende Welten. Es etabliert sich ein Lesepublikum, eine bisher unbekannte allgemeine »Lesewut«, die über die Leidenschaft zur »nervous disorder« oder zur »Manie« führen mag. Smollet entwickelt die erste »Literaturfabrik«. Etwa 1780 ist die Buchproduktion durch das große Verlagswesen rationalisiert: Der Bedarf ist so groß geworden, daß man das Buch nur noch als Ware kalkulieren kann, die für einen anonymen Markt produziert wird, dessen Bedürfnisse man berücksichtigen muß und durch Konkurrenz erfolgreich befriedigen kann. Eins der Konkurrenzmittel ist die Kultivierung der Originalität; 1759 schrieb der Geistliche E. Young seine Conjectures on Original Composition.

Was aber sind die Bedürfnisse des breiten lesenden Bürgertums? Von der Jahrhundertmitte an wird nicht nur die äußerlich ausgegrenzte Unvernunft sichtbar, sondern wird auch die Unvernunft im Innern des Menschen thematisch. Die Vernunft wird nicht nur medizinisch durch Whytt entthront und als eine Instanz unter anderen in den Kreislauf der psychischen Gesetze einbezogen oder durch Arnold mit dem Kompaß der bürgerlichen Gesetze, der Gewohnheiten und der Religion versehen; sie wird auch den Literaten tief fragwürdig, so dem chronisch melancholischen S. Johnson in Rasselas (1759): »Of the uncertainties of our present state, the most dreadful and alarming is the uncertain continuance of reason. [...] No man will be found in whose mind airy notions do not sometimes tyrannise, and force him to hope or fear beyond the limits of sober probability. All power of fancy over reason is a degree of insanity.«92 Die Kehrseite dieser betrauerten Relativierung ist die große Apologie des Rechts aufs Gefühl, und diese entspricht in der Tat dem Bedürfnis des Bürgers. »Die Romantik ist ihrem Ursprung nach eine englische Bewegung, so wie das moderne Bürgertum selbst, das hier zum erstenmal von der Aristokratie unabhängig zu Wort kommt, ein Ergebnis der englischen Verhältnisse ist. Sowohl die Naturpoesie Thomsons, die Nachtgesänge Youngs und die Ossianischen Klagelieder Macphersons als auch der sentimentale Sittenroman Richardsons, Fieldings und Sternes sind nur die literarische Form des Individualismus, der sich auch im laissez faire und in der Industriellen Revolution ausdrückt.«93

Kann der Bürger es anerkennen, daß der Mensch keineswegs vollkommen rational ist, so wird ihm auch das Sichtbarwerden der ausgegrenzten Unvernunft erträglicher – der Irre erscheint ihm nicht mehr als vollkommen irrational. Im Gegenteil, zwischen der sichtbaren Unvernunft der Irren und seiner eigenen unsichtbaren inneren Unvernunft findet der Bürger Gemeinsames: Gefühlsrausch, namentlich schmerzlicher Art, Leidenschaft, Sensibilität, unwiderstehliche Begierden und überhaupt die menschliche Unzulänglichkeit, das freie Spiel der Einbildungen, Träume und andere Aktivitäten der Nachtseite der Seele. Die Erfahrung dieses Gemeinsamen, für die die »nervous disorders« das Modell einer beliebig skalierbaren, verbindenden Brücke darstellen, wirkt nun nicht mehr so provozierend wie zu Zeiten Swifts, als die Irren noch ausgegrenzt waren. Sie kann vielmehr von vielen Autoren und einem breiten Lesepublikum geteilt bzw. nachvollzogen werden – leidend und genießend. Provozierend kann sie freilich werden, wenn etwa Sternes Tristram Shandy, »der Ritter des Steckenpferdes«, sich die Freiheit des Individuums aus der Welt des Narren borgt, der als Besonderer, als Sonderling die Beschränktheit des Menschen akzeptiert und so den Verzicht auf die rationale »Persönlichkeit« und auf die Erkenntnis des Absoluten ebenso erklärt wie auf das Expertentum der Leistungswelt: »I triumph’d over him as I always do, like a fool.«94

