Читать книгу November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts - Klaus Gietinger - Страница 9
Kurze Geschichte der Geschichte der Novemberrevolution
ОглавлениеDer 100. Jahrestag dieser Revolution wird hoffentlich eines bewirken: sie dem Vergessen zu entreißen. Denn die Novemberrevolution 1918 ist der vergessene Frühling des 20. Jahrhunderts. Das Vernichtungswerk der Nazis, das sich immer auf diese Revolution bezog, der Hitler-Putsch im November 1923, mehr noch der November 1938 mit dem staatlich organisierten deutschlandweiten Judenpogrom und dem folgenden Massenmord schaffte es, die erste erfolgreiche Demokratiebewegung in diesem Land aus der Erinnerung der Deutschen zu tilgen. Obendrein – was für ein Zufall – tat der November 1989 mit dem Ende der DDR, der letzten Ausgeburt des verpassten Frühlings, ein Übriges.
Was die Beurteilung der deutschen Revolution von 1918/19 durch Historiker angeht, gibt es seit Ende des Zweiten Weltkrieges im Westen und dann in der vereinten Republik auch zwei Strömungen, die sich immer wieder abwechseln, von denen die eine immer wieder alte Kamellen anbietet, die andere immer wieder Neues hervorbringt, auch wenn sie partiell Täuschungen unterlegen sein sollte.13
In der BRD gewann in den 50er Jahren die These von der Abwehr des Bolschewismus durch die SPD-Führer die Oberhand. Sie stützte sich auf alte Mythen, die im Bürgertum und der Sozialdemokratie kursierten, seit Wladimir Iljitsch Lenin und die Bolschewiki die Duma, das russische Parlament, vertrieben hatten und ihre Herrschaft mit Terror festigten.
Vorherrschend war die weit verbreitete Ansicht, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die revolutionären Massen, die USPD und die KPD, alle unter dem Begriff »Spartakisten« über einen Kamm geschoren, wollten in Deutschland eine Herrschaft wie Lenin und Trotzki und später Stalin in Russland errichten. Dies wurde noch verfestigt durch die DDR-Geschichtsschreibung, welche den Einfluss von Spartakus und KPD stark übertrieb.
Doch schon Ende der 50er Jahre entdeckten jüngere Historiker wie Peter van Oertzen, Eberhard Kolb und Ulrich Kluge die Räte und bedauerten die verpassten Chancen. Die 68er nahmen sich die Räte gar zum Vorbild. Ende der 80er kam es schon vor dem Ende der Sowjetunion und der DDR zum Rollback, der sich nach dem Untergang des »Realsozialismus« dann noch verstärkte. Frühere Ebert-kritische Historiker wie Winkler ruderten zurück und sahen 1918/19 durch die alternativlose Politik von Ebert et al. einen Bürgerkrieg verhindert.14
Nach der Jahrtausendwende sind dann zwei sich überlagernde Entwicklungen zu beschreiben: Die eine treibt den Rollback auf die Spitze, angeführt von Christopher Clarks Die Schlafwandler, wo massenwirksam die Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns zu Unschuldslämmern mutieren und der Erste Weltkrieg im Wesentlichen durch Serbien, Russland, Frankreich und Großbritannien verursacht wird.15 Dem schlossen sich zahlreiche deutsche Historiker an und fühlten sich endlich befreit von früher deutscher Verantwortung für ein Massenmorden, das vom deutschen Wesen gar nicht ausgegangen sein konnte.
Eine zweite Entwicklung ist dagegen erfreulich: Junge Historiker entdecken die Räte neu, verhelfen den basisdemokratischen Massen wieder zu ihrem Platz in der Geschichte und machen klar, welch Jahrhundert-Frühling hier möglich gewesen wäre.