Читать книгу HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER - Klaus Hübner - Страница 7
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Aus der Zeit gefallen? Deutsche Schriftsteller jenseits der siebzig
Viele Autoren, die ihre Glanzzeit vor 1990 hatten und inzwischen in die Jahre gekommen sind, schreiben und publizieren immer noch. Manche mischen sich auch weiterhin in aktuelle Debatten ein. Lob und Anerkennung ernten sie dafür selten. Gelangweiltes Achselzucken, schroffe Ablehnung und ätzender Spott sind nicht unüblich. Wer hört auf Schriftsteller jenseits der siebzig? Sind sie nicht nur noch wunderliche Zeitzeugen oder gar leise bröckelnde Monumente ihrer selbst? Sind sie nicht »von gestern«? Passen sie noch ins 21. Jahrhundert?
Nobelpreis hin, Weltruhm her: Als Günter Grass (*1927) in seinem Band Eintagsfliegen (2012) eine ganze Reihe von hochartifiziellen, wunderbar melancholisch-lakonischen Gedichten über das Alter und das Altern veröffentlicht hatte, wurde er nur selten als großer, vielleicht sogar altersweiser Lyriker gewürdigt. Nein, die Sensation bestand darin, dass man aus einem seiner Poeme harsche Kritik an der israelischen Regierung herauslesen kann. Darf das sein? Der Tenor der aufgeregten Debatte, in der sein beachtlicher Gedichtband fast keine Rolle spielte, war deutlich: Grass nervt!
Martin Walser (*1927) legte 2011/2012 gleich zwei sprachlich brillante Altersromane vor, Muttersohn und Das dreizehnte Kapitel. Er wurde dafür durchaus gelobt. Aber meistens ging es dann doch nicht um Walsers ungeheure Wortkunst, sondern um die Frage, ob der Alte vom Bodensee nun endgültig in katholisch-mystische Verstiegenheiten abgedriftet ist. Wenn ja – wer mag »so was« dann überhaupt noch lesen? Ist dieser Walser nicht schon seit Jahrzehnten politisch verdächtig? Und überhaupt: Geistig anspruchsvolle und sprachlich komplexe Bücher lesen? Muss das sein? Große Dichter? Ach was!
Nun gut, Grass und Walser mögen die Öffentlichkeit polarisierende Ausnahmen sein. Die meisten Nachrufe auf die 2011 gestorbene Christa Wolf (*1929) waren durchaus respektvoll, und man wird kaum Abfälliges über Siegfried Lenz (*1926), Ernst Augustin (*1927), Günter de Bruyn (*1928), Günter Herburger (*1932) oder Gabriele Wohmann (*1932) hören. Eher nimmt man einen bald bedauernd, bald mitleidlos gesetzten Unterton wahr: Eure Zeit ist um! Euch muss man nicht mehr lesen! Das gilt oft sogar für Schriftsteller, die erheblich jünger sind als die Genannten. Die neuesten Bücher von Volker Braun, Friedrich Christian Delius oder Gerhard Köpf zum Beispiel sind allerbeste Literatur – aber auch leicht verderbliche Ware. Meist verschwinden sie in einem von Jahr zu Jahr rasanter werdenden Literaturbetrieb, der manchmal schon zur Leipziger Buchmessezeit nicht mehr weiß, was im Oktober in Frankfurt los war. Lebenskluge Kunstprosa? Erfahrungsgesättigte Sprachverdichtung? Brauchen wir das? Haben wir nicht ganz andere Sorgen? Na gut, womöglich schreiben die Alten sogar besser als vor drei Jahrzehnten. Aber muss man deshalb ihre Bücher lesen?
Schon James Joyce kämpfte im frühen 20. Jahrhundert gegen profitsüchtige Verleger, überhebliche Kritiker und ein snobistisches Literaturestablishment, die seine Kunst nicht zu würdigen wussten. Er wurde zu einer Marke. Grass und Walser sind das inzwischen auch – nationale Symbole, die es wie Philip Roth machen könnten und nichts Neues mehr schreiben müssten. Aber selbst wenn es bei Symbolfiguren nicht mehr zuallererst um die Qualität ihrer jeweils jüngsten Werke geht – eingerostet, erstarrt oder erschlafft sind sie noch lange nicht. Doch die meisten Literaturkritiker, Kultursnobs und Glamourpseudos in Deutschland erwecken den Eindruck, als spielten diese immer einsamer werdenden Alten nur noch mit ihren reichlich abgegriffenen Karten von gestern. Was nachweislich nicht stimmt. Unerbittliche politische Kritik am Zustand der Welt, wie Günter Grass sie übt, hat diese nach wie vor nötig, ganz unabhängig davon, ob man ihr zustimmt oder nicht. Die oft ironisch vorgetragene, immer aber fundierte Gesellschafts- und Kulturkritik Martin Walsers ist dringend erwünscht, selbst wenn man vielleicht manchen Akzent anders setzen würde. Und dann ist da ja noch das, was man Lebenswerk nennen kann. Sicher: Es zu begreifen und für heute produktiv zu machen, kostet Zeit und oft auch Mühe. Sei’s drum! Ein bisschen mehr Hochachtung vor künstlerischen Höchstleistungen, anderswo eine Selbstverständlichkeit, würde unserer Gesellschaft wahrscheinlich gut tun. Gibt es denn so viele lebenserfahrene, hochreflektierte und gegenwartskritische Sprachkünstler im Lande? Es ist in Deutschland Mode geworden, pausenlos Respekt für die eigene Person oder die eigene Gruppe einzufordern. Nicht unbedingt Mode ist es, Respekt vor anderen zu haben: vor weltweit anerkannten Schriftstellern zum Beispiel. Und seien sie noch so alt.
Günter Grass: Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte. Göttingen 2012: Steidl Verlag. 107 S.
Martin Walser: Muttersohn. Roman. Reinbek 2011: Rowohlt Verlag. 505 S.
Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Roman. Reinbek 2012: Rowohlt Verlag. 271 S.