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Zur Einführung, Selbstverortung eingeschlossen

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Das Auditorium Maximum der Leipziger Universität im Mai 2019. Vor dem zum Bersten gefüllten Saal drängen sich hunderte Studierende, um an der Gründung von Students for Future teilzunehmen. Mein Part ist es, in die Debatte um die Erderhitzung und deren gesellschaftliche Folgen einzuführen. Auf die an das Publikum gerichtete Frage, ob die klimapolitisch gebotene Nachhaltigkeitsrevolution innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sei, antwortet ein vielstimmiges »Nein!« Der Vorschlag, große Konzerne wegen ihrer Blockadehaltung gegenüber Klimazielen zu sozialisieren, erhält tosenden Applaus. Einigen Veranstalter:innen steht deshalb der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Angesichts der gerade erst im Entstehen begriffenen Bewegung wären ihnen weniger radikale Statements lieber gewesen. Doch solche Befürchtungen erweisen sich als unbegründet. Die Vollversammlung wird zu einem grandiosen politischen Erfolg, denn sie wirkt nach. Den Leipziger Ereignissen folgt ein bundesweiter Klimaratschlag in Jena. Er wird zu einem der Ausgangspunkte für neue politische Allianzen, die einen labour turn der Klimabewegung und zugleich einen climate turn von Gewerkschaften und anderen arbeitsorientierten Akteuren anstreben.1

Ich hebe dieses Ereignis hervor, weil es mich für einen lebensverlängernden Augenblick spüren ließ, dass ein ökologisch inspirierter Sozialismus zu einer höchst lebendigen Praxis werden kann. In Bewegungen mit großer Mobilisierungsfähigkeit verfügt er über eine riesige soziale und politische Basis. Dass die etablierte Linke diesen Kraftquell kaum zu nutzen weiß und er allenfalls Parteien zugutekommt, die ihre ökosozialistische Vergangenheit lange hinter sich gelassen haben, steht auf einem anderen Blatt. Dieses Problem ist in erster Linie hausgemacht. Gleich ob Migrationsregime, Haltung zur Europäischen Union, Umgang mit Rassismus und der radikalen Rechten oder das Management der Coronapandemie – es findet sich kaum ein Thema, das ungeeignet wäre, der gesellschaftlichen Linken Rohstoff für ihre Lieblingsbeschäftigung zu liefern. Gemeint ist der Hang zu vermeintlich absoluten Wahrheiten, zu Sektierertum und Selbstzerfleischung. Von einem linken Mosaik, wie es der Gewerkschaftsintellektuelle Hans-Jürgen Urban als idealtypischen Entwurf konzipiert hat2, sind wir, inmitten einer epochalen Krise des globalen Kapitalismus, meilenweit entfernt.

Schlimmer noch, innerhalb der Linken regiert die Hermeneutik des Verdachts. Wer auch nur andeutet, die imaginäre Revolte der radikalen Rechten habe etwas mit sozialen Verwerfungen zu tun, sieht sich sogleich mit dem Vorwurf der Rassismusverharmlosung konfrontiert. Umgekehrt heißt es, Plädoyers für ein offenes Migrationsregime ignorierten Alltagssorgen, mit denen sich »einfache Leute«3 auch in reichen Gesellschaften herumzuplagen hätten. Bei den Auseinandersetzungen um den ökologischen Gesellschaftskonflikt verhält es sich ähnlich. Üben sich die einen in der Kritik einer imperialen Lebensweise, die Herrschende und Beherrschte reicher Gesellschaten Beutegemeinschaten zur Ausplünderung ärmerer Länder zurechnet, verschanzen sich die anderen hinter den Grenzen nationaler Wohlfahrtsstaaten, weil sie annehmen, dass Politik zugunsten der Benachteiligten nur innerhalb dieser Arena möglich sei. Zwischentöne sind da nur Krampf im gegenseitigen Abwertungskampf.

