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II. Großbritannien 1. Ausgrenzung der Unvernunft und Öffentlichkeit a) Begriffe der politischen Öffentlichkeit
ОглавлениеEs war bereits die Rede davon, daß die soziale Bewegung der Ausgrenzung der Unvernunft zwar auch für England gilt, hier sogar besonders früh nachweisbar ist, sich aber nicht in dem Maße durchsetzte, wie es in Frankreich und Deutschland der Fall war. Bereits das erste Drittel des 18. Jahrhunderts zieht jenes soziale Institut der geometrischen Raumverteilung zwischen Vernunft und Unvernunft in eine Diskussion, die seine Auflösung vorbereitet. Es erfolgte in England schon frühzeitig eine Differenzierung, die weniger nach der moralischen und erziehenden Absicht solcher Einrichtungen fragte als vielmehr nach ihrem unmittelbaren Nutzen für die Gesellschaft und für die Internierten selbst, die gerade dadurch in ihrer Unterschiedlichkeit sichtbar werden konnten. So richteten die Manufakturen Proteste gegen die billige Konkurrenz der »workhouses«, und Daniel Defoe kritisierte, daß durch Erziehung der Zöglinge zur Arbeit die Arbeitslosigkeit und Armut nur in andere Gegenden verschoben werde. Freilich war auch in England die Wirtschaft noch keineswegs soweit entwickelt, daß sie die Massen der bettelnden oder vagabundierenden Armen hätte aufnehmen können. Andererseits nahm die Zahl der Unternehmer nicht nur für »workhouses«, sondern auch für die schon damals davon unterschiedenen privaten Irrenhäuser (»lunatic asylums«) ständig zu. Diese nahmen zwar vornehmlich begüterte Irren auf, doch wurden auch Verträge mit den entsprechenden Gemeinden zur Kostenbeteiligung für die Übernahme von »armen Irren«1 geschlossen. Diese »pauper lunatics« sind erstmals 1714 Gegenstand eines Act of Parliament »for the more effectual punishing such rogues, vagabonds, sturdy beggars, and vagrant«; es wird hier nicht nur ihre Internierung, sofern sie gefährlich, »furiously mad« sind, gefordert, sondern die Irren werden hier überhaupt zum ersten Mal getrennt von den übrigen Adressaten solcher Gesetze definiert, und zwar sogleich als »arme Irre«. Ihre Sonderstellung wird dadurch unterstrichen, daß sie als einzige vom Auspeitschen (»whipping«) ausgenommen werden.2 Selbst das Bedlam, die größte Internierungseinrichtung Londons, differenziert seine Insassen und hat, trotz der mit ihm verbundenen Schauergeschichten, viel stärker Krankenhauscharakter als das ihm sonst vergleichbare Hôpital général von Paris. Doch gab es freilich im Bedlam noch Schaustellungen der Irren, als dies im Frankreich nach der Revolution schon undenkbar geworden war. Gerade insofern war das Bedlam seit seinem monumentalen Neubau (1676) ständiger Gegenstand der öffentlichen Diskussion und wurde immer wieder zum kritischen Ansatzpunkt sozialer Reformversuche.
Woher kommen nun diese Elemente des Differenzierens und Diskutierens, der Nützlichkeitserwägungen und der Kritik nährenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einer Gesellschaft, in der die Bewegung der Ausgrenzung der Unvernunft kaum erst in Gang gekommen war? Wir finden sie keineswegs im Frankreich dieser Zeit, von Deutschland zu schweigen. Diese Sichtweisen, die auch für die ärztliche Tätigkeit des Jahrhundertbeginns konstitutiv sind, sind nur durch ihre Lokalisierung in einem größeren historischen Rahmen zu erklären. Koselleck hat den Beginn des klassischen absolutistischen Staates auf dem Kontinent als das Ergebnis der religiösen Bürgerkriege, sein Ende mit dem anderen Bürgerkrieg, der Französischen Revolution, bestimmt. Demgegenüber bringt er »die Sonderstellung Englands« auf die bündige Formel, »daß auf der Insel beide Geschehnisse gleichsam zusammenfallen. Hier wurde der entstehende absolutistische Staat bereits im religiösen Bürgerkrieg zugrunde gerichtet, die Glaubenskämpfe bedeuteten schon die bürgerliche Revolution«.3
Diese These erweist erst dann ihre Fruchtbarkeit, wenn sie auch das hartnäckige Nebeneinander alter und neuer Strukturen, aber in einem neuen, nachrevolutionären »Milieu« erklärt, das die Auseinandersetzung zwischen ihnen institutionalisiert. So ist die Herrschaft des Adels nach der Revolution in England nicht schlechthin am Ende; vielmehr paßt er sich – besteuert und ohnehin mehr vom Grundbesitz als vom Blut abhängig – den neuen Formen der Machtverteilung (Partei und Parlament) an, beteiligt sich am Handelsgeschäft und vermittelt sich mit dem Bürger auch in der Literatur, wie Hauser das am Stil und Lesepublikum des Tatler Steeles (1709) bezw. des Spectator Addisons (1711) nachweist.4 Auch die alten Glaubenskämpfe finden ihre modifizierte Fortsetzung in neuen Konflikten zwischen Konfessionen und Sekten. Der aristokratisch-großbürgerliche skeptische Intellektualismus entwickelt sich ebenso weiter, wie er bald seinen Widerpart im mittel- und kleinbürgerlichen Gefühlsüberschwang findet.
