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Die Situation der arbeitenden Klassen im Ersten Weltkrieg

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Der gigantische wirtschaftliche Aufschwung, den das Deutsche Reich Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts erlebte, führte nicht nur zum Weltmachtstreben der Herrschenden, sondern hatte auch extreme soziale Verwerfungen zur Folge und verhalf so der SPD zum rasanten Aufstieg.

Es bildeten sich drei große industrielle Zentren heraus: das Ruhrgebiet mit Kohle und Stahl, das mitteldeutsche Dreieck Halle, Leuna, Merseburg mit den Grundstoffindustrien, insbesondere der chemischen Industrie, und Berlin mit den Bereichen Metall, Elektro und Maschinenbau.73 Weitere Kohle- und Stahlzentren waren Oberschlesien, Ostpreußen und das Saarland. Aber auch in den Küstenstädten, in den teils noch agrarisch geprägten Gebieten in Württemberg, Baden und Bayern entstanden Großindustrien. Dies alles ging einher mit Konzentration, Kartellbildungen und dem Niedergang zahlreicher Handwerksbetriebe, aber auch Teilen der Textilindustrie.

Die sozialen Gegensätze verschärften sich aufgrund des Ersten Weltkriegs ab August 1914 durch den Burgfrieden, durch Zwangswirtschaft, Kriegssozialismus, Arbeitshetze, Kriegsdienst, Massensterben an den Fronten, Vernachlässigung der Konsumwirtschaft, Blockade der Alliierten, Hunger und Entbehrungen jeder Art.

Millionen Männer wurden in Uniformen, Jugendliche und Frauen in die Betriebe gezwungen.

Während gleichzeitig die Mangelwirtschaft zu Schwarzhandel, Spekulation, gigantischen Gewinnen der Kapitalisten und einem Leben in Saus und Braus für die Begüterten führten, blieben für die arbeitenden Massen vor allem Ausbeutung, Hunger, Kälte und Not.

Stiegen die Gewinne der Metallindustrie um 175 % und die der chemischen um 200 %, sank der tägliche Durchschnittskalorienverbrauch der Deutschen von 4000 Kalorien vor 1914 auf knapp über 2000 Kalorien 1918, wo fürs Überleben mindestens 3000 Kalorien benötigt werden.74 Die Versorgung mit Fetten und Eiweiß war mehr als mangelhaft, Fleisch, Eier und Milch nur für Wohlhabende zu horrenden Schwarzmarktpreisen zu haben.

Hunderttausende starben auch an der Heimatfront, Millionen erkrankten, magerten ab. Die militärisch-tayloristisch organisierte Kriegsproduktion mit gesteigerter Arbeitsintensität und verlängerten Arbeitszeiten führte zur physischen Erschöpfung vor allem in der Massenproduktion.75 Patriotismus und Annexionsgelüste verflogen bei den in der Industrie arbeitenden Massen, sollten sie je weit verbreitet gewesen sein.


Abb. 7 Anstehen für Erbsen

Auch die Angestellten und Beamten verloren aufgrund von wertlosen Kriegsanleihen und hoher Inflation ihr bescheidenes Vermögen. Löhne und Gehälter stagnierten. Die Mittelklasse stieg ab.

Die Arbeiterklasse war massenhaft in ihrer physischen Existenz gefährdet.

Am stärksten war die soziale Spaltung in der Lebensmittelversorgung zu spüren. Dies war der Nährboden für erste »Ausschreitungen« und soziale »Unruhen«.76

November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts

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