Der Individualismus als Forderung nach freier Entfaltung aller Fähigkeiten ist in der Tat einerseits Protest gegen die aristokratische Welt, und hier sind Literat und Unternehmer Bundesgenossen. Andererseits ist er Protest gegen das, was an ihre Stelle getreten ist, und dort steht der Literat durchaus gegen den Unternehmer, gegen die Nivellierung, Mechanisierung und Entpersönlichung in der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft. In dieser Konstellation wird der Angriff gegen die kalkulierende Rationalität der Ökonomie irrational-emotionaler Emphase vorgetragen, und gegenüber einer die Natur ausbeutenden Gesellschaft gewinnt die eigene Natur moralische Qualitäten. So sind Suggestion und Übertreibung der eigenen Gefühle, die Selbstbespiegelung und das Ernstnehmen jeder Stimmung und Regung nicht mehr nur gegen aristokratische Distanz gerichtet, sondern sie fungieren zugleich als »Entschädigung für die Erfolglosigkeit im praktischen Leben«.95 Unübertrefflich hat S. Richardson diese Bedürfnisse auf eine literarische Formel gebracht und wurde damit einer der erfolgreichsten Schriftsteller überhaupt. Bei ihm wird das Privatleben, das »Herzensproblem« einfacher, aber tugendhafter Bürger zu einem Seelendrama rührseliger Intimität, nervöser Empfindsamkeit und erbaulicher Selbstenthüllung. Hier besteht die äußere Welt nur noch aus Versuchungen, die es nach qualvollem Gewissenskampf durch innere Standhaftigkeit zu überwinden gilt; dann wenden sich auch die äußeren Umstände zum Guten. Pamela (1740), die bedrohte und sich doch rein erhaltende Jungfrau, die zur Belohnung von ihrem Herrn geheiratet wird, ist das Urbild aller späteren Wunschphantasien und moralisierenden Romane, worin Anständigkeit das kleinbürgerliche Mittel zum Zweck wird: die unmoralische Erfolgsmoral der Erfolglosen. Der Held bringt das unerfüllte Leben des Lesers zur Vollendung. Moralische Rechtfertigung der bürgerlichen Sozialordnung als der »natürlichen« und Ideologie für den Lebenskampf finden in dieser Psychologie zusammen. Dabei ist kaum einer dieser Literaten, der nicht zur Erklärung des Leidens seiner Helden wie seines eigenen Lebens das Schema der »nervous diseases« benutzt – die Gesellschaft, die zivilisierte, städtische Welt, ist ein einziges Reizspektrum, dem der empfindsame und damit moralische Bürger in erhöhtem Maße ausgesetzt ist, während derjenige, der davon gar nicht berührt wird, dafür kein »Organ« hat, der nur seinen Geschäften nachgeht, sich eben dadurch als unsensibel, gefühlsstumpf, un-sympathisch96 und also im bürgerlichen Sinne als unmoralisch erweist, als Nicht-bürger. Um so mehr erscheint jetzt der Stumpf- und Blödsinn nicht nur als Folge und irreversibles Endstadium des Irreseins, sondern zugleich als ein moralisches Kausalverhältnis: als schreckliche Strafe für die Schuld, daß man dem genußbereitenden Instrument der Empfindsamkeit nicht moralische Zügel angelegt hat, daß man den Versuchungen des künstlich-städtischen Lebens erlegen ist, die Leidenschaften maßlos werden und die Grenzen der bürgerlichen Norm und des Natürlichen hinter sich ließ. Die Empfindsamkeit, der Vorzug des Bürgers, stellt die moralische Aufgabe, die durch Beschränkung, Verzicht, zu lösen ist, was mit Erfolg belohnt wird. Versagt man, steigert sich die Empfindsamkeit ins Unnatürlich-Maßlose, ist Krankheit eine der möglichen Strafen. Die Übergänge sind fließend: »nervous disorders« – »madness« – »insensibility«/Stumpfsinn. Mit anderen Begriffen werden sie von Arnold dargestellt: »moral insanity« und »medical insanity«. Das Bewußtsein moralischer Schuld und die Vorstellung der seelischen Krankheit als Strafe gehen eine die moralische Ordnung sanktionierende und den Bürger bedrohende Verbindung ein. Es muß in diesem Zusammenhang gesehen werden, wenn Johnson schreibt: »No disease of the imagination [...] is so difficult of cure, as that which is complicated with the dread of guilt.«97 Während die Wirtschaft der Rationalität, der Nützlichkeit und der Selbsterhaltung folgt, entwickelt James Vere, Kaufmann und Governor of Bedlam, 1778 mit Hilfe der »nervous disorders« die kompensierende bürgerliche Moral: Wenn die »moral instincts« ihre Herrschaft über die »lower order of instincts« (d. h. »self-preservation«, »self-love«) verlieren, entsteht »a sort of internal war, which divides the man against himself: and hence a large share of disquiet and restlessness will be the unavoidable consequence«.98