Nicht anders ergeht es den Institutionen der Ausgrenzung der Unvernunft. Wir mußten sie verstehen als absolutistisches Erziehungs- und Zwangsinstrument, adressiert an ein Publikum, das als Objekt dieses belehrenden Aufklärungsprozesses angesehen wurde. Zwar setzt sich auch diese Struktur durch das ganze 18. Jahrhundert fort. Es etabliert sich aber ihr gegenüber ein anderes Publikum, das sich als Subjekt versteht und das diese wie alle anderen vorgegebenen Strukturen diskutiert, differenziert, sie auf ihren Nutzen für das Individuum wie für die Nation befragt und entsprechend zu verändern sucht. Dieses nunmehr selbst räsonnierende Publikum wird jenes Belehrungsinstrument in dem Maß abbauen, wie es sich einerseits selbst für belehrt hält, seine Lehren – die Pflicht zur Arbeit und zur bürgerlichen Moral – verinnerlicht, und wie es andererseits zu der Überzeugung kommt, daß die ausgegrenzte Unvernunft nach verschiedenen Richtungen hin einer angemesseneren und nützlicheren Vernunft »zugeführt« werden könnte.
Die Einheit eines Publikums als Subjekt und eines »Milieus«, in dem dieses Subjekt sein Selbst gegenüber dem anderer der Diskussion aussetzt, konstituiert das, was Habermas als »politische Öffentlichkeit« in dieser Zeit entstehen sieht. Er stellt die Frage Kosellecks konkreter und sucht »zu klären, warum in England soviel früher als in anderen Ländern, Konflikte heranreifen, die derart unter Anteilnahme des Publikums ausgetragen werden. Als anrufbare Instanz besteht eine literarische Öffentlichkeit auch auf dem Kontinent. Dort wird sie indessen politisch erst wirksam, als unter der Obhut des Merkantilismus die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise soweit fortgeschritten ist wie in England schon nach der Glorreichen Revolution.«5 An den Beginn dieser Entwicklung, deren Basis durch einen neuen Interessengegensatz zwischen restriktivem Handels- und expansivem Manufakturkapital bestimmt wird, stellt Habermas drei Ereignisse aus den Jahren 1694/95: die Gründung der Bank von England, wodurch England zugunsten der Entfaltung neuartiger Produktionsweisen zum Weltfinanzzentrum wird; die erste Kabinettsregierung als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Parlamentarisierung der Staatsgewalt; und den Licensing Act, wodurch die Vorzensur aufgehoben ist und wodurch vor allem sich eine noch eher schöngeistig-aristokratische literarische Öffentlichkeit in eine politische verwandelt, in der durch eine uneinheitliche Presse politische Entscheidungen vor das Forum eines breiten räsonnierenden Publikums gebracht werden.6 Kaffee- und Teehäuser, Klubs und Straße werden ebenso zu Institutionen dieses neuen »public spirit« wie die zum Teil von den Parteien bzw. der jeweiligen Regierung bezahlten politischen Zeitschriften und Journalisten, so Defoe, Swift, Pope, Bolingbroke und Gay. Das Institut der öffentlichen Opposition gegen eine Regierung als räsonnierende »Dauerkontroverse« an Stelle der Gewaltanwendung früherer Jahrhunderte wurde von Tories (Bolingbroke, Swift, Pope, Gay) gegen Walpoles Regierung der Whigs (1721–42) zum ersten Mal praktiziert. Seit der kritischen und satirischen Kommentierung, mit der diese Journalisten den Zusammenbruch der Südseekompanie aufgrund von Aktienspekulationen (1720) der Öffentlichkeit darboten, gelang es der Opposition mehrfach, durch Hinweis auf die moralische Macht des »sens of the people«, »public spirit«, »common voice« oder »common sense« die offiziellen Wahlresultate zu überspielen und die parlamentarische Whig-Mehrheit zum Nachgeben zu bewegen.7 Der Whig Defoe und der Tory Swift wurden die repräsentativen Pole der großen öffentlichen Diskussion, die Tagespolitik und Philosophie umspannte: dem vernunft-optimistischen Robinson Crusoe (1719), der durch Aneignung der Natur aus nichts alles macht, steht die pessimistische Welt des Gulliver (1726), die sarkastisch die Kehrseite der Aufklärung zeigt, gegenüber.
