Читать книгу Die Utopie des Sozialismus - Klaus Dörre - Страница 11
Die These
ОглавлениеBeginnen wir unsere Entdeckungsreise in Sachen Sozialismus deshalb im späten 19. Jahrhundert. 1880 erschien, zunächst in französischer Sprache, eine Broschüre mit dem anspruchsvollen Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.1 Als Grundlage dienten drei Kapitel aus dem sogenannten Anti-Dühring2 – einer von Friedrich Engels verfassten Streitschrift, die sich gegen den Privatgelehrten und Verfechter eines antimarxistischen »Sozialismus des arischen Volkes«, Herrn Eugen Dühring, richtete. Die Intervention überlebte den Gegenstand ihrer Kritik und trug erheblich zur Popularisierung von Marx’ Theorie bei. Heute gilt das Bemühen, die von Hegel entliehene Dialektik nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf Mathematik und Naturwissenschaften zu übertragen, vielen als besonders dogmatischer Versuch, die Welt nach abstrakten Bewegungsgesetzen modellieren zu wollen. Sozialismus, so ein verbreiteter Vorwurf, werde zum Resultat eines vorprogrammierten geschichtlichen Verlaufs erklärt, den zu vollenden ausschließlich das revolutionäre Proletariat berufen sei.
Ohne Zweifel finden sich in Engels Schrift Formulierungen, die als Belege für ein teleologisches Geschichtsverständnis interpretiert werden können. Es sind aber auch völlig andere Lesarten jener Artikelserie möglich, die in der zitierten Broschüre als zusammenhängendes Ganzes präsentiert wird. Schon die ersten Zeilen stellen klar, dass der moderne Sozialismus »seinem Inhalt nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie« ist.3 Die enge Koppelung von gesellschaftlichen Widersprüchen und sozialistischer Vision dient der Abgrenzung von einem utopischen Denken, dessen Anhänger den Sozialismus als »Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit« betrachten. Diese Wahrheit, so Engels süffisant, brauche »nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern«. Sie sei »unabhängig von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung«; »bloßer Zufall« entscheide, wann und wo sie entstehe.4 Ewige Wahrheiten, die noch dazu bei »jedem Schulstifter verschieden«5 ausfallen, konfrontiert Engels deshalb mit einem wissenschaftlichen Anspruch, der den Sozialismus aus realen Bewegungen der Gesellschaft heraus zu begreifen beabsichtigt. 6
So verstanden, ist Sozialismus eben kein unabänderliches Endziel, das im Gang der Geschichte bereits angelegt wäre. Weder handelt es sich um ein geschlossenes, unabänderliches Theoriegebäude noch um ein starres Gesellschaftsmodell. Was Sozialismus sein kann oder sein soll, ändert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Formation und den Gegenbewegungen, die sie hervorbringt. Das ist der Grund, weshalb Engels sich, auch hierin seinem kongenialen Partner Marx eng verbunden, bei der genauen Beschreibung sozialistischer Gesellschaften zurückhält. Weil der Kapitalismus »nichts« ist, wenn er nicht in Bewegung ist7, wäre auch der Sozialismus missverstanden, würde er als fertiges Rezept begriffen, das soziale Bewegungen nur noch zuzubereiten hätten. Eher trifft das Gegenteil zu. So wie die Gesellschaft stetem Wandel unterliegt, muss sich auch die Rezeptur, müssen sich Ziele, Organisationsformen und Wege des Sozialismus verändern, um systemische Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen erfolgreich zu überwinden.
Deshalb kann es, wie Engels immerhin andeutet, nicht bei dem einen Sozialismus bleiben. Sofern es wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, muss, das sei hinzugefügt, auch das S-Wort zwingend im Plural buchstabiert werden. Den Variationen des Kapitalismus entsprechen diverse Sozialismen. Das galt bereits für das Industriezeitalter und gilt für sozialistische Visionen am Beginn des 21. Jahrhunderts in besonderer Weise. Die Erstarrung und mitunter auch Pervertierung marxistischer Sozialismusvorstellungen in repressiven staatsbürokratischen Systemen hat, ebenso wie der Zusammenbruch dieser Herrschaftsvarianten und der Verschleiß konkurrierender sozialdemokratischer Konzeptionen, dazu geführt, dass Sozialismus heute wieder zur Utopie werden muss, um politisch wirken zu können.
Gänzlich falsch wäre es indes, das als bloßen Rückschritt deuten zu wollen.8 Die Sozialismen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren Kinder der ersten industriellen Revolution. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts werden ebenfalls Kinder einer Produktivkräfte-Revolution sein, die sich nun aber unter völlig anderen Vorzeichen vollzieht als ihre historischen Vorläufer. Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen, so die hier vertretene These, ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen. Sie entstehen zumindest in den frühindustrialisierten Ländern, künftig mehr und mehr aber auch in großen und kleinen Schwellenländern, aus der Kritik an wirtschaftlich-technischer Überproduktivität. Zwar rebellieren auch sie gegen die Herrschaft des Kapitals, doch das nicht allein wegen der Ausbeutung von Lohnarbeit. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts präsentieren sich als Alternative zu einem »Imperialismus gegen die Natur«9, wie ihn Karl Marx in seinen mittlerweile veröffentlichten Exzerptheften brandmarkte. Sie attackieren die Ökonomie der billigen Güter10 und mit ihr die Abwertung reproduktiver Tätigkeiten, und sie beanspruchen, gleichgewichtig mit der Beseitigung von Klassenherrschaft, eine Überwindung aller patriarchalisch, rassistisch oder nationalistisch legitimierten Herrschaftsmechanismen anzustreben. Aus der Perspektive gesellschaftlicher Naturverhältnisse beinhalten sie vor allem die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation berührt.11