Читать книгу November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts - Klaus Gietinger - Страница 6

Vorwort

Оглавление

In den letzten Jahren haben einige Nachwuchshistoriker wichtige neue Forschungsergebnisse zu Einzelaspekten der Novemberrevolution veröffentlicht. Dadurch hat sich unser Wissen über die beteiligten Akteure, Ereigniskonstellationen und Organisationen wesentlich verbessert. Die »vergessene Revolution« hat neue Konturen und Kanten bekommen, und manche Gewichte haben sich verschoben. Wer die neueren Quelleneditionen und Untersuchungen durchmustert, bekommt einen nachhaltigen Eindruck davon, welche Lernprozesse bei den durch Krieg, Hunger und Ausbeutung zur Verzweiflung getriebenen Unterklassen abliefen, und wie sie eineinhalb Jahre lang immer wieder neu ansetzten, um die alten Herrschaftsstrukturen zu überwinden und eine friedliche, selbstverwaltete und sozial gerechte neue Gesellschaft aufzubauen.

Warum ist dieser Aufbruch gescheitert? Warum gelang es den deutschen Arbeiter- und Soldatenräten nicht, die alten Gewalten auszumanövrieren? Selbstverständlich haben sich jüngere Historiker auch diese Frage vorgelegt und sie in den von ihnen untersuchten Teilgebieten reflektiert. Sie haben die Unentschlossenheit, die mangelnde Koordination und die fehlende Weitsicht der Akteure herausgearbeitet – so etwa das Versagen des Revolutionsausschusses während des Berliner Januaraufstands, das Fehlen einer zielgerichteten politischen Praxis bei den herausragenden Persönlichkeiten des Umsturzes oder den allzu obsessiven Blick der Revolutionären Obleute auf legitimierende Rätekongresse. Allen diesen Studien ist auch das Erschrecken über das exzessive Ausmaß der konterrevolutionären Gewalt anzumerken, mit denen die kollektiven Subjekte des Umsturzes konfrontiert waren. Dieses Phänomen war jedoch überall zu beobachten, und zwar mit ständig wachsender Intensität. Es musste somit fundamentale strukturelle Ursachen geben, die sich den Historikern jedoch aufgrund ihrer begrenzten Sichtweisen und Fragestellungen nicht erschlossen hatten. Die tieferen Ursachen des Scheiterns der deutschen Revolution können offensichtlich erst dann entschlüsselt werden, wenn wir die gegeneinanderstehenden Kräfteverhältnisse der revolutionären Nachkriegskrise vom November 1918 bis Frühjahr 1920 in den Blick nehmen.

Genau hier setzt die vorliegende Studie Klaus Gietingers an. Sie schließt die Lücke, die zwischen dem durch die neuen Forschungen erweiterten Wissensfundus und den bis heute weitgehend tabuisierten Rahmenbedingungen entstanden war, und war somit überfällig. Wir verdanken sie nicht zufällig einem Autor, der sich seit langem mit der spezifischen Dynamik der deutschen Konterrevolution auseinandersetzt.

Klaus Gietinger gibt einen konzentrierten Überblick über die wesentlichen Etappen der eineinhalbjährigen revolutionären Nachkriegskrise, die zu Unrecht auf ihren Auftakt von Anfang November 1918 verkürzt wird. Dieser Auftakt war in der Tat außergewöhnlich. Alles begann mit dem Aufstand der Matrosen der Kriegsflotte, des Herzstücks des kaiserlichen Militärapparats. Nachdem sie ihre Standorte unter Kontrolle gebracht hatten, schwärmten die Aufständischen – überwiegend zum Kriegsdienst gezwungene Industriearbeiter – ins Reichsgebiet aus. Sie befreiten in der ersten Novemberwoche ihre Mitstreiter aus den Militärgefängnissen und Zuchthäusern, schlossen sich mit den ArbeiterInnen der Industriezentren und Bahnknotenpunkte zu Arbeiter- und Soldatenräten zusammen und bauten in Berlin die Volksmarinedivision auf. Bei Gietinger können wir das Auf und Ab des darauf folgenden revolutionären Prozesses nachlesen, der bis zum Frühjahr 1920 andauerte: die Umsturztage am 9. und 10. November in Berlin; die Weihnachtskämpfe um das Berliner Schloss; den Januaraufstand als gescheiterter zweiter Anlauf der von riesigen Massendemons -trationen beflügelten Revolutionären Obleute, des linken Flügels der USPD und der inzwischen gegründeten KPD; die kurzlebige Sozialistische Republik Bremen; die Massen- und Generalstreiks im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland im Februar/März 1919; den im blutigen Terror erstickten Berliner Generalstreik Anfang März 1919; die Bayerische Räterepublik vom März/April 1919 und die Märzrevolution 1920 als letztes Aufbäumen im Anschluss an den Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch. Dabei scheute sich die wieder eingesetzte Regierung nicht, gegen die Aufständischen dieselben Truppenverbände einzusetzen, die gerade gegen sie geputscht hatten.