In Bolingbrokes Wort: »if all men cannot reason, all men can feel«, mit dem er die Untrüglichkeit der Volksmeinung, die Zuverlässigkeit des »common sense« begründet, steckt jenes Moment der Unmittelbarkeit, dem schon Locke vertraute, als er der Meinung der Privatleute als »Law of Opinion« gleichen Rang mit dem göttlichen und dem staatlichen Gesetz zugestand; sie kommt »by a secret and tacit consent« zustande, und insofern sie »measure of virtue and vice« ist, bezeichnet Locke sie sogar als »Law of Private Censure«.8 Es ist dies dasselbe Selbsbewußtsein und Vertrauen, mit dem Locke die Eigentumsordnung der bürgerlichen Gesellschaft, das Aneignungsrecht des tätigen Individuums an den Produkten der Natur, einerseits »zur Naturbasis der vertraglich begründeten Staatsgewalt«9 macht, andererseits mit dieser Verfügung über privates Eigentum die Autonomie des Menschen als Menschen fundiert, die »sich in der Sphäre der bürgerlichen Familie als solche darstellen, in Liebe, Freiheit und Bildung, mit einem Wort: als Humanität sich innerlich verwirklichen möchte.«10 Die hier unterstellte Identität des Publikums der »Eigentümer« mit dem der »Menschen« konnte sich bewähren im Kampf gegen absolutistische Ansprüche des Staates. Sie mußte sich freilich als fiktiv erweisen, als die »natürliche Ordnung« in Kategorien der Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft selbst begriffen werden konnte.11
So sind von Locke divergierende Entwicklungen beeinflußt worden. Mandeville auf der einen Seite machte das Naturrecht der Aneignung zur Selbsterhaltung in seiner Bienenfabel (1714) zum Motor des Gemeinwesens: »private vices made public benefits«.12 Auf der anderen Seite knüpft Shaftesbury an jenes unmittelbar-menschliche Element und an die reflektierend auf Innerlichkeit gerichtete Bildungstätigkeit der Subjektivität an. Shaftesbury betont am »common sense« den »tacit consent«, die »humanity«, »oblingingness« und die Wahrnehmung der Beziehungen zwischen den Dingen, die der diskursive Verstand getrennt hat, durch »sympathy«: »Es ist also nicht so sehr eine naturrechtliche, allen Menschen verliehene Ausstattung, als eine soziale Tugend, eine Tugend des Herzens mehr als des Kopfes, die Shaftesbury meint«13 und die die schottische Philosophie als »moral sense« bestimmen wird. Diese soziale Dimension idealistisch überhöhend, beginnt Meinecke mit Shaftesbury seine Entstehung des Historismus, sieht hier »eine erste Anerkennung des Individualitätsprinzips«, gemäß dem alle besonderen Formen ihre »eigenartige Selbsttätigkeit«, ihren »innewohnenden Genius« haben. So konnte Shaftesbury rationale Gegenstände in einem inneren harmonischen Zusammenhang, in ihrer »inward constitution«, sehen, Lust und Schmerz, selbstische und gesellige Neigungen, das Zuwidersein und die Schönheit wilder Tiere; ähnlich faszinierte ihn die Nähe zwischen dem Befreier und dem Unterdrücker bzw. zwischen dem Narren und dem echten Propheten, da beide sich aus Enthusiasmus speisen, äußerlich nicht zu unterscheiden sind und die Grenze zwischen gesundem und hybridem Zustand nur schwer zu bestimmen ist.14
