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Exkurs: democratic marxism, Soziologie und Sozialismus

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Dabei kann eine Methodik helfen, wie sie im angelsächsischen Sprachraum mit den Ideen eines sociological oder democratic marxism verbunden wird.14 Forschende, die mit diesem paradigmatisch angelegten Konzept arbeiten, verstehen sich als »marxian«, nicht als »marxist«. Zu parteioffiziellen Marxismen verhalten sie sich kritisch.15 Die Beifügung democratic signalisiert eine Sensibilisierung für den Eigenwert pluralistisch-demokratischer Institutionen und Prozesse. Das ist kein Zugeständnis an hegemonial-bürgerliches Denken, wie manche Kritiker:innen meinen. Vielmehr entspricht die Aufgeschlossenheit einer emanzipatorischen Praxis, wie sie etwa während des südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampfs selbstverständlich war. Aus den Erfahrungen solcher Freiheitsbewegungen heraus gelten plurale parlamentarische Demokratien als unverzichtbare Basis aller Versuche, Alternativen zum Kapitalismus überhaupt zu diskutieren.16 Zum Selbstverständnis eines democratic marxism gehört eine prinzipielle Offenheit für andere – etwa feministische, ökologische oder indigene –Strömungen kapitalismuskritischen Denkens. Das heißt in der Konsequenz: Es gibt nicht den Marxismus, sondern nur eine gewisse Pluralität an Konzeptionen, die sich in unterschiedlicher Weise auf Marx beziehen.17 Diese Pluralität ist im Fragment gebliebenen Werk selbst angelegt. Anregend sind aus der heutigen Perspektive gerade die Brüche und Ungereimtheiten in den theoretischen Arbeiten des Karl Marx und seiner zahlreichen Interpret:innen. Solche Inkohärenzen zu ignorieren hieße deshalb, einem »faulen Marxismus«18 das Wort zu reden.

Jenseits dogmatischer Erstarrung beinhaltet die Marx’sche Theorie in ihren zahlreichen Weiterentwicklungen und Verästelungen noch immer eine herausfordernde Kapitalismuskritik – »die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art«.19 Sie ist eine Theorie, in deren Namen »große Regionen der Erde umgestaltet« wurden.20 Damit hat sie jedoch zugleich ihre Unschuld verloren. Jede Spielart des Marxismus muss heute selbstreflexiv sein und sich um ein kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und der durch sie legitimierten Praxis bemühen. Wer sich der Methodik eines soziologischen Marxismus verpflichtet fühlt, steht deshalb für eine niemals abgeschlossene Reinterpretation klassischer Texte unter Berücksichtigung des zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wissens. Zum »pragmatischen Realismus«21 so verstandener Theoriebildung gehört es, Begriffe wiederzuentdecken oder Bedeutungen zu reanimieren, die seitens der marxistischen Orthodoxie längst ad acta gelegt waren. Sozialismus ist ein solcher Begriff, den zu reinterpretieren eine wissenschaftliche und damit auch eine soziologische Aufgabe darstellt.

Eine Methodik, die entsprechend verfährt, muss einigen Anforderungen genügen, die hier kurz genannt seien. Die erste dieser Anforderungen kann als Reinterpretation, Thesenbildung und Prüfung bezeichnet werden. Eine kritische Reinterpretation klassischer Sozialismus-Texte zu betreiben, ist unabdingbar. Dabei gewonnene Thesen müssen aber zumindest ausschnitthaft und exemplarisch einer empirischen Prüfung unterzogen werden, mit deren Hilfe sich theoretische Vorannahmen korrigieren lassen. Daraus folgt für soziologische Erkundungen einer nächsten sozialistischen Gesellschaft, dass sie experimentell und ergebnisoffen angelegt sein müssen. So hat Erik Olin Wright akribisch untersucht, welche Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise sich bereits in bestehenden Gesellschaften herausbilden, ob und unter welchen Umständen sie Bestand haben und auf welche Weise sie tatsächlich zu einem besseren Leben beitragen können. Prozesse des Scheiterns zu dokumentieren, ist in dieser Methodik ebenso angelegt wie eine Wertschätzung von Projekten einer solidarischen Ökonomie oder genossenschaftlicher Selbstorganisation, die sich zuerst in Nischen der kapitalistischen Produktionsweise durchsetzen.22