An diesem Schlusspunkt des revolutionären Zyklus tritt das wesentliche strukturelle Moment seines Scheiterns besonders krass zutage: Die politischen Entscheidungsträger und Koordinatoren der Konterrevolution waren Spitzenvertreter der Sozialdemokratie. Wie Gietinger nachweist, hatten sie sich von Anfang an gegen den von wesentlichen Teilen der SPD-Basis mitgetragenen revolutionären Aufbruch gestemmt. Schon am 10. November 1918 hatte Friedrich Ebert, als führender Exponent des Rats der Volksbeauftragen, einen strategischen Pakt mit der Obersten Heeresleitung (Wilhelm Groener) geschlossen, und wenige Tage später war dieses Bündnis durch ein Abkommen zwischen der Gewerkschaftsführung (Carl Legien) und der Rüstungsindustrie (Hugo Stinnes) sozialpolitisch untermauert worden. Auf dieser Grundlage entfaltete sich eine intensive Kooperation zur Eindämmung und Niederschlagung der sozialrevolutionären Dynamik auf allen Ebenen, die die seit Kriegsbeginn beschleunigte Integration der überwiegenden Mehrheit der Funktionsträger der Arbeiterbewegung in die Machtstrukturen einer »total« entfesselten Kriegführung auf eine qualitativ neue Stufe hob. Dabei unterliefen der Bündniskonstellation Generalität-Arbeiterbürokratie zunächst erhebliche Fehler, so etwa beim gescheiterten Putsch gegen die Einberufung des Reichsrätekongresses oder bei den Berliner Weihnachtskämpfen. Aber ihre Exponenten waren lernfähig und verständigten sich auf die Anwendung exzessiver Gewaltmethoden und systematischen Terrors. Seit dem Januaraufstand hatten es die Massen der ArbeiterInnen mit einer entfesselten Soldateska zu tun, die Panzer, Flugzeuge, Artillerie und Minenwerfer im Stadtkampf einsetzte und sich schließlich seit der Niederschlagung des Berliner Generalstreiks vom März 1919 auf einen Schießbefehl stützen konnte, der einen durch die in den zentralen politischen Gremien agierende SPD-Führung und später auch die SPD-Fraktion der Weimarer Nationalversammlung gedeckten Freibrief zum Massenmord darstellte. Gietinger zeigt, welch ungeheuer demoralisierende Wirkung dieser durch die Sozialdemokratie gedeckte Weiße Terror auf die arbeitenden Klassen ausübte. Er sieht darin zu Recht eine politisch-militärische Konstellation, der die Organisationsansätze und Akteure des revolutionären Aufbruchs nicht gewachsen waren. Was hier geschah, war in der Tat ungeheuerlich: Ein sozialdemokratischer Minister (Gustav Noske) hatte einen durch seine Parteiführung gedeckten Schießbefehl erlassen, der die Kontinuität zu den deutschen Kolonialmassakern zu Beginn des Jahrhunderts und zu den während des Ersten Weltkriegs begangenen Kriegsverbrechen herstellte. Jetzt wurde auch die eigene Bevölkerung Opfer eines enthemmten Vernichtungswillens. Gedeckt wurde dieses Vorgehen durch alle politischen Führungsgremien. In ihnen hatte die Mehrheitssozialdemokratie eine unangefochtene Monopolstellung erlangt, nachdem die an ihnen beteiligten USPD-Vertreter aus ihnen ausgetreten bzw. ihre Kooptation in sie abgelehnt hatten. Das Einschwenken der Mehrheitssozialdemokratie auf ihren staatsterroristischen Kurs wurde somit durch schwere politische Fehler auf der Seite der seit 1916 von ihr abgespaltenen Unabhängigen Sozialdemokraten erleichtert.