Doch so unterschiedlich die jeweiligen Lager in ihren politischen Positionierungen auch sein mögen, in einem Punkt finden sie zumindest an ihrer Spitze und trotz wechselseitiger Ablehnung, ja Abschottung gerne zusammen. Das S-Wort schreckt sie ab. Mit Visionen einer sozialistischen Gesellschaft möchten sich Wortführer:innen der streitenden Lager eher nicht belasten.4 Dafür gibt es gute Gründe. Die Erinnerung an die Implosion des staatsbürokratischen Sozialismus ist zumindest bei den Älteren noch frisch. Aber auch die Begrenztheiten sowohl klassischer sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatspolitik als auch deren Revision in Gestalt eines Dritten Weges, wie ihn Tony Blair, Gerhard Schröder oder Bill Clinton verkörperten, haben das politische Bewusstsein geprägt. Ergibt es in einer derartigen Konstellation wirklich Sinn, den Sozialismus, nunmehr als ökologischen oder besser: als demokratisch-nachhaltigen, wieder zu beleben?

Meine Antwort ist ein klares Ja. Dabei bin ich mir bewusst, dass es sich um ein Ja handelt, das in der hier vorgestellten Version gegenwärtig wohl nur eine kleine Minderheit teilt. Den Mitgliedern des Bundes der Kommunisten, für den Karl Marx und Friedrich Engels einst ihr Manifest der Kommunistischen Partei schrieben, dürfte es in persönlich ungleich schwierigerer Situation kaum anders ergangen sein. Im Unterschied zu ihnen formuliere ich meine Gedanken als Beamter auf Lebenszeit, ausgestattet mit einem Professorengehalt, aus einer privilegierten Position heraus und deshalb mit geringem Risiko. Ein wenig passt das zu Jena, der kleinen, idyllischen Stadt im Saaletal, in der ich mit meiner Familie seit vielen Jahren gerne lebe. Hier besitzt der Kathedersozialismus, über den schon Marx und Engels spotteten, durchaus eine Tradition.5 Ein Kathedersozialist bin ich dennoch nicht. Dabei hilft mir, wenn man so will, die Gnade der frühen Geburt. Ich gehöre zur politischen Generation der Postachtundsechziger, für deren engagierten Teil die Organisierung in einem sozialistischen oder kommunistischen Verband geradezu selbstverständlich war. Altersbedingt blicke ich deshalb mit anderen Augen auf den verblichenen Sozial- und den nun ebenfalls vergehenden Finanzkapitalismus als Angehörige von Jahrgangskohorten, deren politische Sozialisation mit dem Aufstieg neuer sozialer Bewegungen und grün-alternativer Parteien in den 1980er Jahren zusammenfiel.

Wie Ähnlichgesinnte meiner Generation lebte ich schon als Schüler, später dann als Student, in dem Bewusstsein, der Kapitalismus werde sich eher früher als später aus den Angeln heben lassen – in Westdeutschland und weltweit. Dafür sprach das politische Tagesgeschehen der 1970er Jahre. In Frankreich drängte ein linkes Volksfrontbündnis an die Macht. Die italienischen Kommunisten, damals eine Massenpartei mit zeitweilig bis zu zwei Millionen Mitgliedern, hatten sich vom sowjetischen Modell emanzipiert und drängten auf einen historischen Kompromiss mit der Christdemokratie. Der Reihe nach fielen Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien. Für einen historischen Moment eröffnete die portugiesische Aprilrevolution Aussichten auf eine nichtkapitalistische Entwicklung. In Chile, wo die Regierung des Sozialisten Salvador Allende einen solchen Weg eingeschlagen hatte, wurde die Transformation durch einen blutigen Militärputsch gestoppt. Dafür gelangten in zahlreichen anderen Ländern antikoloniale Befreiungsbewegungen an die Macht, oder sie standen zumindest kurz davor. Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, später Nicaragua und El Salvador boten Beispiele, um nur einige zu nennen. Der Geist, der uns beseelte, war deshalb geradezu fraglos internationalistisch. Solidarität, etwa mit den Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, dem ANC oder der SWAPO of Namibia, gehörte zum Standardrepertoire linker Politik.

