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Mit den Augen des Fremden
Adelbert von Chamisso ist neu zu entdecken

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Nichts gegen das von Hans Magnus Enzensberger mit großem Aufwand ins Werk gesetzte »Humboldt-Projekt«, das dem heutigen gebildeten Lesepublikum die wichtigsten Schriften Alexander von Humboldts nahe bringen möchte. Auch nichts dagegen, dass aus Anlass des kürzlich begangenen zweihundertfünfzigsten Geburtstags von Georg Forster ganz zu Recht dessen Voyage Round the World gewürdigt wurde. Noch einem aber aus jenen fernen Tagen, als die Weltkarten noch jede Menge weißer Flecken hatten, gebührt die ehrwürdige Charakterisierung »Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender«, die sich im Untertitel eines neuen Ausstellungskatalogs findet: dem 1781 auf einem Schloss in der Champagne geborenen, mit den Eltern vor der Revolution nach Preußen geflüchteten und sich dort zu einem der meistgeschätzten und populärsten deutschen Poeten entwickelnden Charles Louis Adelaide Chamisso de Boncourt. Nicht wenige seiner Balladen lernten deutsche Gymnasiasten bis vor Kurzem noch auswendig, und die Kenntnis seiner Geschichte vom Mann, der seinen Schatten verkaufte, gehört nach wie vor zum literarischen Grundwissen. Man dürfe Chamissos »unsterbliche Geschichte von Peter Schlemihl« als eine »Parabel der Fremdheit« lesen, meint Harald Weinrich, der vor zwanzig Jahren maßgeblich für die Einrichtung des Adelbert-von-Chamisso-Preises gesorgt hat – eines renommierten Literaturpreises für deutsch schreibende Schriftsteller nicht-deutscher Herkunft und Muttersprache, über den man am Ende des Katalogs auch einiges lesen kann. Es stimmt: Der Lyriker und Erzähler Adelbert von Chamisso ist immer noch relativ bekannt. Der Naturwissenschaftler und Weltreisende allerdings erfährt erst jetzt größere Aufmerksamkeit, und das liegt vor allem an der im Berliner Bezirk Kreuzberg präsentierten, von viel Liebe zum Detail getragenen Ausstellung Mit den Augen des Fremden. Und an dem opulent aufgemachten, lehrreichen und unterhaltsamen Katalog, der uns den nicht weit vom Ausstellungsort beerdigten Dichter endlich einmal so vorstellt, wie es einschlägige Literaturgeschichten bisher nicht konnten. Mit anhaltendem Staunen nimmt man zur Kenntnis, dass dieser Chamisso noch weit mehr war als ein großer deutscher Dichter aus Frankreich.

Ulrike Treziak nimmt Harald Weinrichs Anregungen auf, wenn sie in der Einleitung schreibt: »Chamisso war jemand, der in verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Sprachen, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten gelebt und mit Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit verkehrt hat. Gerade das hat ihn zu einem Wissbegierigen gemacht und zu einem offenen Geist … Diese Offenheit für das Fremde war die Grundvoraussetzung für seinen tiefen Respekt vor anderen Kulturen.« Genau das zeichnet Chamisso aus. Am Morgen des 9. August 1815 meldet sich der Vierunddreißigjährige auf der Reede zu Kopenhagen beim Sohn eines in der Goethezeit viel gespielten Bühnendichters. Otto von Kotzebue ist der Kapitän des Forschungsschiffs »Rurik«, das drei Jahre lang »in die Südsee und um die Welt« segeln wird, mit Chamisso als Naturforscher und Korrespondenten. Brasilien und Chile samt Osterinseln, die Halbinsel Kamtschatka, die Aleuten und Alaska, später Kalifornien, Hawaii, Guam und Manila, und über Kapstadt schließlich zurück nach Europa – der Leser reist, kundig geführt von Ulrike Treziak und sinnlich angeregt durch die vorzüglich reproduzierten Lithografien von Ludwig Choris, mit Chamisso durch die Beringsee und den gesamten pazifischen Raum. Ein Abenteuer! Und das schon im ersten von insgesamt siebzehn Katalogbeiträgen! Die übrigens alle leicht lesbar sind und doch auf dem neuesten Stand der Forschung, ob es nun um die Biografie des dichtenden Botanikers geht, um die genauere Analyse seines erst 1836 erschienenen letzten Buches Reise um die Welt, um Mitreisende wie den Arzt Johann Friedrich Eschscholtz oder den »Reisemaler« Ludwig Choris, um »Stabkarten, Sandkarten und Seekarten« oder um Chamissos wertvolle Hinterlassenschaften in den Botanischen Museen von Berlin und St. Petersburg. Allein zwei Katalogseiten füllt die Liste der ihm gewidmeten Namen von Pflanzen, Tieren und geografischen Orten, von »Aconitum delphinifolium ssp. Chamissonianum« (Eisenhut-Art) bis »Xylaria chamissonis« (brasilianische Kernpilz-Art)!

Kurzum: Es gibt nichts Besseres und vor allem nichts Schöneres über den dichtenden Naturforscher als diesen empfehlenswerten Katalog, der am Ende auch noch dessen Spuren im Berliner »Chamisso-Kiez« nachgeht und dazu einlädt, es nicht bei einem Besuch der Ausstellung zu belassen. Sondern sich auch ein wenig in der Nachbarschaft umzusehen. Vielleicht besorgt man sich dann gleich Chamissos Reise um die Welt.

Mit den Augen des Fremden. Adelbert von Chamisso – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender. Berlin 2004: Kreuzberg Museum. 240 S.

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