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Der weberianische Marxismus

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An dieser Stelle sollen historische Kontroversen über Kapitalismus und Sozialismus nicht erneut ausgetragen werden. Im Rückblick wird aber überdeutlich, dass es hochgradig problematisch ist, besondere Strukturmerkmale, die kapitalistische Gesellschaften für eine bestimmte Periode auszeichnen, zu überhöhen, um sie sodann zu allgemeinen Voraussetzungen für sozialistische Gesellschaften und entsprechende Transformationsstrategien zu erklären. Gleich ob reformistisch oder revolutionär, es genügt eben nicht, die Kommandohöhen der Wirtschaft und des Staates zu übernehmen, um von dort aus die Gesellschaft umzugestalten. Strategisches sozialistisches Handeln, das so verfährt, unterschätzt die Komplexität moderner kapitalistischer Gesellschaften. Dieses Problem spricht ein »weberianischer« Marxismus an, der sich in seinen Ursprüngen mit den Namen Georg Lukács und Antonio Gramsci verbindet.24

Lukács hat als einer der ersten Marxisten hellsichtig die Ausdifferenzierung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften analysiert. In Anlehnung an Max Weber begreift er die Durchrationalisierung aller gesellschaftlichen Sphären als fortschreitende Verdinglichung. Damit ist gemeint, dass mit der Ausbreitung der kapitalistischen Warenform »dem Menschen seine eigene Tätigkeit, seine eigene Arbeit als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt wird«, und »dies sowohl in objektiver wie in subjektiver Hinsicht«.25 Strukturell zerfällt die Gesellschaft in Teilsysteme, deren Zusammenwirken subjektiv nicht mehr nachvollzogen werden kann:

Das Aufeinanderbezogensein der Teilsysteme ist auch bei normalstem Funktionieren etwas Zufälliges. Die wahre Struktur der Gesellschaft erscheint vielmehr in den unabhängigen, rationalisierten, formellen Teilgesetzlichkeiten, die miteinander nur formell notwendig zusammenhängen. […] Denn es ist ja klar, daß der ganze Aufbau der kapitalistischen Produktion auf dieser Wechselwirkung von streng gesetzlicher Notwendigkeit in allen Einzelerscheinungen und von relativer Irrationalität des Gesamtprozesses beruht.26

Antonio Gramsci antwortet mit seiner Hegemonietheorie auf das aus sozialer Differenzierung und Komplexitätssteigerung resultierende Strategieproblem sozialistischer Transformation. Für Gramsci beruht demokratische Herrschaft im integralen Staat auf Hegemonie, auf einem basalen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten27, der aus den sozialen und symbolisch-kulturellen Konflikten der Zivilgesellschaft erwächst. Jeder Konsens ist mit Zwang gepanzert und in einen historischen Block eingebettet, der Klasseninteressen in die Sphäre der Politik übersetzt, transformiert und sie so weitgehend unsichtbar macht.28 Zwang meint hier nicht in erster Linie offene Gewalt, wenngleich auch diese keineswegs verschwindet. Solange die kapitalistische Eigentumsordnung fraglos vorausgesetzt wird, bedarf der stille ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft keiner besonderen Legitimation. Deshalb können »außerökonomische Güter« wie soziale Bürger- und Freiheitsrechte oder die Gleichstellung von Geschlechtern, Ethnien und Nationalitäten relativ egalitär verteilt werden, denn sie lassen den Kern kapitalistischer Herrschaft unberührt.29 Im integralen Staat eines halbwegs rationalen Kapitalismus wird das Recht zu einer Regulationsform, die auch Interessen beherrschter Klassen berücksichtigen kann. Der Kompromisscharakter des Rechts ermöglicht es, wie Wolfgang Abendroth am Beispiel des (west)deutschen Grundgeset zes gezeigt hat, Demokratie als eine transformative zu denken. Basale Rechtsnormen sind demnach, mit der Institutionalisierung des Rechts variierend, für antikapitalistisch-sozialistische Transformationsstrategien durchaus offen30, was nichts daran ändert, dass sich die Herrschenden und Mächtigen solchen Veränderungen höchstwahrscheinlich mit aller Macht, das heißt immer auch mit und ohne geeignete Rechtsmittel widersetzen werden.

Die Utopie des Sozialismus

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