Читать книгу November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts - Klaus Gietinger - Страница 14
Die Massen gegen den Krieg
ОглавлениеKonträr zu den Oligarchen im Parteivorstand zeigte sich an der Basis der SPD ab 1916 immer stärkerer Widerstand gegen den Krieg.77
Ausgehend von den Drehern in Berlin, entwickelte sich eine Art »Vortrupp des Proletariats«, um die 50–80 Mann, aus denen dann später die Revolutionären Obleute hervorgingen. Diese Avantgarde unterschied sich von der Lenins 1917 dahingehend, dass sie nicht autoritär von oben bestimmte, sondern sich immer auf die Mehrheit der Arbeiter stützte. Die Obleute waren keine Bolschewisten im Sinne Lenins, sondern in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »Bolschewiki«: Mehrheitler. Sie erreichten Tausende von Arbeitern in den Berliner Großbetrieben. Es gab Kontakte und Überschneidungen mit der USPD und der Spartakusgruppe um Liebknecht und Luxemburg, gleichwohl blieben die Obleute selbstständig und nicht parteigebunden. Jahrzehntelang wurden sie in der Forschung missachtet78 oder unter das falsche Label »Spartakus« subsumiert.79 Erst durch jüngere Untersuchungen konnte ihre wichtige Rolle in der Revolution belegt werden. Sie waren es und nicht die USPD oder Spartakus, die der Spontanität der Massen, zumindest in Berlin, maßgeblich zum Recht verhalfen.80 Sie stellten sich von Anfang an gegen den Burgfrieden, also den Verzicht auf Klassenkampf im Krieg, kämpften aber erst 1916 dezidiert gegen die Fortführung des Krieges. Zum ersten politischen Massenstreik in der Geschichte Deutschlands kam es nach der Verhaftung von Karl Liebknecht im Mai 1916. Liebknecht und die Gruppe Internationale/Spartakus hatten zum 1. Mai zu einer Demonstration für den Frieden aufgerufen.81 Die SAG mit Georg Ledebour distanzierte sich. Trotzdem fand die Demonstration statt, und Liebknecht wurde, nachdem er am Potsdamer Platz in Soldatenuniform (er musste als »Schipper« Kriegsdienst leisten und bekam nur zu den Reichstagssitzungen Urlaub) »Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung!« gerufen hatte, sofort verhaftet und eingesperrt. Rosa Luxemburg hatte ihn begleitet und ihn sogar mit ihren »Fäuste(n) zu ›befreien‹« versucht: »Ich zerrte an ihm und den Schutzleuten bis in die Wache, wo man mich unsanft abwies.«82
Gegen den bevorstehenden Prozess sollte gestreikt werden.83 In einem Lokal in der Sophienstraße versammelten sich 30 Obleute um den Dreher Richard Müller und beschlossen den Generalstreik. Schon am nächsten Tag, am 28. Juni, streikten 55 000 Metallarbeiter in Berlin (Borsig, AEG, Löwe und Schwartzkopff). Am darauffolgenden Tag schlossen sich nochmals mehrere Berliner Betriebe an, sodass insgesamt 75 000 Arbeiter die Arbeit niederlegten. Die Verurteilung Liebknechts konnte nicht verhindert werden. Er erhielt im November über vier Jahre Zuchthaus. Zahlreiche Streikteilnehmer wurden – verhöhnt von der Parteiführung der SPD als »Kriegsverlängerer«84 – zum Kriegsdienst eingezogen. Gewerkschaftsfunktionäre zögerten nicht, ihre rebellischen Mitglieder an die politische Polizei zu verraten.85 So zitiert ein Protokoll des Oberkommandos in den Marken einen Gewerkschaftsführer: »Gegen den Terrorismus (gemeint sind geplante Streiks, KG) müsste vorgegangen werden.« Er sei bereit, »eine Liste von weiteren Hetzern vorzulegen«, und bat um »finanzielle Unterstützung«.86 Folge waren meist Verhaftung und Kriegsdienst an der Front. Letzteres wirkte durchaus abschreckend und demoralisierend – wer wollte schon verheizt werden?87 Gleichzeitig war diese Maßnahme ein zweischneidiges Schwert, denn so wurden auch die Fronttruppen agitiert.88
Der folgende Winter – der berühmte Steckrübenwinter 1916/17 – war katastrophal, die Versorgungslage schrecklich. Tausende verhungerten, es kam zu Brotrevolten.89 Schließlich folgte ein neuer Streik im April 1917, wieder organisiert von den Obleuten und wieder kam er von der Basis und nicht von den Parteien. Und diesmal waren es schon zwischen 200 000 und 300 000 in Berlin – und nicht nur dort.90 Auch in Halle, Magdeburg und Leipzig war Ausstand angesagt.91 Müller wurde schon bei der Vorbereitung festgesetzt – vermutlich wieder durch Denunzianten in der Führung des Deutschen Metallarbeiter Verbandes (DMV), der traditionellen Gewerkschaft – und trotz seiner extremen Sehschwäche zum Kriegsdienst eingezogen. Neben der Lebensmittelversorgung war auch die Freilassung Müllers eine Forderung der Streikenden. Adolf Cohen, der