Wie aber siegen die bürgerlichen Romanhelden, ihre romantischen Autoren und wie siegen die Ärzte der »nervous disorders« in diesem innerlichpsychischen und zugleich sozialmoralischen Kampf? Ihnen ist ein Mittel gemein, das an Wirksamkeit und Popularität nicht zu übertreffen ist: die Flucht, der Rückzug aus der Alltagswelt, aus der Unrast der Städte, den Anstrengungen und Mißerfolgen des Berufs und aus den nervenaufreibenden Vergnügungen, kurz: aus der mit Verantwortung, Schuld und Krankheit beladenen Reizüberflutung, der die empfindsame Seele ausgesetzt ist.99 Die Richtung dieser kulturkritischen Flucht liegt fest. Der Bürger kommt zum »Menschlichen« in sich, zu seiner inneren Natur, zur subjektiven Wahrheit über sich auf dem Weg über die Harmonie und Unschuld der unberührten äußeren Natur, und das Resultat entspricht der das Verhalten zur Norm hin temperierenden moralischen »Natürlichkeit«. Was mit Cheyne begann, wurde mit Richardson (dem man z. B. die Symptome einer »Bibliomanie« nachwies) zur Mode, zur physisch-moralisch therapeutischen Institution: das Hirtenleben, die Landpartie, Jagen, Fischen, Reiten, körperliche Gymnastik und der Englische Garten; hinzu kamen Milchkuren und sonstige naturgemäße Diäten. Seit die Nerven vibrierende, gespannte Saiten sind, besitzt auch die Musik die ideale Basis für eine sympathisch-regulierende Heilkraft (während die romantische Literatur im Gegenteil zur Überreizung führt).100 Die reinigende Wirkung des Wassers, seit je mit dem Mythos der inneren Wiedergeburt verbunden, wird institutionalisiert: Bath wird im 18. Jahrhundert zu einem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens.

Sind die bisher erwähnten Phänomene zum Teil bereits mit kleineren Reisen verbunden – eignen sich daher vor allem für den kleinen Spleen des Kleinbürgers –, so wird die Reise überhaupt, die große Reise das repräsentative Mittel gegen den großen Spleen der bessergestellten Bürger. Während man noch 100 Jahre zuvor durchs Reisen krank wurde (Heimwehkrankheit), und während wir bei Sydenham die Reise noch als mechanisch wirkendes Täuschungsmanöver fanden, wird sie um die Jahrhundertmitte zum beherrschenden Topos und zugleich zur Mode. Namentlich die Jugend wurde auf die große Tour nach Frankreich und Italien geschickt: Bildung, Vergnügen und die Kur des Weltschmerzes, der moralischen Skrupel und der unpassenden Absonderlichkeiten vor dem Eintritt in die Leistungswelt sind nicht mehr voneinander zu trennen. Flucht in die Natur und die in die Vergangenheit werden eins. Horace Walpole, Smollett, M. Green, Boswell, Beckford, Goldsmith und Sterne absolvieren das, was letzterer mit der Sentimental Journey (1768) zu epochaler Repräsentanz erhoben hat.101