Daß das Irresein in dieser Zeit als ein im weitesten Sinne politisches Thema gesehen werden muß, zeigt sich darin, daß auch seine medizinische Sicht engstens mit den Begriffen der sich entfaltenden bürgerlichen Öffentlichkeit verflochten ist. »Madness« und »english malady« waren bevorzugte Themen in den Kaffeehäusern. Locke und Mandeville waren selbst Ärzte und beschäftigten sich mit den Irren ebenso wie die Naturwissenschaftler Boyle und Hooke und die politischen Literaten Defoe und Swift. Neben dem Interesse für die inhaltliche Problematik ist eine Voraussetzung hierfür die Nähe zwischen den politischen und den naturwissenschaftlich-medizinischen Vorstellungen und ihre nachgerade materiell-körperliche Bezogenheit aufeinander, die der Analogie noch nicht bedarf. Namentlich Begriffe aus den Gründungsjähren der Royal Society of London wirken in jener Zeit noch in einer zugleich körperlichen und sozial-moralischen Substantialität, die im folgenden Jahrhundert in ihren verschiedenen subjektiven, objektiv-neutralisierenden und metaphysischen Ausformungen zur größten Verwirrung führen, ehe sie sich in der Arbeitsteilung des modernen Wissenschaftsbetriebs scheinbar beruhigen werden. So hängt die Möglichkeit, den doch unsichtbaren »public spirit« als eine politisch reale – empfindende und bewegende – Kraft zu konzipieren, durchaus mit der medizinischen Spirit-Lehre zusammen, und zwar besonders so, wie sie Thomas Willis (1667) zur ersten zusammenhängenden Neurologie auf anatomischer Grundlage ausformulierte. Für ihn werden die »spiritus animales« innerhalb der Organe vom äußeren Gegenstand erschüttert, nach innen getrieben und schaffen so die Empfindung. Schaltstelle dieser in den Nerven wellenartig vor- und rückwärtsgehenden und zugleich mechanisch angestoßenen Bewegungen ist – und hier liegt das Fundament des anderen Zentralbegriffs der bürgerlichen Öffentlichkeit – der »sensus communis«, der Gemeinsinn in der Hirnmitte. Dieser bewirkt nicht nur die Wahrnehmung des empfundenen Dinges; er vermittelt auch den Weg zu Einbildung, Phantasie und Gedächtnis. Weiter werden die »Nervenspirits« reflexiv vom Gemeinsinn von innen wieder nach außen getrieben. Er erweckt also Begehren bzw. eine entsprechende motorische Bewegung sowie bei häufiger Wiederholung ein sich automatisch vollziehendes Kausalverhältnis von Empfindung und Bewegung, d. h. Gewohnheiten.
Willis ist aber nicht nur »the first inventor of the nervous system«, er gibt auch die neurologisch beschriebene Tätigkeit der Nervenspirits wieder als begeistet von der »Corporeal (vital and sensitive) Soul«, ebenfalls als feine und aktive Materie der Hirnmitte und überdeckt von der rationalen Seele vorgestellt; in dieser Hinsicht bringt er die Nervenvorgänge unter den von ihm in die Medizin eingeführten Titel der »Psycheology«.
Dieses neurologisch-psychologische System Willis’ verdrängte die humoral-chemischen Erklärungen der Tradition und prägte das 18. Jahrhundert. Krankheiten ergeben sich aus mechanischen Erschütterungen durch äußere Objekte. Die Formen des Irreseins entstehen, wenn keine materielle Schädigung sichtbar ist, da hier lediglich die nur an ihren Wirkungen erkennbaren Nervenspirits lädiert sind. Damit ist jener Bereich geschaffen, der auch nach Ende der in substantiellen Leib-Seele-Beziehungen denkenden Ära nahezu beliebige psychische, moralische, soziale und politische Phänomene »krank« oder »abnorm« zu nennen erlaubte – gerade wegen der Unsichtbarkeit der gleichwohl postulierten (oder bestrittenen) materiellen Läsion. Das Moment der Macht des Unsichtbaren, das der Lehre von den »spirits« und vom »common sense« eigen ist, gestattete Differenzierung durch Räsonnement für den Arzt wie für den Politiker: ob etwas Strittiges gesund oder krank, günstig oder gefährlich, der bürgerlichen Gesellschaft zugehörig oder von ihr ausgegrenzt sein soll.