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Die Vorgeschichte
Der Erste Weltkrieg – Zweierlei Arbeiterbewegung Das Ja zum Krieg

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»Der Krieg ist unausrottbar in der Gesellschaft der Warenproduktion, welche nicht bloß Klassengegensätze, sondern auch nationale Gegensätze erzeugt. (…) Den Krieg zu beseitigen gibt es nur ein Mittel, die Gegensätze zu beseitigen, die ihn erzeugen. Das können nur die Arbeiter, das kann nur die Sozialdemokratie.«18

Seit ihrer eigentlichen Gründung 1875 forderte die SPD die Demokratisierung des Militärwesens und damit – so hoffte man – die Verhinderung imperialistischer Kriege. Preußischer Militarismus und Sozialdemokratie schienen unüberwindliche Gegensätze. Von Parteitag zu Parteitag wurde die Formel von der Volkswehr, dem Milizsystem, wiederholt. Von Anfang an war diese Formel jedoch nicht pazifistisch und schloss – obwohl der Proletarier laut Marx und Engels kein Vaterland hatte – Verteidigungskriege nicht aus.

Mit den Jahren machte die Partei eine Wandlung durch. Zwar wurden immer noch die Militärvorlagen im Parlament abgelehnt, aber man wollte nicht länger vaterlandsloser Geselle sein. Schon von Anbeginn tat sich die Schwachstelle der sozialdemokratischen Militärpolitik auf: die »Vaterlandsverteidigung«.

Der Parteivorsitzende Bebel, vom Schreckgespenst des russischen Zarismus getrieben, hatte 1904 den berühmten Ausspruch getan, »dass selbstverständlich die Sozialdemokraten die Flinte auf den Buckel nehmen würden, wenn es sich darum handelte, Deutschland vor wirklichen Gefahren zu bewahren«.19 Als Burgfriedenspolitik mit den Herrschenden war das nicht gemeint, sondern als Verteidigung »nicht für, sondern gegen Euch«.20 Und meinte mit »Euch« die Herrschenden des Deutschen Reiches. Doch der Wind drehte sich weiter: Gustav Noske sagte 1907 bei seiner Jungfernrede im Reichstag: »Wir sind selbstverständlich der Meinung, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk nicht von irgendjemand anderem an die Wand gedrückt wird (…) Wenn ein solcher Versuch gemacht werden sollte, dann würden wir uns selbstverständlich mit ebenso großer Entschiedenheit wehren, wie das nur irgendeiner der Herren auf der rechten Seite des Hauses tun kann.«21

Der tosende Beifall der Bürgerlichen und der Reaktion war ihm sicher. Vergessen das Erfurter Programm und seine Erklärung des Krieges als dem Kapitalismus immanent. Das »deutsche Volk« war plötzlich wichtiger als der Proletarier und musste verteidigt werden. Kein Klassenkampf mehr, sondern jetzt doch Burgfrieden. Gleichzeitig wurde hier schon die Zusammenarbeit mit den »Herren auf der rechten Seite« angekündigt.

Bebel nahm Noske gegen Kritik, u a. von Rosa Luxemburg, in Schutz und stimmte der Rede – im Prinzip – zu. Noskes Meinung fand immer mehr Anklang in der Parteiführung. Nicht umsonst bezeichnete sein Freund Ebert die Rede später als »Programmrede der deutschen Sozialdemokratie für den Weltkrieg«22.

Liebknecht setzte die antimilitaristische Agitation der Jugend dagegen: »Wer die Jugend hat, hat die Armee«23. Rosa Luxemburg plädierte für den Internationalismus: »Verweigerung der Rüstung zu Lande und zu Wasser … die militärische Organisation … demokratisieren … Jugenderziehung … Propaganda des Milizsystems, Massenversammlungen, Straßendemonstrationen« und »Massenstreik!«24

Nur mit sich immer mehr steigernden Aktionen, die »in eine entscheidende revolutionäre Massenaktion« münden sollten, sei der Krieg in imperialistischen Zeiten zu verhindern.25 Massenstreiks als Mittel gegen den Krieg.