Eine zweite Anforderung resultiert aus der Mehrebenenproblematik moderner Gesellschaften. Zu bedenken ist, dass Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in ausdifferenzierte soziale Felder23 und gesellschaftliche Bewährungsproben24 eingebettet sind, deren eigensinnige Machtkonflikte und Wertigkeitsprüfungen empirisch erforscht werden müssen. Von Kapitalismus als sozialer Formation zu sprechen, bedeutet daher keineswegs, soziale Differenzierung, Vielfalt, Kontingenz, die Schwerkraft von Institutionen und daraus erwachsende Pfadabhängigkeiten in Abrede zu stellen. Im Gegenteil. Statt von einer determinierenden ökonomischen Basis auszugehen, die den gesellschaftlichen Überbau strukturiert, ist es sinnvoll, die kapitalistische Ökonomie und ihre Märkte als tiefgestaffelte soziale Felder25 zu betrachten, die mit zahllosen Variationen eines ökonomischen Habitus korrespondieren, der als verinnerlichtes Äußeres zu rationalem Handeln unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt erst befähigt.26 Die methodologische Anforderung, die sich daraus ergibt, lautet: unbedingt das Mehrebenenproblem und die Ausdifferenzierung sozialer Felder beachten und dennoch nach feldübergreifenden Strukturähnlichkeiten suchen, um Aussagen über größere Zusammenhänge und Ereignisketten überhaupt erst zu ermöglichen. Ohne Vorstellungen von gesellschaftlichen Ordnungen, die dabei helfen können, empirische Einzelbefunde zu gewichten und in einen Zusammenhang zu bringen, sind weder Aussagen über die kapitalistische Gegenwart noch über eine sozialistische Zukunft möglich.

In keinem Fall dürfen gesellschaftliche Dynamiken auf einen einzelnen Kausalmechanismus zurückgeführt werden. Die Eigentumsfrage ist für die Grundlegungen eines ökologischen Sozialismus noch immer zentral, aber neue kollektive Eigentumsformen garantieren für sich genommen noch nicht, dass sich die mit ihnen verbundenen Wirtschaftsweisen tatsächlich als nachhaltig erweisen. Deshalb müssen ökologisch-sozialistische Praktiken ebenso wie neu entstehende gesellschaftliche Institutionen feldspezifisch begründet und evaluiert werden. Wie das politische System einer künftigen sozialistischen Gesellschaft aussieht, kann und darf keinesfalls aus deren ökonomischer Verfasstheit »abgeleitet« werden. Gleiches gilt für Kultur, Lebensweisen, Öffentlichkeit, Subjektivitäten, kurzum für sämtliche gesellschaftliche Sphären jenseits der Ökonomie. Aus dieser Komplexität ergibt sich als zusätzliche Anforderung, die Möglichkeit zu Selbstkorrekturen von Gesellschaftssystemen zu beachten. Der Kapitalismus besitzt die Fähigkeit, sich immer wieder zu häuten, um seine Kernstruktur zu bewahren. Staatssozialistische Gesellschaften haben die dazu erforderlichen Selbststabilisierungsmechanismen nicht im gleichen Maße ausbilden können, doch auch ihre Entwicklung war nicht mit der Geburtsstunde vorgezeichnet. Es gab immer wieder Wegscheiden, an denen eine radikale Selbstkorrektur möglich gewesen wäre, denn auch die staatssozialistischen Ordnungen waren und sind keine monolithischen Blöcke.27 Daraus folgt, dass auch aus dem Scheitern gelernt werden kann. So können beispielsweise die wirtschaftsdemokratischen Überlegungen der Prager Reformer28, die Plattform der bewegungsorientierten Strömung in der italienischen Kommunistischen Partei (PCI)29 oder die Thesen der ökosozialistischen Strömung bei den Grünen der 1980er und frühen 1990er Jahre30 als unabgegoltene Programmatiken betrachtet werden, die noch immer ein großes Anregungspotenzial besitzen, obwohl, vielleicht auch weil ihre Realisierungsversuche gescheitert sind.

