Читать книгу DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT - Klaus Hübner - Страница 19
Adelbert von Chamisso – Vermittler zwischen Sprachen und Kulturen
ОглавлениеDass Adelbert von Chamisso nicht nur wegen seiner interkulturellen Biografie, sondern vor allem durch seine Übersetzertätigkeit einer der großen Vermittler zwischen dem deutschen und dem französischen Kulturraum im 19. Jahrhundert war, hat Werner Feudel 1986 in einem kleinen Aufsatz herausgearbeitet. Dass er zugleich der humanistisch-literarischen Sphäre und der zeitgenössischen Welt der Naturwissenschaften angehörte und deshalb auch als produktiver Vermittler zwischen unterschiedlichen akademischen Kulturen betrachtet werden kann, ist mehrfach nachgewiesen worden. Und dass die ethnologischen und sprachwissenschaftlichen Studien in der Folge von Chamissos naturforschender Weltreise fast durchgängig eine Kulturen vergleichende Dimension aufweisen und somit auch auf Vermittlung zielen, ist evident. Aus Berlin schreibt Chamisso 1814 an de la Foye: »Kein anderes Vaterland habe ich doch, kann ich doch haben, als die gelehrte Republik, wo ich bescheiden und still mich einzubürgern gedenke, und da meine kleine Freiheit harmlos zu genießen.« Harald Weinrich beginnt seinen Essay Chamissos Gedächtnis damit, den wissenschaftlichen Nachruhm des Biologen, Botanikers und Geografen Chamisso herauszustellen, ehe er vom Literaten und insbesondere von dessen Schlemihl spricht. Weinrichs luzider Essay, der ursprünglich ein Vortrag war, beschwört am Ende »das lebendige Fortwirken dieses Autors im Denken, Fühlen und Schreiben derjenigen Autoren, die ich vor Jahren einmal ›Chamissos Enkel‹ genannt habe, weil sie wie Adelbert von Chamisso aus einer anderen Sprache und Kultur kommen und mit ihrem Schreiben der deutschen Literatur neue Impulse gegeben und sie ein gutes Stück hellsichtiger und weltoffener gemacht haben«. Um das in diesem Essay auch angesprochene weite Feld, von Chamissos allmählicher Kanonisierung in der deutschen Literaturgeschichte und seinem Nachruhm als deutscher Dichter bis hin zu den von Weinrich erwähnten Literaten, die man heute mindestens »Chamissos Ur-Urenkel« nennen müsste, soll es hier gehen – wobei ich, aus Kompetenzgründen, den Naturwissenschaftler weitgehend außer Acht lasse und mich auf den Dichter Adelbert von Chamisso konzentriere, ohne allerdings literaturwissenschaftliche Textanalysen zu liefern. Es geht mir um die bis heute anhaltende Bedeutung eines Mannes, der als Nicht-Muttersprachler mit dem Schlemihl zu Weltruhm gelangte, der insgesamt ein relativ erfolgreiches und nachhaltig weiterwirkendes literarisches Werk in deutscher Sprache geschaffen hat und der durch die unter anderem von Edward Mornin näher untersuchte »europäische Dimension seiner Einstellung und seiner Dichtung« hervorsticht. Deutsche Literatur, und was für eine, von einem Autor französischer Muttersprache – das ist schon für Chamissos Zeitgenossen äußerst bemerkenswert gewesen, und eine recht lange Zeit hindurch, bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein, ist es auch mehr oder weniger einmalig geblieben. Chamissos Ur-Urenkel sind ein im deutschen Kulturraum relativ neues Phänomen. Ausnahmen jedoch hat es immer gegeben.