In welches Land wir auch reisten, wir begegneten Gleichgesinnten. Sozialismus war eine Lebensform. Sie blieb nicht auf politische Orientierungen und Weltsicht begrenzt, sondern erstreckte sich auf die gesamte Art des Zusammenlebens. In einer Wohngemeinschaft konnte man damals auch mit wenig Geld gut leben. Die Wohn- war keineswegs nur Zweckgemeinschaft, sondern im besten Falle Experimentierfeld für soziale Beziehungen. Veränderungen erfassten den sozialen Nahbereich und die Partnerschaften. Für mich begann die Politisierung noch vor der Wohngemeinschaftsphase mit einer Veranstaltung zu Klaus Theweleits Männerphantasien6, durchgeführt von einer Roten Basisgruppe an der Gesamtschule, die ich damals besuchte. Sozialismus hieß zunächst Auflehnung gegen die verlogene Spießermoral der Elterngeneration. Gleich ob lange Haare, Mädchenbesuche, Ferien auf Kreta, Nächte in Diskotheken oder der Beat Club im TV – alles und jedes wurde zum Gegenstand heftiger Alltagskonflikte. Bewegungen für die, je nach politischer Ausrichtung, Reform oder Streichung des Paragrafen 218 zu unterstützen, war eine Selbstverständlichkeit.

Stets gehörte für uns zusammen, was heute in einer unseligen Frontstellung zwischen Identitäts- und Klassenpolitik auseinanderdriftet. Als Sozialist:innen oder Kommunist:innen traten wir für Gleichheit ein, unsere kulturelle Ausrichtung war hingegen anarchisch-libertär. Wer, um nur einige der Besten zu nennen, mit Jimi Hendrix und Aretha Franklin, Janis Joplin, Eric Burdon, Nina Simone, Bob Dylan, John Coltrane, Miles Davis, Volker Kriegel, Chic Corea, Barbara Thompson oder Carla Bley aufwuchs, hatte mit einem kleinbürgerlichen Spießerleben nichts am Hut. Dieser Sound der Revolte war es, der uns über alle Sektenkämpfe hinweg in der alltäglichen Lebensführung verband. Wer sich als Revolutionär verstand, hörte die Rolling Stones, oder besser noch: die Pretty Things, Ornette Coleman, Gil Scott-Heron und die MC 5. Den Reformisten blieben immerhin die Beatles, wobei deren Genius John Lennon sich später als der eigentliche Revolutionär erweisen sollte.

In dieser Zeit des Aufbruchs hatte das Wort Reform noch einen positiven Klang, und sei es nur, weil sich mit ihm sozialdemokratischer Integrationismus als systemkonforme Politik kritisieren ließ. Mehr Demokratie zu wagen, wie es der damalige Bundeskanzler Willy Brandt formulierte, entsprach dem Lebensgefühl einer politischen Generation. Der Zug in Richtung Sozialismus rollte. Dass die Gesellschaft der Gleichen kommen würde, schien gewiss. Wohl ließ sich die Zugfahrt bremsen, mit Berufsverboten gegen Andersdenkende oder auch mit Bomben auf Hanoi. Doch in der Gesamtbilanz wiesen die Veränderungen in die richtige, die sozialistische Richtung:

Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtlichen Erfahrungen bedroht durch die Tendenz zur Akkumulation von Besitz und Geld, die die Reichen immer reicher werden läßt, und die Tendenz zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen. […] Dem freien Selbstlauf überlassen müssen eben diese negativen Tendenzen, bei aller ungebrochenen Leistungsfähigkeit, dessen Menschlichkeit [die des Kapitalismus, KD] am Ende zerstören: durch permanente Überprivilegierung der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen, der Reichen gegenüber den Armen, der Produzenten gegenüber den Konsumenten, des Faktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit7,

so hieß es, man glaubt es kaum, in den Freiburger Thesen, damals das Grundsatzprogramm der FDP.

