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5.

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Diesmal holten wir Raju bereits gegen Mittag ab. Sein Besuch begann, wie nun schon üblich, mit der Dusche. Nach dem Essen war Unterricht angesagt. Wir brachten ihm die ersten Buchstaben bei, die er mit ungelenker Schrift zu kopieren versuchte. Es wurde schnell deutlich, dass er noch nie einen Bleistift in seiner Hand gehabt hatte. Auch begannen wir mit Rechenaufgaben. Beim Addieren und Substrahieren einfacher Zahlen dachte Raju lange nach und kam des Öfteren zu falschen Ergebnissen. Ersetzte man die Zahlen durch Rupien und Paisas, hatte er das Ergebnis schnell heraus.

In den Pausen des „Unterrichts“ machte sich Raju nützlich. Er wusch gemeinsam mit Liz unseren Wagen. Wir sandten ihn mit einem Zettel und einem kleinen Geldbetrag zum Einkaufen. Er brachte den Zettel, auf dem er die Preise für die einzelnen Waren hatte notieren lassen, zurück und rechnete auf Heller und Pfennig ab.

Als wir Raju am Abend wieder zur Mount Road brachten, beobachteten wir ihn, nachdem er sich verabschiedet hatte, heimlich eine zeitlang in der Hoffnung, zu sehen, wo er hinging und mit welchen Erwachsenen er Umgang hatte. Aber er sprach nur mit ein paar Jungen. Nach einiger Zeit legte er sich auf eine Bank und schlief ein.

Verabredungsgemäß holten wir Raju auch am nächsten Tag zu uns nach Hause. Er malte, versuchte sich im Schreiben und war, wie immer, vergnügt. Als Liz vom Einkaufen zurückkam, begann Raju mit ihr zu streiten. Nach einem Wortwechsel zog sich Liz beleidigt zurück. Später erfuhren wir von Mr. D., gegenüber dessen Dienerin sich Liz über Raju beklagt hatte, worüber sie gestritten hatten: Raju hatte ihr vorgeworfen, dass sie vom Einkaufen keine Abrechnung mitgebracht habe. Wir versuchten eine Aussprache hierüber zustande zu bringen. Liz lehnte jedoch ab und erklärte, dass sie nicht mehr für uns arbeiten wolle. Nur mit Mühe und mit Hilfe eines Sari-Geschenkes, das wieder Fernwirkungen bei Mr. D. hatte, konnten wir den häuslichen Frieden wiederherstellen. Raju erhielt die Anweisung, Liz nicht zu kontrollieren.

In der Folgezeit kam Raju jeden Tag zu uns. Statt ihn umständlich an der Mount Road abzuholen und ihn zurückzubringen, gaben wir ihm Geld für den Bus. Später erzählte er uns, dass er den langen Weg aber zu Fuß zurückgelegt und von dem gesparten Geld die kleinen Geschenke gekauft habe, die er uns gelegentlich mitbrachte. Raju erschien morgens gegen 10 Uhr mit einem fröhlichen "Hallo", verschwand als erstes unter der Dusche und blieb den ganzen Tag bei uns. Schon nach kurzer Zeit hatte er mit der englischen Sprache solche Fortschritte gemacht, dass wir uns - mit Hilfe von selbst gestrickten Begriffen, die aus bestimmten Situationen entstanden waren - ziemlich gut verständigen konnten. Raju teilte unseren Alltag und fühlte sich bei uns zu Hause. Einen großen Teil seiner Zeit verbrachte er mit Malen. Er zeichnete sich auf einer Schaukel im Garten und inmitten eines Kinderhauses, malte ein Kino, Bäume, Autos, vor allem unseren Bus und unser Kofferradio mit dem Namen „Universum“. Sorgfältig kopierte er das Titelblatt einer Broschüre der Deutsch-Indischen Handelskammer mit der Aufschrift „Investieren in Indien“, wobei ihm einige Buchstaben verkehrt herum gerieten. Als Anrede für mich benutzte Raju meinen Vornamen. Judi nannte er von Anfang an „mummy“, was zunächst eher einen familiären Hierarchiestatus bezeichnet haben mag, sich aber im Laufe der Zeit zum Ausdruck für eine emotionale Beziehung, ja geradezu zu einem Anspruch auf eine solche wandelte.

Unsere Neugier trieb uns dazu, Raju weiter zu überprüfen. Auch diese Tests bestand er mit Auszeichnung. Nirgends fanden wir einen Hinweis, dass er uns Kontakte zu Verwandten oder Personen verschwieg, die mit ihm etwas im Schilde führen konnten. Wir übergaben ihm zum Einkauf immer größere Geldbeträge, ohne dass es zu Unstimmigkeiten gekommen wäre. Zuletzt überließen wir ihm unter dem Vorwand, kein kleineres Geld zu haben, einen 100 Rupienschein. Dieser Betrag war für Raju außerordentlich hoch. Er hätte davon auf der Straße mehrere Monate leben können. Mit Herzklopfen schlich ich in einiger Entfernung hinter ihm her, um zu sehen, wie er sich verhalten würde. Er ging einkaufen wie gewohnt und brachte den Rest des Geldes genau abgezählt zurück. Spätestens seit diesem Zeitpunkt waren wir davon überzeugt, dass wir uns auf Raju verlassen konnten. Selbst Mr. D., dem wir von unserem Experiment berichteten, war beeindruckt, auch wenn er weiterhin Distanz zu Raju hielt.