Auf das entscheidende biografische Faktum, den Sprach- und Kulturwechsel nämlich, dem der junge Adelige in Preußen unterworfen wurde, ist nicht noch einmal näher einzugehen. Keine Biografie des Dichters wird es versäumen, diesen Sprach- und Kulturwechsel ausführlich und explizit zu erörtern. Stellvertretend für viele sei Klaus Günzel zitiert, der über den preußischen Offizier der Jahre nach 1806 schreibt: »Als nach wie vor unbehauster Emigrant sah er die Freunde zum antinapoleonischen Befreiungskampf rüsten, was die schon lange in ihm schwelende Identitätskrise zum offenen Ausbruch brachte: Ein Franzose war er nicht mehr, ein Deutscher noch nicht. Würde er es je werden?« Auch in Thomas Manns berühmtem Chamisso-Essay wird eingehend darauf hingewiesen. »Das Wort, das da ist«, schreibt Thomas Mann in seiner etwas blumigen Diktion von 1911, »das allen gehört und das doch ihm in einem innigeren und beglückenderen Sinn als jedem andern zu gehören scheint, es ist sein erstes Staunen, seine früheste Lust, sein kindischer Stolz, der Gegenstand seiner geheimen und unbelobten Übungen, der Quell seiner vagen und fremdartigen Überlegenheit«. Dass sich Thomas Manns Formulierung von der »fremdartigen Überlegenheit« auch darauf bezieht, dass Chamisso ein »Dichter nach Herders Sinn« gewesen ist, wie sein Biograf Peter Lahnstein meint, ist wahrscheinlich. Ich zitiere Lahnstein: »›Stimmen der Völker‹ tönen hundertfältig aus seinem Werk; neben den deutschen und französischen spanische, baskische, korsische Stimmen, polnisch-jüdische, ungarische, nordische, russische; Stimmen aus dem alten Orient, aus Amerika, aus der Südsee. In seinen Gedichten fließt es ineinander: Aufnehmen und freie Gestaltung fremder Motive, Nachdichtung und Übersetzung.« Doch die Geschichte der innerliterarischen Chamisso-Rezeption in Deutschland ist, über Heinrich Heine, Georg Herwegh, Heinrich Laube, Ludwig Bechstein, Leopold Kompert, Friedrich Hebbel und viele andere Dichter des 19. Jahrhunderts bis hin zu Richard Schaukals Novellenband Schlemile (1908) oder Thomas Mann selbst, dessen Tonio Kröger von Arthur Eloesser 1925 als »neuer Schlemihl« bezeichnet wurde, zunächst einmal die Geschichte der Schlemihl-Rezeption geblieben. Ausnahmen wie Theodor Storms Eekenhof gibt es natürlich auch. Ludwig Thoma wählt »Schlemihl« zu einem seiner Pseudonyme, nicht etwa, was ja auch denkbar gewesen wäre, »Chamisso«. Das gilt auch international. »Schlemihl, der ewige Pechvogel, eine jüdische Vokabel, durch Chamisso in die Weltliteratur eingeführt«, schreibt Lahnstein. Auch wenn 1886 die bereits 23. Auflage seiner Gedichte erschien – die rund achtzig Auflagen und mehr als hundert Übersetzungen des Schlemihl bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs sprechen eine deutliche Sprache. Die Chamisso-Ausgaben und -Übersetzungen bis 1919 sind in der Bibliotheca Schlemihliana aufgeführt.
Im Literaturkanon des deutschen Bürgertums und damit auch dem der Schulen und Universitäten hatte der auch durch die Vertonungen von Robert Schumann populäre Dichter mindestens bis 1918, wenn nicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, seinen festen Platz – und dies keineswegs ausschließlich als Autor des Schlemihl, dem Ernst Ludwig Kirchner während des Ersten Weltkriegs seinen Zyklus von Farbholzschnitten widmete. Gedichte wie Das Riesenspielzeug, Das Schloss Boncourt, Die Sonne bringt es an den Tag oder Salas y Gomez fanden Eingang in die Lesebücher von Generationen. Es gibt die schöne Geschichte des 1912 geborenen Curtius-Schülers Werner Ross, der Chamisso über ein im Haushalt vorhandenes Dichterquartett kennengelernt hatte und lapidar feststellt: »Da in den Dichterquartetten alle Dichter, groß und klein, je vier Werke verfasst haben, werden auf dem Kärtchen der ›Peter Schemihl‹, das ›Schloß Boncourt‹, ›Frauen-Liebe und -Leben‹ und ›Die alte Waschfrau‹ gestanden haben, die vier Titel, die ausnehmend beschlagenen Literaten und Liebhabern heute noch einfallen.« Mit dem Gedichtzyklus Frauenliebe und -leben habe Chamisso zum Lieblingsdichter des Biedermeier werden und zugleich als Sympathisant der Pariser Revolution von 1830 erscheinen können, schreibt der 1926 geborene Günter de Bruyn in seinem Buch Die Zeit der schweren Not, das, wie sein Untertitel verrät, »Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815« ausbreitet und dessen Patron und Schirmherr niemand anderes ist als Adelbert von Chamisso – ein vorläufiger Schlussakkord zur offenbar bis heute nicht ganz abgerissenen Kette der literarischen Chamisso-Rezeption in Deutschland. Doch selbst wenn man den 1936 im Amsterdamer Exil und 1958 in zweiter Auflage erschienenen Chamisso-Roman Der Schlemihl von Hans Natonek nicht vergisst und zudem darauf hinweist, dass das Motiv vom verlorenen Schatten nicht nur Wilhelm Raabe oder Hugo von Hofmannsthal, sondern nach 1960 auch James Krüss, Christoph Meckel, Elisabeth Plessen und andere Autoren fasziniert hat – man darf sich doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Präsenz des Dichters im Laufe des 20. Jahrhunderts selbst bei Literaten und Germanisten gegenüber der von 1900 eklatant abgenommen hat. Damit befindet sich Chamisso bedauerlicherweise in guter Gesellschaft. Ihn wieder mehr ins öffentliche Gespräch zu bringen, haben verdienstvolle Editoren und Kommentatoren mit einigem Erfolg versucht, und dieser Erfolg ist auch der jüngst in Kunersdorf gegründeten Chamisso-Gesellschaft zu wünschen. In ihrer Satzung sind die Ziele der Gesellschaft zusammengefasst, und deren erstes heißt Interkulturalität, genauer: »Menschen und Institutionen aus allen Ländern und Sprachen zusammenzuführen, die sich im Sinne Chamissos aktiv für den übernationalen wissenschaftlichen und literarischen Austausch einsetzen.« Das ist ein Ziel, mit dem sich die Initiatoren und Organisatoren des Chamisso-Preises ohne weiteres identifizieren können. Diesen Preis und seine Geschichte möchte ich als Leuchtturm der Chamisso-Rezeption seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Denn die Initiative Harald Weinrichs, einen Preis für herausragende literarische Werke in deutscher Sprache, die von Autoren anderer Muttersprachen beziehungsweise Herkunftskulturen geschrieben wurden, nach Adelbert von Chamisso zu benennen, hat die Rezeption des zuvor ein wenig in Vergessenheit geratenen Dichters neu belebt und weitergeführt.