Im vorliegenden Buch kommen auch die langfristigen Auswirkungen des Triumphs der deutschen Konterrevolution zur Sprache. Die zumindest zeitweilige Schwächung des deutschen Militarismus konnte nach Lage der Dinge nur noch durch die siegreichen Entente-Mächte erzwungen werden. Das konterrevolutionäre Bündnis zwischen der Generalität und der Sozialdemokratie löste sich nur unter dem Druck von außen auf. Militärischer Widerstand gegen den Versailler Vertrag und seine Abrüstungsbestimmungen war nicht möglich, und damit wurde eine im Juni 1919 nochmals erwogene Militärdiktatur unter den Galionsfiguren Noske und Ebert hinfällig. Stattdessen scheiterte ein Staatsstreich der Militärs gegen ihre bisherigen politischen Partner (der Kapp-Lüttwitz-Putsch). Nun gingen die Wege tatsächlich auseinander, aber die Kampftruppen des Weißen Terrors existierten untergründig weiter und wurden zusammen mit den sie finanzierenden Rüstungsmagnaten zu Keimzellen des Faschismus und eines erneuerten militärischindustriellen Komplexes, der auf einen Revisionskrieg zusteuerte und nur auf seine Chance wartete, die Weimarer Republik zu zerstören.

Angesichts dieser auch weltgeschichtlich weitreichenden Folgen des gescheiterten deutschen Frühlings stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei dem nach dem Matrosenaufstand zustande gekommenen Übergewicht der politisch-militärischen Konterrevolution um ein singuläres Ereignis gehandelt hat. Die deutsche Revolution war in eine weltweite Umsturzbewegung eingebettet. Ihr unmittelbarer Auslöser waren die Entbehrungen des Kriegs, gegen die die Unterklassen – die zum Militär gepressten Bauern und Industrieproletarier und ihre Familien an den »Heimatfronten« – seit 1916/17 zu revoltieren begannen. Dabei formierten sich in Russland, den USA und auf dem gesamten europäischen Kontinent – auch in mehreren neutralen Ländern – breite soziale Massenbewegungen, die sehr schnell mit den Kräften der Konterrevolution konfrontiert waren. In den USA wurde ein vor allem von revolutionären Syndikalisten initiierter und gegen den Kriegseintritt gerichteter Streikzyklus 1917 blutig unterdrückt, und eine nach Kriegsende in Gang gekommene Massenstreikbewegung – die größte der bisherigen US-amerikanischen Arbeitergeschichte – wurde mit offenem Terror und der Massenausweisung rebellischer MigrantInnen beantwortet. In Russland kam es dagegen im Februar 1917 zum Sturz des Zarismus und zur Bildung einer Übergangsregierung, die die sozialrevolutionären Prozesse – Massendesertionen, Betriebsbesetzungen und die Enteignung des Großgrundbesitzes durch Bauern und Bauern-Arbeiter – nicht zu kanalisieren vermochte. Durch den Oktoberumsturz der Bolschewiki wurden diese Errungenschaften zunächst institutionell verankert, dann aber durch gravierende innen- und außenpolitische Fehlentscheidungen und ein gegen die Massenbedürfnisse gerichtetes Modernisierungskonzept in Frage gestellt. Da sich die Bolschewiki zudem im März 1918 im Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk einem separaten Friedensdiktat der Mittelmächte unterwarfen, vergaben sie die Chance einer gesamteuropäischen Ausweitung der sozialen Umwälzungen. Die Folge war die Entfesselung eines von den Entente-Mächten unterstützten Bürgerkriegs, wobei die Bolschewiki den Weißen Terror mit exzessiv gewalttätigen Methoden beantworteten, nachdem sie mit Hilfe einiger zu ihnen übergelaufener Generalstabsoffiziere eine eigene Armee aufgebaut hatten.