Die Sozialliberalen wollten den Kapitalismus vor seinen schlimmsten Auswüchsen retten. Wir Sozialist:innen waren sicher, dass diese Gesellschaftsformation nicht überleben würde. Je näher das Ende rückte, desto größer würden die Freiheitsspielräume auch in den bereits existierenden sozialistischen Gesellschaften werden. Wer so empfinden konnte, verfügt trotz aller zerplatzten Träume noch heute über einen besonderen Erfahrungsschatz. Wie bei vielen Angehörigen dieser politischen Generation speist sich dieser Schatz auch in meinem Fall aus einer besonderen Bildungsgeschichte. In dem nordhessischen 900-Seelen-Dorf Külte als Sohn eines Eisenbahners und einer Bäckereigehilfin geboren, war mir der Aufstieg durch Bildung vergönnt. Bildung umfasste allerdings mehr als Schule und Studium, etwas anderes kam hinzu. Vieles von dem, was ich heute zu können glaube, verdanke ich der damaligen politischen Arbeit. Im Allgemeinen Studenten-Ausschuss (AStA) der Philipps-Universität Marburg über mehrere Semester hinweg als Fachschaftsreferent tätig und in einem marxistischen Studentenverband aktiv, lernte ich, was ich im Elternhaus nicht mitbekommen hatte. Ich sprach auf Vollversammlungen vor mehr als tausend Kommiliton:innen – frei, nur mit Stichworten versehen und im rhetorischen Schlagabtausch mit Anhänger:innen konkurrierender politischer Positionen. Im Alltagsleben ein Chaot, plante ich Großaktionen mit Tausenden Beteiligten. Stärken und Schwächen von Menschen zu beurteilen, ohne dies mit Herabsetzung zu verbinden, gehörte damals zum politischen Alltagsgeschäft. Im Hauptberuf war ich Revolutionär, das Studium nahm ich ernst, absolvierte es jedoch eher nebenbei. Der Aktivismus ließ sich nur durchhalten, weil mir ein Geflecht solidarischer Sozialbeziehungen half, wie ich es in dieser Intensität nie wieder erlebt habe. Ich bewegte mich in einem Umfeld, in welchem alle bereit waren, Dinge zu tun, ohne sich davon persönliche Vorteile zu versprechen. Dies geschah, obwohl ein Großteil der Aktivitäten wie auch die Aktiven selbst in der bürgerlichen Öffentlichkeit eher selten, und wenn, dann hauptsächlich negativ wahrgenommen wurden. Individuelle und kollektive Selbstwirksamkeit waren dennoch gegeben, denn die Erfahrung solidarischer Sozialbeziehungen stiftete auch subjektiv Lebenssinn.

Hinzugefügt sei, dass ich diese Zeilen im Bewusstsein bedrückender Gegenerfahrungen zu Papier bringe. Die dunkle Seite real existierender Sozialismen war jederzeit präsent. Gleich ob sowjetische Panzer in Prag 1968 oder die Brutalität der maoistischen Kulturrevolution, die Ausbürgerung Wolf Biermanns, staatliche Repression gegen die polnische Gewerkschaft Solidarnosc, Unterdrückung der Charta 77 in der CSSR, Verfolgung von Homosexuellen auf der Karibikinsel Kuba oder die Massenmorde der Khmer Rouge, die von einigen Linken verteidigt wurden – die Liste von Ereignissen, die auf Systemfehler der staatsbürokratischen Sozialismen und ihrer Satelliten im globalen Süden verwiesen, war bereits in den 1970er Jahren lang. Auf dem linken Auge blind gewesen zu sein, ist eine schuldhafte Verstrickung, die sich nicht einfach wegwischen lässt. Und auch die eigene politische Praxis darf keinesfalls in rosaroten Farben gemalt werden. Infolge der Dauermobilisierung, wie sie viele linksoppositionelle Organisationen der 1970er Jahre praktizierten, wurde manche Persönlichkeit verschlissen, ja regelrecht zerstört. Das, was in einigen K-Gruppen, deren Binnenleben ich nur vom Hörensagen kenne, an Unterordnung der Individuen unter ein hierarchisches Kollektiv praktiziert wurde, entsprach dem Gegenteil von Emanzipation. Doch auch in meinem Umfeld gab es die Ausgrenzung von konkurrierenden Linken. Ein bisschen Auflehnung gegen den verbreiteten Machismo konnte wahre Organisationskrisen auslösen. Dass die politischen Gegner:innen keineswegs mit Samthandschuhen angefasst wurden, kommt hinzu.