Der Adelbert-von-Chamisso-Preis wird seit 1985 verliehen, anfangs gemeinsam von der Robert Bosch Stiftung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dem Institut für Deutsch als Fremdsprache der Universität München, seit 2004 allein von der in Stuttgart angesiedelten Stiftung. In seinem Aufsatz Ein Rinnsal, das Fluss und Strom werden wollte rekapituliert Harald Weinrich, der Initiator des Ganzen, die Vorgeschichte des Preises und teilt auch mit, weshalb Chamisso als Namensgeber der Auszeichnung dem ebenfalls ins Spiel gebrachten Elias Canetti letztlich vorgezogen wurde. Klar war, dass er »auf den verschlungenen Wegen des Exils hierzulande ein großer Dichter, ja ein Klassiker der deutschen Literatur geworden war«. Aber: »Bei der Option Chamisso spielte auch dessen weltbekannte Novelle von Peter Schlemihl, dem Mann ohne Schatten, eine beträchtliche Rolle. Es sollte damit deutlich werden, dass die ›Chamisso-Autoren‹, wie wir später gelegentlich verkürzt sagten, auf dem Weg in die deutsche Literatur ihren Schatten nicht einbüßen sollten.« Chamisso selbst habe sich, so Weinrich, mit einem national oder eurozentrisch begrenzten Weltbild niemals abgefunden. »Und so denke ich auch, dass er an dem Preis, der seinen Namen trägt, seine helle Freude gehabt hätte.« Wie dem auch immer sei – der Preis, dessen Zustandekommen naturgemäß nicht nur Harald Weinrich und der ihn finanziell tragenden Robert Bosch Stiftung zu verdanken ist, sondern auch etlichen anderen Personen, von denen hier nur Irmgard Ackermann und Karl Esselborn zu nennen sind, dieser Preis hat sich im Laufe der Zeit zu einem der angesehensten deutschen Literaturpreise entwickelt. Das in jeglicher Hinsicht weite Spektrum der Literatur, die von den durchaus sehr unterschiedlichen Preis- und Förderpreisträgern geschrieben wird, hat sich seinen festen Platz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gesichert. Diese Literatur wird weltweit zur Kenntnis genommen und in Forschungsarbeiten und auf entsprechenden Tagungen analysiert und bewertet.
Mit den Augen des Fremden lautete der Titel der schönen Ausstellung, die das Kreuzberg Museum in Berlin vor sieben Jahren auf die Beine stellte, und in der Einleitung zu deren ebenso schönen Katalog heißt es programmatisch: »Chamisso war jemand, der in verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Sprachen, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten gelebt und mit Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit verkehrt hat. Gerade das hat ihn zu einem Wissbegierigen gemacht und zu einem offenen Geist … Neugier, Offenheit und vor allem Respekt im Umgang mit dem Fremden können wir noch heute von Chamisso lernen. Und noch etwas zeigt er uns: der Migrant, der seine Heimat verlässt, um in einem anderen Land zu leben, bereichert die Aufnahmegesellschaft – vorausgesetzt, die neue Heimat ist bereit, ihn mit dem von ihm mitgebrachten Kulturschatz anzunehmen.« Wenn man das gelten lassen möchte, dann ergibt sich die enge Verbindung des Autors und großen interkulturellen Vermittlers Adelbert von Chamisso mit seinen schreibenden Ur-Urenkeln und speziell den Chamisso-Preisträgern fast wie von selbst. Durch diese Autoren und ihre Werke lebt der Name Chamisso im 21. Jahrhundert weiter. Nicht nur, zu einem nicht zu übersehenden Teil aber doch.