Das waren die wesentlichen internationalen Rahmenbedingungen, mit denen die Akteure und Widersacher der kontinentaleuropäischen Umsturzbewegungen seit dem Herbst 1918 konfrontiert waren. Die Habsburg-Monarchie löste sich von selbst – »von oben« – in ihre Nationalstaaten auf: Österreich durchlief eine sozialreformerische Parametrisierung, die der Arbeiterbewegung erheblichen Terraingewinn einbrachte. In Ungarn spitzte sich die Entwicklung dagegen zu und kulminierte im März 1919 in einer sozialistischen Räterepublik, die fünf Monate später durch eine von innen und außen gestützte Konterrevolution blutig erstickt wurde. Zu dieser Zeit triumphierte der Weiße Terror aber auch in Spanien, und ein Jahr später begann in Italien der Generalangriff der Großgrundbesitzer-Milizen und der faschistischen Kampfbünde auf die Landarbeiterbewegung und die Arbeiterräte. Überall sollte die sozialrevolutionäre Initiative so schnell und so brutal wie möglich vernichtet werden, um die Internationalisierung der von den russischen Soldaten, Arbeitern und Bauern eröffneten Perspektive – Frieden, Land, Arbeiterkontrolle und kollektive Selbstbestimmung – zunichte zu machen. Das war der reale Kern der »Bolschewismus-Psychose«, auf die Klaus Gietinger in seiner Arbeit immer wieder hinweist.

Der internationale sozialrevolutionäre Aufbruch der Jahre 1917 bis 1921 scheiterte somit fast überall am entschlossenen Auftreten der Konterrevolution. Selbst die politischen und sozialreformerischen Zugeständnisse – allgemeines Wahlrecht, Achtstundentag, Ausbau der sozialen Sicherungssysteme – waren häufig nur eng befristet und wurden bald wieder zurückgenommen; sogar mehr oder weniger direkte Übergänge zur Institutionalisierung der Konterrevolution waren – etwa in Ungarn und Italien – zu beobachten. In den USA setzte sich eine rigide Open-Shop-Politik durch, die mit extrem restriktiven Einwanderungsbestimmungen kombiniert war, und in Sowjetrussland begann die Rote Armee 1920/21 offen, gegen die um ihre sozialen Errungenschaften kämpfenden Bauern und Arbeiter vorzugehen.

Der Winter, der sich in Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre wieder ausbreitete, war somit kein Ausnahmephänomen. Und doch gab es ein strukturelles Merkmal, das in allen anderen Szenarien der revolutionären Nachkriegskrise fehlte: das uneingeschränkte Paktieren der deutschen Sozialdemokratie mit der militärischen Konterrevolution und ihre gemeinsame Frontstellung gegen die Unterklassen. In dieser Hinsicht stand die deutsche Sozialdemokratie völlig allein da – so allein wie im Juli/August 1914, als sie alle Angebote ihrer Schwesterparteien in Frankreich und anderswo in den Wind schlug und einen transnationalen Generalstreik gegen die Entfesselung des Ersten Weltkriegs verhindert hatte.

Als Klaus Gietinger vor acht Jahren bei der Edition Nautilus seine wegweisende Studie über Waldemar Pabst, die militärische Schlüsselfigur der deutschen Konterrevolution, veröffentlichte, schlug ich der Historischen Kommission der SPD in meinem Vorwort vor, den Namensgeber ihrer Parteistiftung durch eine allseits respektierte andere Führungspersönlichkeit zu ersetzen. Ich stieß auf lebhafte Ablehnung. Aber die Erinnerungskultur ist ein recht langsames Gefährt, und die Novemberrevolution muss in ihr erst noch ihren Platz finden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meinen Vorschlag auf Umbenennung der Friedrich-Ebert-Stiftung erneuern und um eine weitere Empfehlung ergänzen. Wie wäre es, wenn die Historische Kommission ein Handbuch mit den Kurzbiografien aller jener 4500 bis 5000 Menschen, die unter der Mitverantwortung der SPD dem Weißen Terror der Jahre 1918 bis 1920 zum Opfer fielen, herausbringt? Und wenn sie dazu auch noch die Adressen der Nachkommen ermittelt, dann wäre es dem Parteivorsitzenden möglich, sie – bei gleichzeitiger Überreichung eines Widmungsexemplars – um Entschuldigung zu bitten.

Karl Heinz Roth, im November 2017

November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts

Подняться наверх