Stellvertreter Müllers, der die Politik der alten Gewerkschaftsführung vertrat, blies den Streik aufgrund einer Zusage der Militärs, man würde Müllers Verhaftung überprüfen, wieder ab. Und obwohl sich die USPD-Führung, darunter Wilhelm Dittmann, Ledebour und sogar Haase, für die Fortsetzung des Streiks einsetzte, brach er am 23. April endgültig zusammen. Die Parteiführung der SPD und die Gewerkschaftsführungen hatten sich gegen den Streik ausgesprochen und schickten sogar Ergebenheitsadressen an General Groener von der OHL.92 Wieder folgten Repression, Verhaftungen, Denunziationen und Einzug als Kanonenfutter. Gleichzeitig hatten sich erstmals Streikkomitees, also Räte, gebildet, die allerdings noch keine rätedemokratischen Forderungen stellten. Müller, als hochqualifizierter Facharbeiter, entkam nach drei Monaten wieder dem Militärdienst. Die Zusammenarbeit der Obleute mit der Spartakusgruppe und der USPD ging weiter, obwohl es immer mal wieder zu Reibereien kam. Die Spartakusgruppe neigte zum Aktionismus. Gleichzeitig war sie, da sie weniger im Verborgenen agierte als die Obleute, Ziel obrigkeitsstaatlicher Angriffe. Ihre Flugschriftenzentrale wurde ausgehoben, und sie war von Spitzeln unterwandert, sodass die Obleute übervorsichtig agieren mussten. Weitere Streiks wurden jetzt von der USPD organisiert. Eine erste Marinerevolte der Matrosen aufgrund schlechter Essensversorgung 1917 führte zu zahlreichen Zuchthausstrafen und auch Todesurteilen, zwei Matrosen, Albin Köbis und Max Reichpietsch, wurden exekutiert.
Die USPD, die lose Verbindung zu den Matrosen gehabt hatte, war nun verschärfter staatlicher Repression ausgesetzt. Luise Zietz (USPD) und andere wurden inhaftiert. Liebknecht und Luxemburg saßen schon längst. Der Aufruf der Zimmerwalder Bewegung im September 1917 (in Schweden) zum Massenstreik gegen den Krieg fiel bei den gemäßigten USPD-Führern wie Haase nicht auf fruchtbaren Boden. Auch die Oktoberrevolution in Russland führte zu keinen großen Solidaritätsstreiks. Der Einfluss von Spartakus in den Betrieben war relativ gering. Gleichwohl ließ die Revolution in Russland Hoffnung aufkeimen.
Die Führung der traditionellen Gewerkschaften dagegen versuchte weiter im Zusammenspiel mit dem Repressionsapparat die widerständigen Netzwerke aufzudecken, zu denunzieren und die meisten Reorganisationsversuche im Keim zu ersticken.93
Abb. 8 Köbis und Reichpietsch auf DDR-Briefmarken des Verfassers
Die Arbeiterbürokraten in der SPD-Führung verstanden sich derweil mit den Herrschenden im Reich recht gut. Legien und Bauer suchten die OHL schon im Oktober 1917 (im belgischen Spa) auf, um im Tausch gegen ein wenig Sozialreform-Versprechen dem faktischen Militär-Diktator Ludendorff zu versichern, dass man die Massen im Griff habe und jede Unterbrechung der Arbeitstätigkeit in der Rüstungsindustrie bekämpfe, da sie »geeignet sei, die ›Widerstandskraft‹ der Front zu verringern«94. Ludendorff kabelte daher beruhigt dem Kriegsamt, die Arbeitervertreter hätten »offenbar die gute Absicht, dahin zu wirken, dass ihre Arbeiterschaft ruhig bleibt und ihre Pflicht tut«95. Gleichzeitig wurden die Arbeiter- und Soldatenräte der russischen Februar-Revolution 1917, die mehrheitlich keine Bolschewisten waren – zu einem Zeitpunkt, als der Parteichef der Bolschewiki, Lenin, noch in Zürich weilte –, von Bauer schon als bolschewistisch bezeichnet. Während die Mehrheit der SPD gleichzeitig diese hauptsächlich noch bürgerlich geprägte Revolution, Monate vor der Oktoberrevolution, enthusiastisch beklatschte. Bauer erfand einen »negativen Mythos«, das Schreckgespenst einer Partei, die damals weder in der Mehrheit noch an der Macht war.96
Zu einem Massenstreik kam es erst wieder im Januar 1918, die Obleute hatten ihn geplant. Es gelang ihnen durch einen Kompromiss mit der Fraktion der USPD, alle ihre Abgeordneten für den Streik zu gewinnen. Sogar die SPD verlangte – auf Druck ihrer Betriebsvertrauensleute – jetzt mitzumachen, um den Streik, wie sich Ebert ausdrückte, »zum Abschluss zu bringen«97. Man ließ sie herein, Müller glaubte wohl, Teile der SPD nach links ziehen zu können. Wäre dies geglückt, hätte »eine breite Front« für Frieden und Demokratisierung bis hinein ins linksbürgerliche Lager entstehen können.98 Doch das war nicht im Sinne der SPD-Führer. Heilmann (einäugig und mit Kopfschuss aus dem Krieg zurück) und Curd Baake hatten sogar die Regierungsvertreter bestärkt, gegenüber den Streikenden unnachgiebig zu bleiben.
