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Weltliteratur?
Dieter Lamping rückt einiges zurecht

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Der in Mainz lehrende Komparatist Dieter Lamping ist einer der nicht eben zahlreichen Literaturwissenschaftler, die den unübersehbaren Prozess der Internationalisierung der deutschsprachigen Literatur ernst nehmen und ihn in den Kontext der europäischen Literaturgeschichte zu stellen versuchen. Kein Wunder, dass er dabei bald auf Goethe und dessen bis heute so wirkungsmächtigen Begriff der »Weltliteratur« stieß. Denn diesem Konzept ist es im Grunde zu verdanken, dass wir die Literatur nicht für wesentlich monokulturell oder gar national halten. »Weltliteratur ist eine der großen Ideen des 19. Jahrhunderts – und eine der wenigen, die die Epoche ihrer Entstehung überlebt haben«, lautet der erste Satz des Buches. Was aber meint man heute damit, wenn man, wie es in der Literaturwissenschaft ebenso wie in der Literaturkritik allenthalben geschieht, von »Weltliteratur« spricht? Welchen Nutzen, welchen Erklärungswert hat der Rekurs auf Goethes Konzept? Und ist es überhaupt ein Rekurs, oder hat die gängige Verwendung des Begriffs nur noch wenig mit dem zu tun, was der Dichterfürst am 31. Januar 1827 im Gespräch mit Eckermann äußerte? Oft genug sind Goethes Worte zitiert worden: »National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.« Diesen Worten, diesem Begriff und mehr noch dessen Karriere im 19., 20. und auch 21. Jahrhundert widmet sich Lampings im besten Sinne philologische, weil weit über die Philologie hinausweisende Untersuchung: »Die Idee der Weltliteratur in ihren wichtigsten, literarhistorischen wie literaturtheoretischen, aber auch ideengeschichtlichen Aspekten mit der gebotenen Knappheit darzustellen ist das Ziel dieses Buches. Dabei versucht es, nicht nur zu fragen, wie sie verstanden wurde, von ihrem Urheber und von seinen Lesern, sondern auch, wie sie noch immer sinnvoll zu verstehen sei.«

Naturgemäß geht es zuerst um Goethe, dessen Plädoyer für »Weltliteratur« den alten Dichter als einen weltoffenen, scharfsinnigen und der Zukunft zugewandten Beobachter seiner Epoche ausweist. Doch schon bei ihm bleibt der Begriff unscharf, und an keiner Stelle hat er systematisch entwickelt, was er eigentlich unter »Weltliteratur« verstanden wissen wollte. Als »formelhafte Aperçus« implizieren Goethes diesbezügliche Bemerkungen mehr als sie explizieren. In den drei der Einleitung folgenden Abschnitten seiner Studie stellt Lamping den Weimarer Altmeister in den Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit und diskutiert die weitreichenden Implikationen der keineswegs nur angelesenen Internationalität des Divan-Dichters, der zwar nach heutigen Maßstäben kein weltkundiger Mann war, aber noch viel weniger ein »eingezogen lebender Mensch wie etwa Kant oder Lichtenberg«. In Goethes Werk und Wirken lässt sich, wie der höchst belesene, quellenkundige Verfasser detailliert nachweist, in vielerlei Hinsicht ein durchaus interkulturelles Interesse feststellen, auch wenn das bei Zeitgenossen wie Georg Forster, Adelbert von Chamisso oder Alexander von Humboldt ungleich stärker ausgeprägt gewesen sein mag. Unvermeidlicherweise geht es im ersten Teil des Buches auch um das von Herder, Schleiermacher und anderen entwickelte, von Lamping nicht als kontrastiv, sondern als komplementär zur »Weltliteratur« betrachtete Konzept einer »Nationalliteratur«. Abgesehen von diesem allerdings folgenreichen Scheinkonflikt zwischen Welt und Nation wurde die Idee der »Weltliteratur« niemals ausschließlich als poetische begriffen. »Vielen ihrer Anhänger galt und gilt sie auch, wenn nicht vor allem, als ein kosmopolitisches Programm, und gerade diese Verbindung hat viel zum Erfolg der Idee beigetragen.«

Der fünfte Abschnitt der Untersuchung weist nach, dass und inwiefern Goethes Idee sozusagen in der Luft lag. Denn: »Die drei Jahrzehnte vor und nach 1800 stellen die erste europäische Epoche der neueren deutschen Literatur dar.« Besonders manifest wird das »sowohl als Übersetzung wie als Vermittlung und als Verarbeitung, als produktive Rezeption«. Kundig führt Lamping durch die ungeheure Fülle und Dichte der Bezugnahmen auf europäische Literaturen, die die deutschsprachige Literatur um 1800 aufweist und die nicht allein Themen und Motive, sondern auch Formen und Gattungen betreffen. Spätestens in der »Goethezeit« – und nicht etwa erst mit den Anfängen einer »Literatur der Migration« seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts – wurde Internationalität zu einem konstitutiven Moment der deutschen Literatur. Die Rede von der »Weltliteratur« allerdings folgte seit Goethes Tod vielfach einer eigenen Logik, und den diversen Bedeutungsverschiebungen dieses wandelbaren Konzepts geht der Autor detailliert nach, bis hinein in einzelne »Dialoge« von (mindestens) zwei Texten unterschiedlicher Sprachherkunft. Selbstverständlich ist »Weltliteratur als intertextuell fassbare literarische Internationalität« kein völlig neues Konzept, doch gerade in der deutschen, über lange Zeit hindurch von nationalem Denken dominierten Literaturwissenschaft und ihren akademischen Organisationsformen spielte es nur selten eine wichtige Rolle – was, betrachtet man die Germanistik auch der jüngeren Zeit, gravierende Folgen zeitigte. »In den neueren Philologien hat der Begriff der ›Weltliteratur‹ in dem Maß an Bedeutung gewonnen, in dem sich neben den einzelsprachlichen eine vergleichende Literaturwissenschaft bildete«, meint der Verfasser und unterschlägt dabei ein wenig, dass auch die seit etwa 1980 fortschreitende Entwicklung einer »Interkulturellen Germanistik« hier entschieden bewusstseinsverändernd gewirkt hat. Immerhin nimmt er die nicht-deutsche interkulturelle Literatur- und Kulturwissenschaft der letzten Jahre (Homi K. Bhabha, David Damrosch, John Pizer) in den Blick, die der Goetheschen Idee »eine ganz neue Aktualität abgewonnen hat«. Dass der inflationäre Gebrauch des vieldeutigen Begriffs auch »Unbehagen« ausgelöst hat, verschweigt Lamping nicht. Dennoch ist er davon überzeugt, dass die komplexe Idee der »Weltliteratur« vorerst einmal weiterleben wird, und mit ihr auch das kulturwissenschaftliche Konzept. Goethes großes Verdienst sei es nun einmal, »eine suggestive Formel für Prozesse literarischer Internationalisierung« gefunden zu haben. Diese Prozesse halten an, ja sie verstärken sich sogar. Wer sie begrifflich fassen will, kommt an der »Weltliteratur« ebenso wenig vorbei wie an der fast uneingeschränkt empfehlenswerten Studie von Dieter Lamping. Fast? Na ja, ein ausreichend umfängliches Literaturverzeichnis gibt es, aber leider kein Begriffs- und Namensregister. Weitere kritische Einwände allerdings hat dieses einleuchtend strukturierte, klar und verständlich geschriebene Buch nicht verdient.

Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010: Alfred Kröner Verlag (Kröner Taschenbuch 509). 151 S.

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