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Literatur als Lebenshilfe. Über Christa Wolf (1929 – 2011)
Für Besucher der deutschen Hauptstadt ist der Dorotheenstädtische Friedhof im Bezirk Mitte, gleich hinter dem Brecht-Haus in der Chausseestraße, ein Muss. Brecht selbst ist dort beerdigt, Hegel, Fichte, Heinrich Mann und viele andere große Autoren und Intellektuelle. Unweit der Gräber von Hans Mayer, Günter Gaus und Stephan Hermlin findet man dort auch die Grabstätte von Christa Wolf. Die weltweit anerkannte Schriftstellerin ist am 1. Dezember 2011 nach langer Krankheit gestorben. Was macht ihren Ruhm und ihre Bedeutung aus?
Die 1929 in Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski) geborene Christa Ihlenfeld macht 1949 Abitur. Im gleichen Jahr wird die »Deutsche Demokratische Republik« (DDR) gegründet. Die deutsche Literatur soll das Leitmedium sein beim Aufbau eines demokratischen Sozialismus, und die junge Frau, seit 1951 mit dem ein Jahr älteren Gerhard Wolf verheiratet, will dabei mithelfen. Christa Wolf wird Lektorin, Literaturkritikerin und Redakteurin der Zeitschrift neue deutsche literatur. Wie eine zeitgemäße sozialistisch-realistische Literatur aussehen könnte, zeigt ihr literarisches Debüt Moskauer Novelle (1961). Richtig bekannt macht Wolf der Roman Der geteilte Himmel (1963). In Rückblenden und inneren Monologen wird vom Leben der Rita Seidel erzählt, die in »den letzten Augusttagen des Jahres 1961« im Krankenhaus erwacht (am 13. August 1961 wurde die »Berliner Mauer« errichtet). Ihr durch die Arbeiter ihrer Brigade befeuertes Engagement für den Aufbau des Sozialismus entfremdet sie vom geliebten, prinzipiell DDR-skeptischen Chemiker Manfred Herrfurth, der am Ende die Republik verlässt, während Rita in der DDR bleibt. Vor allem weil die Autorin das Tabuthema Republikflucht ins Zentrum stellt, wird Der geteilte Himmel ein großer Erfolg in Ost- wie in Westdeutschland. Doch das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED Ende 1965 bereitet Christa Wolfs früher Karriere ein jähes Ende. Die Folge ist ein psychischer Zusammenbruch.
Der Roman Nachdenken über Christa T. (1968), der in engem Zusammenhang mit dem poetologischen Essay Lesen und Schreiben (1968) steht, entfaltet erstmals ein wichtiges Lebensthema der Autorin: Psychosomatisches, Krankheit und Tod. In Rückblenden, Träumen und Reflexionen wird über eine kürzlich an Leukämie gestorbene Freundin nachgedacht. Die fragmentarische Erinnerung an diese zweifelnde Antiheldin geht einher mit einer in der DDR-Literatur zuvor so nicht vernommenen kritischen Befragung des gesellschaftlichen Alltags. Dem Erzählungsband Unter den Linden (1974) folgt 1976 der dritte Roman: In achtzehn Kapiteln schildert Kindheitsmuster die Kindheit der Nelly Jordan und den Alltag einer deutschen Provinzstadt in der NS-Zeit. Die 1947 endenden Erinnerungen werden immer wieder mit Bildern, Gedanken und Gesprächen aus der DDR-Gegenwart konfrontiert, die mit lutherischer Gewissenhaftigkeit daraufhin überprüft wird, ob und wie weit faschistische Verhaltensweisen weiterbestehen. Der Bezugspunkt von Christa Wolfs auf Wahrhaftigkeit gerichtetem Schreiben ist die eigene persönliche Betroffenheit, ohne die die literarisch angestrebte »subjektive Authentizität« nicht möglich wäre.
Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann (1976), gegen die sie öffentlich protestiert, wendet sich die Autorin dem »Gesprächsraum Romantik« zu. In der Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979) wird ein fiktives Zusammentreffen zwischen den Dichtern Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 zum Anlass, über Möglichkeiten und Grenzen individueller Selbstverwirklichung und den gesellschaftlichen Spielraum der Poesie zu sprechen. Es geht auch um die für Wolfs Gesamtwerk zentrale Frage, warum die bürgerliche Forderung nach dem »Subjektwerden des Menschen« und speziell der Frau auch im DDR-Sozialismus nicht eingelöst wurde. Die Romantik als Echo- und Spiegelraum ihrer Protagonistinnen wird bald ergänzt durch die Antike, insbesondere in der Erzählung Kassandra (1983), über deren Kontext und Entstehung die Autorin in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1982) Auskunft gibt. Mit diesen Werken, auch mit der nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verfassten Erzählung Störfall (1987) und dem Kurzroman Sommerstück (1989), wird Christa Wolf in den Achtzigerjahren zu einer Identifikationsfigur, Seelentrösterin und Moralikone der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung in beiden Teilen Deutschlands. Lesereisen führen sie unter anderem nach Skandinavien, Frankreich und in die USA, ihre Werke werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, die bedeutendsten Literaturpreise der DDR wie der BRD werden ihr zugesprochen, und als unermüdliche Unterstützerin junger Autoren der DDR erwirbt sie sich bleibende Verdienste.
An der »Wende« ist Christa Wolf mit ihrer Rede vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, ihrer Unterschrift unter den Aufruf Für unser Land und ihrer Mitarbeit an einem Verfassungsentwurf für eine reformierte DDR maßgeblich beteiligt. Die Veröffentlichung ihrer bereits 1979 entstandenen Erzählung Was bleibt (1990) führt zum später sogenannten ersten deutsch-deutschen Literaturstreit, in dessen Verlauf der Autorin ein verträumt-romantischer Politikbegriff sowie zu große Nähe zur Staatsführung der DDR vorgeworfen wird. Als sich 1993 herausstellt, dass bei der Staatssicherheit der DDR (Stasi) nicht nur eine zweiundvierzig Bände umfassende »Opferakte« über sie vorliegt, sondern auch eine Akte, die Wolf als Informelle Stasi-Mitarbeiterin (IM) in den Jahren 1959 bis 1962 ausweist, verstört dies die Autorin nachhaltig. Ihre existenzielle Krise und die lebensgefährliche Bedrohung ihres Körpers, der zum Seismografen des Zusammenbruchs ihres Landes wird, schildert Christa Wolf in der Erzählung Leibhaftig (2002). Ihr letztes Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) bringt die Ereignisse um diese Enthüllung zur Sprache. Der autobiografische Reise- und Lebensbericht, komponiert aus Tagebuchskizzen, Traumprotokollen und fiktiven Passagen, kann als schmerzliche Selbstbefragung, Lebensbeichte und Vermächtnis der Autorin gelten. In Erinnerung bleibt Christa Wolf als literarische Hüterin und Weiterentwicklerin humanistischer Traditionen und glaubwürdige Verfechterin ihrer Utopie einer menschenwürdigen Gesellschaft, die sich an der engen DDR-Welt des real existierenden Sozialismus aufrieb und im Kapitalismus der Nachwendezeit innerlich nie ganz angekommen ist.