Auch Bebel hatte noch im Dezember 1905, nach der ersten Marokkokrise und unter dem Eindruck der Russischen Revolution, im Reichstag mit Generalstreik im Kriegsfall gedroht: »Was das russische Volk seinem Herrscher gezeigt hat, […] das können unter Umständen auch die westeuropäischen Völker ihren Herrschern zeigen. […] Die Völker lassen sich in keinen Krieg mehr hetzen; darauf können Sie sich verlassen.«26

Doch schnell ruderte er zurück. Hatte man auf dem Jenaer Parteitag der SPD 1905 dem Massenstreik – allerdings nur als Abwehrmaßnahme gegen eine eventuelle Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts im Reich27 – zugestimmt, war die Parteileitung in einer Geheimvereinbarung mit der Gewerkschaftsführung davon wieder abgerückt. Mit dieser politischen Streikphobie setzten sich die deutschen Sozialdemokraten, sehr gegen den Widerstand der Linken in der SPD, von den französischen Sozialisten ab. Auf dem Stuttgarter Sozialistenkongress 1907 sprachen sich Jean Jaurès und seine Genossen für den Massenstreik aus.28 Gustave Hervé plädierte sogar für Militärstreiks (auch Massenfahnenflucht) plus Aufstand.29 August Bebel lehnte sowohl den Vorschlag Jaurès’ als auch denjenigen von Hervé ab, hauptsächlich, weil er die Existenz der SPD gefährdet sah. Bebel glaubte, dass die Sozialisten einen Angriffsvon einem Verteidigungskrieg unterscheiden könnten.30 Hervé kritisierte dies heftig: »Wenn aber einmal zwischen Großmächten ein Krieg ausbrechen wird, dann entfacht die übermächtige kapitalistische Presse einen solchen Sturm des Nationalismus, dass wir nicht Kräfte genug haben, um dem entgegenzutreten. Dann ist es zu spät mit eurer ganzen feinen Unterscheidung.« Und er sah die Wandlung der SPD: »Aber jetzt seid ihr nur noch Wahl- und Zahlenmaschinen (Heiterkeit), eine Partei mit Mandaten und Kassen. Mit Stimmzetteln wollt ihr die Welt erobern. […] Jetzt ist die ganze Sozialdemokratie verbürgerlicht und Bebel ist unter die Revisionisten gegangen, indem er uns heute gesagt hat: Proletarier aller Länder, mordet euch! (Große Unruhe).«31 Rosa Luxemburg übersetzte simultan, nannte Hervé aber ein »Enfant«, ein »Enfant terrible«, weil er für einen Aufstand plädiert habe, ohne dass eine revolutionäre Situation vorhanden sei. Auf Massenstreik und »Ausnutzung des Krieges zur Beschleunigung des Sturzes der Klassenherrschaft« wollte sie allerdings nicht verzichten und musste sich damit »auch leider gegen Bebel wenden«.32 Ihr gelang es, unterstützt von Julius Martow und Lenin, die damals trotz erfolgter Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Menschewiki und Bolschewiki noch zusammenarbeiteten, einen Resolutionsentwurf durchzubringen, der die Tür zum Massenstreik bei Kriegsgefahr offen ließ.33 Doch der Parteivorstand hatte diese Tür längst, in Übereinstimmung mit der Gewerkschaftsführung, zugeschlagen.

Und die »Lustigen Blätter« dichteten nach Noskes Reichstags-Jungfernrede:

»Hervé will Soldatenstreik

Liebknecht spricht so ähnlich

Ledebour zeigt sich dem Heer

Auch nicht sehr versöhnlich […]

Aber dennoch, Mut! nur Mut!

Lasst’s euch nicht verdrießen

Denn wir wissen absolut:

Noske der wird schießen!«34

Einer ging noch weiter. Der ehemals linke Gewerkschaftsführer Gustav Bauer führte im November 1913 aus: »Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles, sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könne oder nicht und danach ist ihr Verhalten einzurichten.« Es gab nach Bauer nur noch zwei Formen von Kriegen: nützliche und unnütze. Krieg musste zudem vom Proletariat akzeptiert werden, weil es nicht unterscheiden konnte, wer Angreifer und Verteidiger war.

Bauer kündigte hier den Herrschenden – er wusste, dass Spitzel im Publikum saßen – an, dass man sich auf ihn und andere SPD-Führer würde zukünftig verlassen können.35


Abb. 3 Rosa Luxemburg und Kostja Zetkin, ca. 1907

Die »Schiefe Ebene«, die Rosa Luxemburg wenige Monate vorher auf dem Parteitag in Jena entdeckt hatte, eine Bahn, »auf der es keinen Halt mehr gibt«36, sollte zur Talfahrt ins Massengrab werden.

Mit dem Tod Bebels 1913 und der Übernahme der Macht in der Partei durch den neuen Parteivorsitzenden Friedrich Ebert war der rechte Flügel um Philipp Scheidemann, Eduard David, Carl Legien, Wolfgang Heine, Carl Severing, Gustav Bauer, Wilhelm Keil und nicht zu vergessen Gustav Noske in der Überzahl. Denn Hugo Haase, der zweite Vorsitzende, hatte wenig Einfluss und kam gegen Ebert nicht an.

