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Engels und der marxistische Produktivkraftoptimismus

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Nicht allein die etatistische Ausrichtung, auch ihr Produktivkraftoptimismus hat die verschiedensten Sozialismen des 20. Jahrhunderts ökologisch in die Sackgasse geführt. Indizien für einen aus der heutigen Sicht fahrlässigen, historisch aber nachvollziehbaren Produktivkraftoptimismus finden sich sowohl bei Karl Marx als auch beim Erfinder des Marxismus, bei Friedrich Engels. Doch wie so häufig ist das Werk der beiden auch im Falle der Gesellschafts-Natur-Beziehungen widersprüchlich; es umfasst verschiedene Erkenntnisebenen, enthält Brüche und Revisionen.

Anders als oft suggeriert und kritisiert, hat das ursprüngliche Marx’sche Produktivkraftverständnis mit naiver Technikgläubigkeit wenig gemein. Vielmehr wird die Entfaltung der industriellen Produktivkräte, deren wichtigste die in freier Lohnarbeit genutzte Arbeitskrat ist, als materielle Voraussetzung der sozialistischen Revolution gedeutet. Nicht Technik und Organisation, sondern die mit der Industrialisierung wachsenden proletarischen Massen sind demnach die entscheidende Triebkraft sozialistischer Transformation. Hören wir wieder Friedrich Engels:

Die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat, seit dem geschichtlichen Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, einzelnen wie ganzen Sekten öfters mehr oder weniger unklar als Zukunftsideal vorgeschwebt. Aber sie konnte erst möglich, erst geschichtliche Notwendigkeit werden, als die materiellen Bedingungen ihrer Durchführung vorhanden waren. Sie, wie jeder andere gesellschaftliche Fortschritt, wird ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klasse abzuschaffen, sondern durch gewisse ökonomische Bedingungen.1

Nicht die Entwicklung technisch-organisatorischer Produktivkräfte als solche, sondern die mit der industriellen Revolution einhergehende Entwicklung einer proletarischen Klasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess als erste überhaupt in der Lage ist, die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft zu realisieren, gilt Engels als Gradmesser sozialen Fortschritts. Die Arbeit der von Löhnen abhängigen Klassen ist somit wichtigste Produktivkraft. Engels’ Redewendung von der »geschichtlichen Notwendigkeit« impliziert allerdings eine Zwangsläufigkeit und Ausschließlichkeit, die sicherlich kritisch hinterfragt werden muss. Im Werk der beiden Urväter des Marxismus finden sich aber auch Textpassagen, die eine deutlich andere, zeitgemäßere Interpretation kapitalistischer Dynamik nahelegen: »Die kapitalistische Produktion kann nicht stabil werden, sie muß wachsen und sich ausdehnen oder sie muß sterben […] Hier ist die verwundbare Achillesferse der kapitalistischen Produktion. Ihre Lebensbedingung ist die Notwendigkeit fortgesetzter Ausdehnung …«, notiert Engels in einem Vorwort, das er der deutschen Neuausgabe seines frühen Klassikers Die Lage der arbeitenden Klasse in England voranstellte.2 Präzise wird hier ein Grundverständnis von Kapitalismus in Bewegung benannt, das große Schnittmengen mit jenem Ansatz aufweist, den Stephan Lessenich, Hartmut Rosa und ich selbst zum analytischen Ausgangspunkt der Kollegforschungsgruppe »Postwachstumsgesellschaften« gemacht haben.3 Der Kapitalismus muss expandieren, um zu existieren, und es ist seine erfolgreiche Ausdehnung, die seine Bestandsvoraussetzungen untergräbt.

Die Utopie des Sozialismus

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