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Ausbeutung von lebenspendender Arbeit
ОглавлениеWichtig für den hier interessierenden Zusammenhang ist die Feststellung, dass die kapitalistische Dynamik eine Doppelgestalt besitzt. Die eine Bewegung setzt sich in den Produktionsstätten des Mehrwerts, in den Fabriken, der durchkapitalisierten Landwirtschaft und auf den Warenmärkten durch. Hier reproduziert sich der Kapitalismus weitgehend auf seinen eigenen Grundlagen. Ausbeutung – ich bezeichne sie als primäre, weil formationsspezifisch kapitalistische – beruht in der Sphäre des Warentauschs auf dem Äquivalenzprinzip. Es handelt sich keineswegs um bewusste Übervorteilung, denn beim Tausch von Lohn gegen Arbeitskraft werden annähernd gleiche Wertgrößen gehandelt. Das heißt, die Lohnabhängigen bekommen, vermittelt über soziale Kämpfe und eine von ihnen beeinflusste historisch-moralische Dimension des Lohns, ein monetäres Äquivalent, das in etwa dem gesellschaftlich konstituierten Wert ihrer Arbeitskraft entspricht. Die korrespondierende Bewegung setzt sich in Märkten durch, in denen Austauschbeziehungen mit nichtkapitalistischen Produktionsweisen, Schichten und Territorien bestehen.24 In diesen äußeren, nichtkapitalistischen Märkten, die es auch innerhalb nationaler Gesellschaften gibt, gilt das Prinzip des Äquivalententauschs allenfalls eingeschränkt. Hier herrschen Disziplinierung, rassistische und sexistische Abwertung, Willkür und zum Teil offene Gewalt. Ausbeutung beruht in diesen Märkten auf diversen Formen eines ungleichen Tauschs. Das heißt, die durchschnittlichen Standards für die Reproduktion der Arbeitskraft werden mittels außerökonomischer Disziplinierung systematisch unterboten. Weil solche Aneignungsformen auch schon vor dem Kapitalismus existierten, können sie als Varianten sekundärer Ausbeutung bezeichnet werden.
Mit dieser Unterscheidung ist keineswegs gesagt, dass sekundäre Ausbeutungsmechanismen lediglich Nebenformen darstellen, die weniger bedeutsam wären als die primäre kapitalistische Ausbeutung. Das Gegenteil ist richtig, weil die kapitalistische Dynamik jederzeit beide Bewegungs- und Ausbeutungsformen umfasst. Außerökonomischer Zwang kann nach Rosa Luxemburg auch mit dem Ziel ausgeübt werden, soziale Gruppen, Territorien oder ganze Staaten zumindest zeit weilig in einem vorkapitalistischen oder weniger entwickelten Stadium zu halten. Landnahmen verschieben die Grenzen zwischen inneren kapitalistischen und äußeren nichtkapitalistischen Märkten. Es handelt sich aber nicht um eine lineare Inwertsetzung von »neuem Land«. Vielmehr tragen Landnahmen stets die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Regression durch Überausbeutung, Prekarisierung und ungleichen Tausch, aber auch zur Stimulierung progressiver Gegenbewegungen in sich.
Bei dieser Erkenntnis darf eine Landnahmetheorie, die sich mit dem modernen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts befasst, aber nicht stehen bleiben. Rosa Luxemburgs Reproduktionsmodell zielt trotz aller Differenzierungen in erster Linie auf bezahlte Erwerbsarbeit. Ausbeutung erstreckt sich heute aber auf alle menschlichen Arbeitsvermögen. Dazu gehören verschiedenste Tätigkeiten jenseits der bezahlten Lohnarbeit – etwa die Eigenarbeit, die zweckfreie Tätigkeit in der Freizeit, die unbezahlten Sorgearbeiten, die Arbeit von Konsument:innen sowie die Koordinationsarbeit, die nötig ist, um die verschiedenen Lebensbereiche auszubalancieren. Ausbeutung bezieht sich heutzutage auf Arbeit in einem weiten Sinne, es geht um Arbeit als lebenspendenden Prozess. Ausbeutung erstreckt sich nicht allein auf Lohn- oder andere Formen bezahlter Erwerbsarbeit. In der Tendenz werden sämtliche Tätigkeitsformen zum Ausbeutungsobjekt. Wer eine Suchmaschine im Internet bedient oder ein Smartphone benutzt, hinterlässt in der Regel eine Datenspur, die von High-Tech-Unternehmen für kommerzielle Zwecke genutzt werden kann. Die unbezahlte Arbeit Ehrenamtlicher, die dazu beiträgt, Pflegeeinrichtungen am Leben zu halten, zugleich aber auch niedrige Pflegesätze ermöglicht, ist ebenfalls Gegenstand von Ausbeutung. Und selbst das Freizeitvergnügen mit einem Videospiel kann den Internetkonzernen zu wertvollen Innovationen verhelfen, ist mithin ausbeutbar. All diese Tätigkeiten sind, weil direkt oder indirekt profitabel, vom Standpunkt des Kapitals oder des aneignenden Staates aus betrachtet, produktive Arbeit.