Sommer 1914. Die Zeichen standen auf Krieg. Deutschland – dessen Führung das Risiko eines Weltkrieges einging und Österreich-Ungarn zum Krieg gegen Serbien drängte – schien von Russland bedroht. Das glaubten auch die führenden Sozialdemokraten. Und sie glaubten es gern, weil ihnen der Krieg endlich Anerkennung und vielleicht auch ein paar soziale Zugeständnisse der Regierung einbringen würde.37

Man konstruierte sogar ein Verlangen von unten und sah sich »in vollster Übereinstimmung mit dem Denken und Fühlen der Massen«, wie Konrad Haenisch – ein Ex-Linksradikaler – nach seinem Rechts-Schwenk bei Kriegsbeginn behauptete.

Doch die Proletariermassen gingen am 31. Juli gegen den Krieg auf die Straßen, zu einer Zeit, als die Führung der SPD schon mit der Reichsleitung verhandelte.

Und ein deutsch-französischer Massenstreik hätte durchaus Aussicht auf Erfolg haben können, denn die französischen Gewerkschaften zeigten sich noch auf dem Höhepunkt der Julikrise 1914 streikbereit. Jedoch musste der französische Gewerkschaftsführer Léon Jouhaux bei einem Treffen mit dem deutschen Gewerkschaftsführer Carl Legien am 27. Juli 1914 feststellen, dass es in Deutschland keinerlei entsprechende Bereitschaft gab.38 Auch ein Aufruf Jouhaux’ an Legien zum Generalstreik vom 30. Juli 1914 blieb unbeantwortet.

Angeblich schlug bei den deutschen Proletariermassen ab 1. August die Stimmung um. Noch 1976 zeigte sich der Historiker Manfred Scharrer überzeugt, die Arbeitermassen seien zu diesem Zeitpunkt für den Krieg gewesen und hätten die Führung zum Opportunismus getrieben.39

Aber waren die Massen plötzlich von einem Tag auf den anderen kriegsbegeistert geworden? Nicht nur Richard Müller40 oder die DDR-Historiker41, sondern auch neuere Forschungen stellen dies in Zweifel.42 Weder eine große Kriegsbegeisterung noch eine totale Gegnerschaft zum Krieg ist im August 1914 feststellbar.

Ersteres ist später von führenden Parteigenossen einfach herbeiphantasiert worden. Mehrheitlich herrschte nach dem 1. August bei den Arbeitern eher Niedergeschlagenheit. Man war enttäuscht von der Parteiführung.43 Und wer von den Arbeitern einrückte, tat das ohne Begeisterung. »Alle haben das Gefühl, es geht direkt zur Schlachtbank.«44

Wenn aber Niedergeschlagenheit vorherrschte, hätte eine konsequente Kriegsgegnerschaft der Führung auch die Masse der Arbeiter gegen den Kriegstaumel immun gemacht, ja für Gegenaktionen geöffnet:

»Die Massen, Unorganisierte und besonders Organisierte, hätten Mut bekommen, hätten den Krieg besser durchschaut und hätten das getan, was man ihnen heute in Deutschland vorwirft, und was sie leider nicht getan haben: sie hätten die Front erdolcht.«45

Das wollte die Führung schlicht und einfach nicht.

Während das Ultimatum an das neutrale Belgien zwecks Durchmarsch Richtung Paris längst vorbereitet war – denn so sah der deutsche »Verteidigungskrieg« gegen Russland tatsächlich aus –, ermahnte Reichskanzler Bethmann Hollweg die SPDFührer zur Mäßigung. Man solle den Kriegsgegner nicht provozieren. Und die Sozialdemokraten, gebauchpinselt von der Audienz beim Reichskanzler, versicherten, endlich anerkannt, »gerade aus dem Wunsch heraus, dem Frieden zu dienen«, dass keine Streikaktionen oder ähnliches geplant seien.46

Die Führer der ehemals revolutionären Partei ließen sich nur zu gerne hinters Licht führen.

Schließlich stimmte man am 4. August 1914 den Kriegskrediten zu, schaffte es sogar, die widerstrebenden Linken (darunter Karl Liebknecht) per Fraktionsdisziplin zur Zustimmung zu zwingen. Rosa Luxemburg »wurde von konvulsivischen Wein- und Wutkrämpfen geschüttelt«.47 Selbst Lenin im Schweizer Exil hielt die Nachricht für das, was man heute als Fake-News bezeichnet.48


Abb. 4 August 1914: Kaiser Wilhelm II. auf dem Balkon des Stadtschlosses verkündet den Krieg

November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts

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