Es versteht sich, daß die Armen an diesen Kulturprodukten nicht teilhaben, weder an den sublimeren Formen der »nervous disorders« noch an den kostspieligen und das »Menschliche« befreienden Mitteln ihrer Heilung. Ihnen bleiben – wenn überhaupt – die traditionellen entleerenden Medikamente und ähnliche Gewaltmaßnahmen, wobei freilich Wesleys Entdeckung des billigsten Heilmittels, der elektrischen Maschine, und ihre Anwendung auf die Armen einen integrierenden Fortschritt bezeichneten, der die Armen mit manchen besseren Bürgern auf eine Stufe stellte. Daß hiermit auch ein ärztliches Mittel der Integration der Leistungswelt geschaffen war, zeigt die Geschichte vom Heilungserfolg des Dr. W. St. Clare. Im Februar 1787 brach in einer Baumwollfabrik unter den weiblichen Arbeitern eine hysterische Epidemie mit Krämpfen und Angstanfällen aus. Sie griff sogar auf ein entferntes anderes Werk – sympathisch-infektiös – über. Die Fabrik (2–300 Arbeiter) mußte stillgelegt werden. Der herbeigerufene Arzt konnte jedoch mit seiner »portable electrical machine [...] by electric shocks« in kurzer Zeit alle Erkrankten heilen und so die Fabrik wieder in Gang bringen.102

Nicht weniger als die Romantik beeinflußt die schottische Moralphilosophie die Entstehung einer Medizin des menschlichen Geistes, der Psychiatrie. Das gilt für die theoretische Rechtfertigung der Besonderheit eines solchen wissenschaftlichen Bereichs ebenso wie für die Entwicklung einer pragmatisch-menschenfreundlichen Haltung der Ärzte dem Gegenstand ihrer Wissenschaft, den Irren, gegenüber und nicht minder für die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Psychiatrie. Wie der Romantik, so ist auch der schottischen Philosophie ein doppelter Protest immanent. Sie ist skeptisch gegenüber der Metaphysik, aber auch gegenüber dem Sensualismus. Sie wendet sich gegen die Absolutheit äußerer Autorität und will sie doch – nach dem Kriterium der Nützlichkeit – erhalten wissen. Das heißt, sie vertraut nicht einer sich aus den Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft von selbst ergebenden Autorität, sondern hält an der Tradition als Basis einer kontinuierlichen Entwicklung, eines naturwüchsigen Fortschritts fest. »Ihre Kritik hält sich im Einklang mit dem Konservatismus der Naturgeschichte selbst.«103 Mit der Überlegenheit des Herzens über den Kopf, der Bestimmung der sozialen Tugend der »sympathy«, knüpfen die Schotten an Shaftesbury an, ebenso mit dem »common sense«, der ursprüngliche und natürliche Urteile und damit gesellschaftliches Dasein ermöglicht: »They serve to direct us in the common affairs of life, where our reasoning faculty would leave us in the dark.«104 Freilich subjektivieren sie den »common sense«; er hat nicht mehr den medizinisch im Organismus bestimmbaren Ort wie bei Willis, bleibt nur per analogiam auf die Natur bezogen. Relativ abgelöst von ihr konstituiert »common sense« einen Bereich subjektiver Evidenz. Die schottische Philosophie »setzte an die Stelle von Erkenntnis im eigentlichen Sinne ein pragmatisch bestimmtes Vertrauen auf die Gültigkeit des ›gesunden Menschenverstandes‹ und darauf, daß die Wahrheit immer in der Mitte liege. [...] Der common sense war gewissermaßen ein statistisches Mittleres aller in der Welt vorkommenden Überzeugungen«.105 Es wird hier der Versuch unternommen, unmittelbar zu Aussagen über psychische und soziale Gegebenheiten zu gelangen, nur noch indirekt bezogen auf Kopf und Körper, auf rationale Erkenntis und Natur.

