Читать книгу HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER - Klaus Hübner - Страница 15
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Neue Herrlichkeit? Ein polemisches Dorfidyll aus den späten Merkeljahren
»So wie mich frühere Albträume in die Männerwelt des Militärs zurückversetzten, muss ich mich jetzt in Reih und Glied inmitten bärtiger Männer auf einem Gebetsteppich hocken sehen«, schreibt der alte Leonhardt Leydenfrost an Fatima, die aus Bosnien stammende Adoptivtochter seiner noch älteren Schwester. Diese Hedwig war als junges Mädchen eine begeisterte Jungmädelführerin gewesen, konnte sich das später nicht verzeihen und versuchte, es als »radikale Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition« wiedergutzumachen. Nun steht ihr neunzigster Geburtstag bevor, was ihr Gelegenheit verschafft, noch einmal politisch wirksam zu werden – ihre Festgäste sollen, so hat sich Fatima das ausgedacht, um Geldspenden für Flüchtlingskinder gebeten werden. Geburtstagsvorbereitungen auf dem Lande also, im idyllisch gelegenen Wittenhagen im Südosten Brandenburgs. Mittendrin Leonhardt alias Leo, dessen Lebenslauf stark an den des Schriftstellers Günter de Bruyn erinnert. Leo! Sogar im Traum hadert er mit einer Welt, die schon lange nicht mehr die seine ist. Die jungen Leute, also alle unter achtzig, grüßen mit einem aufdringlichen »Hallo!« und verhunzen auch sonst die schöne deutsche Sprache. Genderwahn allerorten, aber keiner kann mehr Uhland oder Mörike rezitieren. Die geschäftstüchtigen einstigen Genossen, die die Devise »vorwärts immer, rückwärts nimmer« zu ihrem Lebensmotto gemacht haben, kassieren erst einmal bei einem Projekt für Flüchtlinge ab und stellen, weil die Syrer und Afghanen nach Berlin und nicht »in die Wüste« wollen, dann doch lieber das protzige »Holiday Resort Seeblick« ins Dorf. Der auf geschlechtsneutrale Bibellesungen bedachte Aushilfspastor weigert sich, »Ein’ feste Burg ist unser Gott« oder andere »inkorrekte Lieder« anzustimmen, während sich seine Landeskirche den »Luxus von Dorffriedhöfen« nicht länger leisten will. Dann die Großwetterlage: die allmächtige Kanzlerin mit ihrer absurden »Willkommenskultur«, der jeder Vernunft hohnsprechende Quatsch à la »Ehe für alle!« oder »Keine Obergrenze!«, die schrillen Medien mit ihren politisch korrekten Lügen – nein, ein »ländliches Idyll« ist Wittenhagen schon lange nicht mehr. Jedenfalls nicht für Leo, den deutschen Bildungsbürger par excellence, der es niemals verwunden hat, dass sein einziger Sohn ein beinhartes SED-Mitglied geworden war und den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Leo ist die heimliche Hauptfigur dieser recht konventionell erzählten Geschichte, und angesichts seiner zeitkritischen Nörgeleien ist es schon fast Nebensache, dass die lange und umständlich geplante Geburtstagsfeier völlig anders verläuft als vorgesehen.
Der heute zweiundneunzigjährige Günter de Bruyn, der nach der Wende Meisterwerke der »Selberlebensbeschreibung« (Jean Paul) vorgelegt hat, dann mit Herzblut und Akribie in die Kulturgeschichte Berlins und Preußens eingetaucht ist und in den letzten Jahren eine ganz besondere Art von »poetischer Heimatkunde« der Oder-Spree-Region etabliert hat, veröffentlicht, vierunddreißig Jahre nach seinem letzten Roman Neue Herrlichkeit (1984), eine 2015/16 spielende Familiengeschichte, die man getrost »Roman« nennen darf. Es ist ein durch und durch politisches Buch geworden, das mit Sicherheit höchst kontrovers aufgenommen werden wird, schon weil das liberale »juste milieu« der Bundesrepublik heftig eins auf die Mütze kriegt. Ein wichtiges Buch übers Älter- und Altwerden ist es übrigens auch. Literarisch betrachtet gibt es einiges auszusetzen, an der Zeichnung der Charaktere, an der Holzschnittartigkeit mancher Dialoge und ganz allgemein an der bisweilen ins Banale abdriftenden Sprache – man liest Sätze, die diesem stilbewussten Autor noch vor zehn Jahren nicht unterlaufen wären. Man sieht es ihm nach, weil die Inhalte wichtiger scheinen. Der neunzigste Geburtstag ist ein altmodisches, streitbares Sittenbild der späten Merkeljahre. Weniger Literatur als Kunst, eher Literatur als Waffe. Oder wenigstens: Literatur als Polemik, unausgewogen und ein wenig rechthaberisch. Was selten geworden ist in unserer wohltemperierten Gegenwart.
Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll. Frankfurt am Main 2018: S. Fischer Verlag. 269 S.