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Vorwort zur zweiten Auflage

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1962 fing ich in Berlin an mit den Vorarbeiten zu »Bürger und Irre«. 1967 begann ich mit der Niederschrift des Buches am Vormittag des Tages, an dem Benno Ohnesorg während der Anti-Schah-Demonstration erschossen wurde. In der Folge war ich während des Schreibens aktiv an der antiautoritären Studentenbewegung beteiligt. Die Ereignisse dieser Zeit haben mich beim Schreiben beeinflußt. Als das Buch 1969 erschien, war es nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich ein Produkt dieser Bewegung.

Inzwischen gibt es das Buch in einer italienischen, spanischen und englischen Übersetzung. Es scheint wahrhaft von interdisziplinärem Interesse zu sein; denn es hat mich in Diskussionen verwickelt, nicht nur mit Medizinern und Soziologen, sondern auch mit Psychologen, Pädagogen, Romanisten, Anglisten, Germanisten, Ökonomen, Politikern und Historikern. Schließlich war diese Arbeit über die Entstehung der Psychiatrie hilfreich bei der Entstehung der Psychiatrie-Bewegung in der Bundesrepublik und in Italien.

Gleichwohl ging ich mit einigem Bangen an die Überarbeitung, als mir der Verlag die Absicht mitteilte, eine Neuauflage herauszugeben. Die Studentenbewegung liegt 13 Jahre zurück. Fast ebenso alt ist inzwischen die Psychiatrie-Bewegung. Neue psychiatrie-historische Arbeiten sind inzwischen erschienen. Und ich selbst habe inzwischen ohne Unterbrechung in der Psychiatrie praktisch gearbeitet, habe mich dadurch auch selbst geändert und bin ein Teil des psychiatrischen Versorgungssystems und der Wissenschaft Psychiatrie geworden, die ich damals, nicht gerade zimperlich, vom hohen Roß der Theorie herab beschrieben und beurteilt habe.

Nach Abschluß der Überarbeitung nehme ich es mir heraus, einigermaßen selbstzufrieden zu sein. Zwar mußte die Einleitung über weite Strecken neu geschrieben werden, um die nicht nur theoretische, sondern auch praktische Absicht der Arbeit verständlicher zu formulieren. Mein gestelztes Akademikerdeutsch, das ich mir im Studium mühsam angequält hatte, habe ich an vielen Stellen mit ebensoviel Mühe wieder aufs Alltagsdeutsch heruntergeschraubt. Gedanken neuerer Untersuchungen waren einzuarbeiten. Zahlreiche Streichungen und Ergänzungen waren fällig, da ich mit vielen Einzelheiten nicht mehr einverstanden sein konnte. Das betrifft inhaltlich vor allem drei Fragen, die mir heute aus meiner Praxis heraus wichtiger sind als damals: Erstens die Frage, ob und in welcher Weise Psychiatrie mehr eine medizinische oder eine philosophische Wissenschaft ist, ein Problem, das bei jeder Teamarbeit mit Angehörigen anderer Berufe unabweisbar ist. Zweitens die Frage nach der anthropologischen Orientierung der Psychiatrie, da ich ohne eine solche viele meiner psychiatrischen Alltagshandlungen weder begründen noch rechtfertigen kann. Und drittens die Frage, in welcher Weise ich die Psychiatrie der Zeit des Dritten Reiches als einen Teil meiner Berufsgeschichte insgesamt annehmen kann, eine Frage, die damit verknüpft ist, daß in der Psychiatriegeschichte unterschiedliche Traditionen sich verweben, die den Anderen, den psychisch Kranken, als Feind, als Freund oder als Gegner sehen.

Systematisch unzufrieden war ich mit meiner arroganten Bewertung der daseinsanalytischen und anthropologischen Psychiatrie der Nachkriegszeit. Hier hatte ich damals offenbar zu wenig Abstand, um die Notwendigkeit ihrer Beerbung wahrnehmen zu können. Ich habe im Anhang darüber berichtet und im Text entsprechende Korrekturen angebracht. Im Anhang habe ich auch den Fortgang der Psychiatriegeschichtsschreibung dargestellt. Besonders zufrieden macht mich, daß es mir offenbar damals schon gelungen ist, Aufklärung und Romantik aus einem gegensätzlichen in ein inhaltlich dialektisches Verhältnis zu setzen; denn unzweifelhaft stehen wir in beiden Traditionen, und beide sind gleich wichtig für uns. Diese – wie ich meine – angemessenere Sicht der Romantik war damals noch ungewohnt, beherrscht jedoch heute zu Recht die Diskussion.

Aus diesem und anderen Beispielen habe ich für mich den Schluß gezogen, daß »Bürger und Irre« von seiner Aktualität nichts verloren hat. Die Tatsache, daß es inzwischen zahlreiche Einzeluntersuchungen gibt, die auf meinem Weg weitergehen, bestärkt mich darin.

Solange psychisch Kranke bestenfalls nur den halben Pflegesatz im Vergleich zu körperlich Kranken zugesprochen bekommen, dauert die ungleiche Auseinandersetzung zwischen »Bürgern« und »armen Irren« an.

Bürger und Irre

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