Dennoch, verkrustete Verhältnisse zum Tanzen zu bringen und Herrschaftsmechanismen aufbrechen zu können, ist eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Deshalb betrachte ich mich heute als den Angehörigen einer privilegierten Generation. Ich habe den revolutionären Aufbruch erlebt und bin zugleich ein Kind der größtmöglichen Niederlage – des Niedergangs sozialistischer und kommunistischer Arbeiterbewegungen ebenso wie der Implosion von Gesellschaftsmodellen, die für eine kurze historische Zeitspanne beanspruchten, erstrebenswerte Alternativen zum Kapitalismus zu sein. Das Bewusstsein der Niederlage bewahrt mich hoffentlich davor, Irrtümer und Fehler nur bei anderen zu suchen. Vor allem aber lässt es Illusionen über die vermeintlich schwindenden Lebensgeister kapitalistischer Vergesellschaftung nicht zu. Selbst epochale Krisen, die das gesamte Gesellschaftsmodell erschüttern, führen nicht im Selbstlauf aus der Verwertungslogik heraus. »Der Kapitalismus […] kann nicht durch einen ›endogenen‹ Verfall zugrunde gehen; nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative könnte seinen Zusammenbruch bewirken«, prognostizierte bereits der Historiker Fernand Braudel in seiner großartigen Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts.8 Dass die Coronapandemie einen Stoß von extremer Heftigkeit ausgelöst hat, dürfte, von querdenkenden Verwirrten abgesehen, kaum jemand bezweifeln. Es ist die glaubwürdige Alternative, an der es fehlt.

Diesen Mangel gilt es zu überwinden. Mein kleines Buch soll dazu einen bescheidenen Beitrag liefern. Sein Hauptargument lautet: Der Anspruch, von der Utopie zur Wissenschaft geworden zu sein, hat zur Verknöcherung des Sozialismus, zu falschen Versprechungen, herrschaftlichen Totalitätsansprüchen und dort, wo er zum System erstarrt war, letztendlich zu dessen Zusammenbruch geführt. Heute muss der Sozialismus sich wieder als attraktive Utopie bewähren, um überhaupt gesellschaftlich und politisch Wirkung erzielen zu können. Die Begründung dieser Sichtweise erfolgt in der Form eines Essays, das heißt ohne den Anspruch einer systematischen Aufarbeitung der mittlerweile wieder reichlich sprudelnden Literaturquellen. Es geht um eine Begründung der Koordinaten für eine ökologisch-sozialistische Transformation, nicht um die Beschreibung fertiger Gesellschaftsmodelle. Dabei arbeite ich mich an einigen Schlüsselthesen ab, wie sie Friedrich Engels in seiner populären Schrift zum wissenschaftlichen Verständnis des Sozialismus am Ende des 19. Jahrhunderts formulierte.

Engels hat in der Spätphase seines Schaffens ein Verhältnis von Sozialismus und parlamentarischer Demokratie begründet, hinter das ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht zurückfallen darf. »Wir, die Revolutionäre‹, die ›Umstürzler‹«, schrieb er angesichts großer sozialdemokratischer Erfolge bei Reichstagswahlen, »wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien […] gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen, gesetzlichen Zustand.«9 Das war zu optimistisch. Bemerkenswert ist aber, dass Engels diese Zeilen trotz der selbst nach bürgerlichen Maßstäben mehr als unvollständigen Demokratie des wilhelminischen Reichs formulierte. Bei allem, was an dieser Bemerkung auch taktischem Kalkül entsprungen sein mag, zeugt sie doch von einem Geist, der Sozialismus als Erweiterung bürgerlich-parlamentarischer Demokratie, nicht aber als deren Liquidierung versteht.10