Trotz des Widerstands von Ebert und Scheidemann traten über 500 000 Arbeiter im Januar 1918 in den Streik.99 Für Frieden ohne Annexionen, Pressefreiheit und Demokratisierung. Ein Versuch also, mindestens die bürgerliche Revolution von 1848 nachzuholen. Überall im Reich entstanden spontan Räte. Der Streik wurde auch maßgeblich von Frauen getragen, meist ohne Namenseintrag in das Buch der Geschichte. Die Einzige, die es in den Vorstand der Obleute schaffte, war Cläre Casper-Derfert. Die Regierung lehnte Verhandlungen ab. Am 31. Januar wurde der verschärfte Belagerungszustand (so hieß damals die härteste Form des Ausnahmezustands) verkündet, der Streikausschuss verboten, Dittmann (USPD) verhaftet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Ebert, der auf freiem Fuß blieb, sagte auf einer Massenversammlung im Treptower Park den Streikenden, so wurde es später vor Gericht protokolliert, es sei ihre Pflicht, der Front »das Beste an Waffen zu liefern, was es gäbe« und »der Sieg sei selbstverständlich der Wunsch eines jeden Deutschen«. Doch die Anwesenden beschimpften ihn als »Arbeiterverräter«.100 Und die Streiks gingen weiter.
Eberts als offizielle Streikbeteiligung getarnte Abwiegelungspolitik wurde ihm später zum Verhängnis. Genau wegen dieser Beteiligung wurde er 1923/24 als Reichspräsident von rechten Zeitungen und Mitgliedern der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) des Landes- und Hochverrates geziehen, wo er doch 1918 nur den Streik hatte abwürgen wollen. Er klagte mehrfach vor Gericht, was ihn sehr mitnahm, verschleppte eine Blinddarmentzündung und starb. Sebastian Haffner bemüht dazu eine Ballade von Annette Droste-Hülshoff, in der ein Schiffbrüchiger einen anderen von einer Planke stößt, auf der steht »Batavia 510«. Gerettet, wird er fälschlich für einen gesuchten Seeräuber gehalten und zum Tode verurteilt. Zur Hinrichtung geführt, liest er am Galgen »Batavia 510«.101
Am 1. Februar drohte die militärische Besetzung wichtiger Betriebe, die USPD-Vertreter Haase und Ledebour wurden weich, verhandelten separat mit dem Reichskanzler, während die Spartakusgruppe Kampf wollte, aber die Obleute beschlossen, um Blutvergießen zu verhindern, am 3. Februar den Abbruch des Streiks. Wieder folgten brutale Repression, Verhaftungen, Einberufungen, auch Richard Müller wurde wieder in den Krieg geschickt und kam erst im September 1918 zurück. Trotz erneuter Demoralisierung war vielen klargeworden, welche Macht die geballte, von unten organisierte Arbeiterklasse in Berlin hatte.
Doch die SPD-Führung war nun nicht untätig. Die Basis musste dringend reorganisiert werden. War in den letzten Jahren des Krieges der Vertrauensschwund in der Arbeiterschaft enorm gewesen – in Berlin hatte die SPD am 1. Juli 1917 grade noch 6500 Mitglieder, die USPD dagegen 28 000 –, so gelang es ihr peu à peu, sich an der Basis zu reorganisieren. Als sie im Oktober 1918 selbst staatstragende Partei geworden war, war ihr Mitgliederbestand wieder auf ca. 20 000 gestiegen, etwa gleichviel wie die USPD zu diesem Zeitpunkt hatte.102
Im September gab die OHL den Krieg für verloren. Ludendorff forderte Waffenstillstandsverhandlungen und den Eintritt von SPD und des Zentrums in die Regierung, wie auch die volle Parlamentarisierung (Regierungskontrolle und Kanzlerwahl durch den Reichstag, nicht durch den Kaiser), da er so glaubte, den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson milde stimmen zu können. Gleichwohl ging der Krieg unvermindert weiter.
Am 4.10.1918 traten Scheidemann und Bauer (SPD) und Erzberger (Zentrum) als Staatssekretäre in die Regierung ein. Zudem wurde der Kontakt der SPD-Führung mit der militärischen Führung immer inniger. Ebert, David und Scheidemann besuchten Ludendorff und Hindenburg in ihrem Hauptquartier. Und als deren Absetzung als einflussreiche Chefs der OHL und faktische Militärdiktatoren im Oktober 1918 durch den Kaiser ins Kalkül gezogen wurde, nahm Scheidemann sie in Schutz. Man müsse »Hindenburg und Ludendorff jeden Anlass nehmen, die angegebenen Konsequenzen zu ziehen«103. Also zurückzutreten. Trotz dieses sozialdemokratischen Schutzschildes entließ der Kaiser Ludendorff wenige Tage später. Aber auch die seinen waren gezählt.