Etwa eine Woche, nachdem wir Raju kennen gelernt hatten, brachte er uns einen Brief, den er sich von einem Mann auf der Straße hatte schreiben lassen. Der Brief war in englischer Sprache auf die Rückseite einer Zigarettenschachtel Marke Scissors geschrieben und lautete wie folgt:


17.12.70

von Raji, c/o Bushaltestelle

Liebe Frau,

Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Freundlichkeit und Hilfe. Punkt. Ich komme zur Sache. Ich habe keine Mutter und keinen Vater und niemand, der mich beschützen könnte. Ich möchte gerne mit Ihnen in Ihr Land gehen. Wenn sie mich mit in Ihr Haus nehmen. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich bin sehr traurig, dass ich in Madras lebe. Denn ich schlafe auf der Straße. Die Polizei verfolgt mich. Ich erwarte Ihre gute Antwort.

Hochachtungsvoll

Raju

Der Gedanke, Raju auf Dauer bei uns zu behalten oder ihn gar mit nach Europa zu nehmen, lag uns damals völlig fern. Darüber, wie diese Geschichte, die so exotisch schien wie alles, was wir in den letzten Monaten erlebt hatten, weitergehen würde, hatten wir noch keinerlei Vorstellung. Raju war einfach da.

Unsere Versuche, von Raju näheres über seine Vergangenheit zu erfahren, ergaben kein klares Bild. Er sprach davon, dass er aus der Nähe von Madurai, einige hundert Kilometer südlich von Madras, komme. Dort sei er gemeinsam mit einer Schwester in einem Dorf aufgewachsen. Sein Vater sei Fischer gewesen. Über sein Gesicht ging ein Strahlen, als er schilderte, wie er gemeinsam mit dem Vater in Flüssen und Seen Fische gefangen hatte. Seine Mutter sei dann aber krank geworden und schließlich gestorben. Danach sei der Vater mit ihm und seiner Schwester nach Madras gegangen, wo man auf der Straße gelebt habe. Seit dem Tod der Mutter sei sein Vater ein schlechter Mann geworden. Er habe getrunken und sich mit anderen Frauen herumgetrieben. Oft habe er ihn auch geschlagen. Eines Tages sei er samt der Schwester verschwunden, wahrscheinlich mit der bösen Frau, mit der er zuletzt zusammengelebt habe und die ihn, Raju, nicht gemocht habe. Lange Zeit habe er dann in Madras nach seinem Vater und seiner Schwester, an der er sehr gehangen habe, gesucht, habe sie aber nicht finden können. Versteckt unter einem Sitz sei er mit dem Zug nach Madurai gefahren, um in dem Dorf, wo sie früher gelebt hatten, nach ihm und Verwandten zu suchen. Er habe das Dorf aber nicht finden können, weshalb er nach Madras zurückgekommen sei. Bei den Zugfahrten habe er festgestellt, dass man dort einiges mit der Unterhaltung der Fahrgäste verdienen könne. Eine zeitlang habe er sich danach am Egmore-Bahnhof, wo die Züge nach Süden abfahren, aufgehalten und habe in den Vortortzügen Affen gemimt und gesungen. Dann sei er auf die Mount Road gezogen, wo mehr los sei.

Als geradezu unmöglich erwies sich, herauszufinden, wie lange Raju schon allein war. Er meinte, sein Vater habe ihn schon vor zwei Jahren verlassen. Bei näherem Nachfragen zeigte sich aber, dass er keine genaue Vorstellung davon hatte, was ein Jahr war. Wir versuchten an Hand von wichtigen Feiertagen, insbesondere Deepavali, bei dem man sich in Indien in ähnlicher Weise beschenkt, wie bei uns an Weihnachten, eine Reihenfolge in seine Schilderung zu bringen. Er konnte aber nicht sagen, wie viele Deepavali-Feste er schon alleine verlebt hatte, zumal er mit diesen kaum die Vorstellung von Geschenken verbunden haben dürfte. Er wusste auch nicht, wie alt er war. Auch sonst war es schwierig, in die Schilderung seiner Vergangenheit Ordnung zu bekommen. Viele Details verschoben sich in späteren Gesprächen. Am Ende blieb unklar, ob sein Vater ihn, oder ob er seinen Vater verlassen hatte. Sicher war nur eines: Raju hatte so lange auf eigenen Füßen gestanden, dass er kindliche Verhaltenweisen weitgehend abgelegt hatte. Mit Erwachsenen sprach und verhandelte er wie mit Seinesgleichen. Er war gewohnt, Entscheidungen, die seine Lebensführung betrafen, selbst zu treffen. So kam er, zu unserem Bedauern, eines Tages ohne seine gelockte Haarpracht daher. Er hatte, ohne uns etwas zu sagen, entschieden, dass es Zeit war, zum Friseur zu gehen. Er trat auch sonst wie ein Erwachsener auf, was im Hinblick auf seine geringe Körpergröße manchmal ein wenig gravitätisch wirkte. Unter diesen Umständen verbot sich für uns, gegenüber Raju als Behüter oder Beschützer aufzutreten. Unser Verhältnis zu ihm ähnelte mehr dem, welches man zu einem Freund oder Partner hat.

No Mummy, No Papi

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