Heute müssen wir, so meine ich, noch einige Schritte über Engels hinausgehen. Ohne Freiheitsgarantien auch für Nichtsozialist:innen büßt jede Alternative zum Kapitalismus ihre Glaubwürdigkeit ein. Unverändert gilt, was Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an der russischen Oktoberrevolution und den Bolschewiki ebenso unmissverständlich wie hellsichtig formuliert hat. Für Luxemburg zeigt sich,

daß der ›schwerfällige Mechanismus der demokratischen [Institutionen – Einfügung aus der Fußnote zum Text – KD]‹ ein kräftiges Korrektiv hat – eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung – trotz starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.11

Dem ist nichts hinzuzufügen. Dass Freiheit immer auch die Freiheit Andersdenkender zu sein hat, sei diesem Essay als normative Prämisse vorangestellt. Schließlich ist es eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die es mir erlaubt, auf den Ruinen des untergegangenen Realsozialismus für eine nachkapitalistische Zukunft zu plädieren. Modischen Abgesängen auf die parlamentarische Demokratie, gleich, ob sie von rechts oder von links12 kommen, begegne ich daher kritisch, ja ablehnend. Ich erwähne dies, weil mein Essay, neben vielem anderen, was fehlt, weder eine Analyse des Scheiterns staatsbürokratischer Sozialismen noch eine Ursachensuche für den Niedergang sozialdemokratischer Gegenentwürfe enthält.13 Die Suche nach einer ökologisch-sozialistischen Utopie kann man nicht mit Auflösungsszenarien vergangener Sozialismen beginnen.

Deshalb startet der Essay mit der Vision einer klimagerechten Gesellschaft, die nach einem Szenenwechsel erneut zur Leipziger Gründungsveranstaltung von Students for Future führt (Kapitel I). Es folgen eine Begründung für das Festhalten am Sozialismusbegriff sowie einige Bemerkungen zur Methodik eines democratic marxism, die bei der Reformulierung sozialistischer Ideen hilfreich sein können (Kapitel II). In Auseinandersetzung mit Friedrich Engels wird sodann die tragende Idee für einen ökologisch nachhaltigen Sozialismus des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet (Kapitel III), um anschließend zeigen zu können, wie diese Grundidee mit dem in kapitalistischen Landnahmen angelegten Expansionsparadoxon korrespondiert und konfligiert (Kapitel IV). Aus der Beschreibung einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise ergeben sich die wichtigsten Gründe, die für eine neue sozialistische Utopie sprechen (Kapitel V). Als deren normative Grundlage können die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen dienen, die es möglich machen, das Handeln herrschender Klassen und Eliten an Nachhaltigkeitszielen zu messen (VI). Eine Skizze des Fundaments ökologisch-sozialistischer Gesellschaften schließt an (Kapitel VII). In einem Exkurs geht es um Ansatzpunkte für eine Transformation des Kapitalismus, die sich aus der Digitalisierung ergeben (Kapitel VIII) und zu neuen Kombinationen von intelligenter Produktion, humaner Arbeit und nachhaltigem Konsum führen (IX). Es folgen Überlegungen zu den Auswirkungen der Coronapandemie (X) sowie zu Übergangsstrategien, die den Weg zu nachhaltigen Gesellschaften öffnen können (Kapitel XI). Der Essay endet mit einigen Anregungen für Sozialist:innen, die das politische Handgemenge nicht scheuen.