So finden wir schon Hutcheson um denselben Nachweis bemüht, den auch Battie, Arnold und Whytt anstrebten: daß es im menschlichen Subjekt einen Bereich gibt, in dem rational Durchschaubares und moralisch Beurteilbares eigenständig wird und gleichsam mit der Macht einer zweiten Natur agiert, gegen die der rationale Korrekturversuch ohnmächtig ist, ja nur noch der Rationalisierung dient: »... and commonly beget some secret Opinions to justify the Passions«.106 Dies ist für Th. Reid bereits so selbstverständlich, daß er für sein Vorhaben – »anatomy of the mind«, »analysis of the human faculties« – nur die Introspektion in den eigenen Geist zuläßt. Aber auch diese komme, als Reflexion, immer zu spät, um den Berg der anerzogenen Vorurteile bis auf die »simple and original principles of the Constitution« abzutragen.107 Von hier aus zeichnen sich Wege ab, diese Art Psychologie für die Medizin nutzbar zu machen. Für J. Gregory, Professor der Philosophie und dann der Medizin in Aberdeen, ist das möglich über eine »comparative Animal Oeconomy of Mankind and other Animals«; denn in Übereinstimmung mit Whytt ist der Instinkt, im Gegensatz zur Vernunft, ein untrügliches Prinzip für den Menschen und eine sichere Basis für sein psychologisches Verständnis. Die guten, natürlichen Instinkte der Tiere und der Wilden sind für Gregory das Kriterium dafür, daß diese auch beim Menschen zu trennen sind vom »depraved and unnatural State, into which mankind are plunged«. Man sieht: nicht nur von Richardson, auch aus Schottland führen Wege zur Zivilisationskritik Rousseaus. Durch praktische Anwendung solcher »vergleichenden Beobachtung« wird namentlich die Psychiatrie zu einer »progressive art«, da »intimate knowledge of the Human Heart« und »employing one Passion against another« nur durchs Leben selbst, aber niemals durch ein Buch zu lehren ist.108 In der Tat zeigt gerade die Funktionalisierung der Hysterie, daß die Psychiatrie von Anfang an auch in jener Bewegung steht, die den Ursprung des Übels in dem sieht, was durch die Zivilisation und: die bürgerliche Gesellschaft der Natur künstlich hinzu- und zugefügt wird, und die umgekehrt den Anspruch abgibt, nicht durch exakte Wissenschaft, sondern durch Wissenschaft als Kunst diese Mißstände wieder an eine heile Natur anzunähern, die sich indessen zumeist unter der Hand in den Normbereich des »common sense« als bürgerlich-moralischer Natürlichkeit verwandelt. Wichtigste Erkenntnis des schottischen Philosophierens für die Psychiatrie: die (psychischen) Gesetze des Herzens und seiner Störungen bilden eine eigene Realität, die aber ebenso real ist wie die der körperlichen Natur: »Although the fears of these patients are generally groundless, yet their sufferings are real. [...] Disorders in the imagination may be as properly the object of a physician’s attention as a disorder of the body.« Auch Gregory sieht, daß mit den »armen Irren« und den bürgerlichen »nervous disorders« die psychische Medizin von ihrer Entstehung an in der Praxis zwei sozio-ökonomische Gruppen unterscheidet: »It is not unusual to find physicians treating these complaints with the most barbarous neglect, or mortifying ridicule, when the patients can ill afford to fee them ; while at the same time, among patients of higher rank, they foster them with the utmost care and apparent sympathy: there being no diseases, in the stile of the trade, so lucrative as these of the nervous kind.«109

Bürger und Irre

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