Aus den genannten methodologischen Regeln ergibt sich als eine dritte Anforderung, dass die Verbindung von wissenschaftlicher Analyse und normativ begründeter Gesellschaftskritik unbedingt zu beachten ist. Ein demokratischer Marxismus unterscheidet sich auch methodologisch von sozialtheoretischen Versuchen, die auf eine normative Letztbegründung von Gesellschaftskritik zielen. Kritik des Marx’schen Typus entsteht aus der möglichst präzisen Beschreibung sozialer Verhältnisse, gefolgt von Analysen, die immanente Bewegungsformen dieser Verhältnisse und der durch sie hervorgerufenen Verwerfungen und Krisen aufdecken. So enthält die genaue Beschreibung der Lage arbeitender Klassen in England, die Friedrich Engels seinerzeit geleistet hat, bereits eine radikale Gesellschaftskritik. Für die normative Begründung dieser Kritik muss allerdings etwas anderes hinzukommen. Die ideologischen Selbstlegitimationen kapitalistischer Dynamik produzieren beständig Ansprüche, Erwartungen und auch Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der sozialen Realität nicht erfüllt werden. Solche Diskrepanzen zwischen Sein und Sollen sind ebenfalls eine wichtige, wenngleich nicht die einzige Quelle von Gesellschaftskritik, wie sie ein democratic marxism anstrebt. Die normativen Maßstäbe dieser Kritik können aus dem hegemonialen »Geist des Kapitalismus«31, den Rechtfertigungsordnungen kapitalistischer Gesellschaften, herausgefiltert werden. Wie sich noch zeigen wird, stellen die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen32 eine normative Grundlage sowohl von Kapitalismus- als auch von Sozialismuskritik dar, denn sie eignen sich, um Bestehendes und Erreichtes mit dem Nötigen und Wünschbaren abzugleichen.

Als weitere methodologische Regel folgt daraus: Die Maßstäbe, an denen sich eine nächste sozialistische Gesellschaft messen lassen muss, dürfen nicht hinter das normative Fundament zurückfallen, das zuvor den Maßstab für Kapitalismuskritik lieferte. Rosa Luxemburg hat das in ihrer bereits angesprochenen Auseinandersetzung mit den Bolschewiki sehr deutlich gemacht. Die autoritäre Versuchung, vor der sozialistische Revolutionen nicht gefeit seien, stelle sich bereits ein, wenn das, was von außen, von politischen Gegnern als Notmaßnahme aufgezwungen werde und zeitweilig kaum vermeidbar sei, zur Normalität erhoben und als emanzipatorische Praxis verklärt werde.33 Um dergleichen zu vermeiden, benötigen sozialistische Gesellschaften einen institutionalisierten Zweifel, also öffentliche, wissenschaftlich fundierte Gesellschaftskritik, die – wie im Kapitalismus – ihre normativen Maßstäbe offenzulegen hat.

Halten wir fest: Die Suche nach einer Neudefinition von Sozialismus kann methodologisch auf eine Reinterpretation klassischer Sozialismustexte und -konzepte zurückgreifen, sie hat analytischen Reduktionismus zu vermeiden und muss sich ihrer normativen Grundlage bewusst sein. Diesen methodologischen Anforderungen kann hier nur annäherungsweise entsprochen werden, denn sie klagen eine Systema tik ein, die ein Essay nur sehr bedingt einzulösen vermag. Bei dem Bemühen um eine Redefinition von Sozialismus gilt es außerdem zu bedenken, dass marxistische Begründungen sozialistisch-kommunistischer Gesellschaften nur eine Option unter anderen möglichen darstellen. Protagonist:innen der neuen Sozialismus-Debatte kommen häufig ohne umfassenden Rückgriff auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie aus. Die Autorinnen des Manifests Feminismus für die 99 % berufen sich vorzugsweise auf kapitalismuskritische Strömungen in der Frauenbewegung.34 Thomas Piketty grenzt seinen partizipativen Sozialismus ausdrücklich von marxistischen Konzeptionen ab.35 Michael Brie und Claus Thomasberger beziehen sich in ihrem Plädoyer für einen freiheitlichen Sozialismus stärker auf Karl Polanyi als auf Karl Marx und Friedrich Engels.36 Brigitte Aulenbacher verknüpft Polanyis Ideen mit Debatten um eine Care-Revolution37 und Evgeny Morozovs digitaler Sozialismus nimmt, wie Thomas Piketty, eher auf sozialdemokratischen Reformismus als auf revolutionäre Sozialismuskonzeptionen Bezug.38 Der Sozialismus eines John Stuart Mill findet ebenfalls wieder Anerkennung39 und manifestiert sich in zeitgenössischen Entwürfen als Spielart eines neuen Sozialliberalismus.40 Die Liste mit Referenzen für eine zukunftsträchtige Sozialismus-Diskussion ließe sich erheblich erweitern, und die Vielfalt der Interventionen kann, so sie denn zu konstruktiver Kontroverse anregt, zweifellos eine Stärke sein. Schon wegen der konzeptuellen Vielfalt müssen sich Sozialismus-Begründungen, die der Methodik eines democratic marxism entsprechen wollen, ihrem theoretischen Erbe behutsam und kreativ nähern, ohne es als einen Steinbruch zu betrachten, der nahezu jede beliebige Interpretation erlaubt. Blicken wir daher auf die Ursprünge des marxistischen Sozialismus zurück.

Die Utopie des Sozialismus

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