All dies vorausgeschickt, bleibt mir, Danke zu sagen! Steffen Richter motivierte mich dazu, aus einem Artikel für die Zeitschrift Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt ein kleines Buch zu machen. Er hat den Text sorgfältig lektoriert und den Kontakt zum Verlag hergestellt, der sich rasch bereitfand, den Essay zu veröffentlichen. Mareike Biesel hat gewohnt akribisch zusätzlich Korrektur gelesen. Johanna Sittel und Lena Haubner waren mir bei den Grafiken behilflich. Dem Schreiben ging eine Debatte mit Raul Zelik voraus, der als Fellow des Kollegs »Postwachstumsgesellschaften« ein eigenes Sozialismus-Buch verfasste.14 Angeregt hat mich eine herausragende Qualifizierungsarbeit von Jakob Heyer15, der mir auch bei der Sichtung wichtiger Literatur zuarbeitete. Kritische Bemerkungen meines Freundes und Doktorvaters Frank Deppe zu ersten Neosozialismus-Thesen haben mich ebenfalls angespornt. Hätte Frank mich nach dem Studium nicht davor bewahrt, als bezahlter Kader für die Revolution zu arbeiten, wäre mir eine wissenschaftliche Laufbahn wohl verwehrt geblieben. Ich müsste jetzt in anderen Arenen für einen nachhaltigen Sozialismus streiten. Wie immer hat mich Rebecca Sequeira bei allen Arbeiten ebenso umsichtig wie weitblickend begleitet. Ohne ihre großartige Arbeit würden Essays wie der vorliegende im akademischen Alltag wohl kaum zustande kommen.

Besonders bedanken möchte ich mich bei allen, die in zahlreichen Veranstaltungen mit Anregungen, Anmerkungen, aber auch mit ihrer Ablehnung des S-Wortes und der hinter ihm verborgenen Inhalte dazu beigetragen haben, dass ich einen nachhaltigen Sozialismus nunmehr als Gegenbegriff zur Dynamik kapitalistischer Landnahmen verwende. Beflügelt haben mich die Diskussionen mit Brigitte Aulenbacher, Ulrich Brand, Michael Brie, Michael Burawoy, Guilherme Leite Gonçalves, Elísio Estanque, Nancy Fraser, Bob Jessop, Stephan Lessenich, Birgit Mahnkopf, Hartmut Rosa, Christine Schickert, Franz Schultheis, Ngai-Ling Sum, Esteban Torres, Hans-Jürgen Urban, Michelle Williams, Erik Olin Wright und vielen anderen aus dem Postwachstums-Kolleg. Debatten mit den Herausgeber:innen und der Redaktion des Berliner Journals für Soziologie boten mir ebenfalls Inspiration. Obwohl mir die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht fehlte, konnte ich auch von Diskussionen mit den Studierenden enorm profitieren.

Alle, die an den Sozialismus-Debatten aktiv beteiligt waren, haben, so hoffe ich, zur Schärfung meiner Argumente beigetragen. Ich schreibe in gendersensibler Sprache, das heißt, wo angebracht, wird ein [:] in Worte eingefügt. Um bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, geschieht dergleichen weder bei zusammengesetzten Begriffen, Fachwörtern und Gruppenbezeichnungen noch in Fällen, in denen die Geschlechterzuordnung eindeutig ist. Hinzufügen möchte ich, dass Veränderungen der sprachlichen Form herrschaftliche Verhältnisse nicht verschleiern dürfen, die trotz [:] fortbestehen.

Mit Die Utopie des Sozialismus endet meine Tätigkeit als Sprecher der Jenaer DFG-Kollegforschungsgruppe »Postwachstumsgesellschaften«. Dass der im Forschungsantrag versprochene Transformations-Kompass einen nachhaltigen Sozialismus als Gegenbegriff zur kapitalistischen Landnahme empfehlen würde, wäre mir zu Beginn der Kollegsarbeiten nicht einmal im Traum eingefallen. Ohne die Unter stützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft hätte es den Freiraum für ein solches Denkexperiment wohl kaum gegeben. Dafür schulde ich dem wichtigsten deutschen Forschungsförderer aufrichtigen Dank! Ob sich meine Ausführungen als Kompass für den Weg zu einer besseren Gesellschaft eignen, können nur die Leser:innen beurteilen. Mich freut bereits, dass die Debatte um einen nachhaltigen Sozialismus Fahrt aufnimmt.

Klaus Dörre, Jena, Mai 2021

Die Utopie des Sozialismus

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