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7.

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Für die Weihnachtszeit hatten wir eine Reise nach Hinterindien geplant. Wir mussten Raju daher für einige Zeit verlassen. Am Morgen vor unserer Abfahrt kam er zum ersten Mal mit einer konkreten größeren Bitte auf uns zu. Er sagte, dass es auf der Terrasse des Palls Hotel nachts jetzt ziemlich kalt werde und fragte, ob wir ihm nicht eine Bettdecke kaufen könnten. Vor der Abfahrt unseres Zuges gingen wir daher zum Moore Market und erfüllten ihm diesen Wunsch. Raju begleitete uns noch zum Bahnhof und half uns, unser reserviertes Abteil zu finden. Es zeigte sich, dass er in Dingen des Bahnverkehrs, die in Indien seinerzeit fast so kompliziert waren wie das Kastensystem, bestens Bescheid wusste.

Der Abschied von Raju fiel uns schwer. Auch er machte ein süß-saures Gesicht und versuchte seine Gefühle hinter der Freude über seine Bettdecke zu verbergen. Natürlich vereinbarten wir, dass wir uns nach unserer Rückkunft, deren Zeitpunkt nicht genau feststand, wieder sehen würden. Nach der Abfahrt des Zuges merkten wir, wie sehr Raju Teil unseres täglichen Lebens geworden war. Uns überfiel eine Leere, die erst im Laufe der Zeit durch die Ablenkungen der Reise überlagert wurde.

Die Reise führte in zweitägiger Fahrt entlang der Ostküste des indischen Subkontinentes nach Kalkutta. Dort mussten wir feststellen, dass die indischen Probleme, die wir bislang kennen gelernt hatten, noch eine erhebliche Steigerung erfahren konnten. Abends war die ganze Stadt von den Rauchschwaden der Feuer durchzogen, welche die Straßenbewohner gegen die Kühle der Nacht angezündet hatten. Sie lagerten darum in Decken und schmutzige Tücher gehüllt, die sie sich auch über Kopf und Gesicht gezogen hatten.

Von Kalkutta flogen wir nach Bangkok. Hier fanden wir ein völlig anderes Asien. Auf unserem Weg von Europa nach Osten waren Armut, Schmutz und Elend bislang nur gewachsen. Die Fähigkeit, damit fertig zu werden, schien immer nur abzunehmen. In Bangkok drehte sich dieser Trend herum. Die Stadt vibrierte vor Aktivität. Die Menschen wirkten lebensfroher und schienen, wiewohl auch hier die Probleme einer Megastadt nicht zu übersehen waren, besser in der Lage zu sein, ihren Alltag zu meistern. Die Frage drängte sich auf, warum Thailand so viel weniger Probleme als Indien hatte. Hatte dies seinen Grund darin, dass das Land weniger dicht bevölkert war? Oder darin, dass hier mit dem Buddhismus die Religion praktiziert wurde, die – einst in Opposition zum Hinduismus und seinem Kastensystem entstanden – aus Indien verdrängt worden war? Immerhin gilt das Zeitalter des Kaisers Ashoka, der den Buddhismus in Indien vor über zweittausend Jahren zur Staatsreligion machte, als das goldene Zeitalter des Subkontinentes. Oder lag es daran, dass Thailand nie von einer fremden Macht beherrscht wurde?

Wir verbrachten Heilig Abend in den Gemüsemärkten der Millionenstadt, die entlang des Cao Phraya Fluß aufgereiht sind. Von Weihnachten war in Bangkok nichts zu spüren. Die Thailänder ließen es in souveräner Weise gänzlich unbeachtet. An den Weihnachtsfeiertagen fuhren wir teils mit dem Zug, teils per Anhalter die hinterindische Halbinsel hinunter. Malaysia erschien uns mit seinen malerisch unter Palmen verstreuten Kampongsiedlungen als eine einzige tropische Idylle. Das Land stand wie Indien lange unter dem Einfluss der europäischen Kolonialmächte. Dennoch gab es auch hier keine „indischen Probleme“. Lag es nur daran, dass das Land sehr dünn besiedelt und über das ganze Jahr ausreichend mit Wasser versorgt war?


In Singapur, wo wir schließlich landeten, zeigte sich eine neue Facette asiatischen Lebens. Die Enge, die hier herrschte, unterschied sich kaum von der indischer Großstädte. Die Stadt war sogar eine Gründung der englischen Kolonialmacht. Dennoch gab es keine indischen Probleme. Lag es daran, dass der indische Teil der Bevölkerung, ähnlich wie in Malaysia, hier wenig zu sagen hatte, vielmehr die Chinesen das Leben bestimmten; oder daran, dass man Verstöße gegen Ordnung und Sauberkeit mit drastischen Strafen bedrohte, was sich in Indien jeglicher Vorstellung entzog?

In Singapur, wo der Einfluss Englands noch deutlich zu spüren war, war auch Weihnachten präsent. Abends erstrahlten die Shopping-Malls im Glanz endloser bunter Lichterketten. Im Kino lief der Film „Scrooge“ nach der Erzählung „A Christmas-Carol“ von Charles Dickens. Wir schauten uns die tränenselige Geschichte vom alten Geizkragen, der in der Weihnachtsnacht gegen alle Wahrscheinlichkeit zum gütigen, hilfsbereiten Menschen wird, mit einer gewissen Rührung an. Aus südasiatischem Blickwinkel betrachtet musste natürlich auffallen, dass die Erzählung zu einem Zeitpunkt entstanden war, als England dem Höhepunkt seiner Entwicklung als Kolonialmacht zustrebte, was mit einer Art des Ansammelns enormer Reichtümer verbunden war, die der eines Scrooge nicht nachstand. Nach der Vorstellung bat uns der Geschäftführer des Kinos in sein Büro. Er stellte uns drei leichte Fragen über den Film und überreichte uns, nachdem wir sie beantwortet hatten, mit weihnachtlichem Pathos eine Schallplatte mit der Musik des Filmes. Wir wussten nicht recht, was wir damit anfangen sollten und schenkten sie einem Inderjungen, der vor dem Kino herumstand.

Als wir nach zwei Wochen wieder zurück in Kalkutta waren, fiel uns zuerst auf, wie langsam das Leben in Indien war. Die Menschen schienen sich in Zeitlupe zu bewegen. Mit den indischen Problemen wurde uns auch Raju wieder gegenwärtiger. Nur mit Mühe konnten wir uns dazu entschließen, die berühmten altindischen Sehenswürdigkeiten von Orissa nicht auszulassen, den großen Tempel von Bubaneshwar mit den skulpturalen Türmen und den spektakulären steinernen Sonnenwagen von Konarak mit den ornamentübersäten Riesenrädern. Auf der langen Zugfahrt nach Südindien fragten wir uns mit einer gewissen Bangigkeit, ob wir Raju wieder finden würden. Drei Wochen waren für ein Kind dieses Alters eine sehr lange Zeit. Wir befürchteten, dass der Junge die Episode mit uns für abgeschlossen halten könnte. Im Übrigen erschien die Zeit, die wir mit Raju verbracht hatten, inzwischen ziemlich unwirklich. Es war wie die Erinnerung an einen Traum, in dem etwas völlig Unwahrscheinliches vorgefallen war.

Zurück in Madras wurde alles schnell wieder wirklich. Mr. D. berichtete uns, dass Raju mehrfach nach uns gefragt habe. Schon am Tag nach unserer Abfahrt sei er im Anwaltsbüro erschienen und habe vom Bürodiener wissen wollen, ob wir wieder zurückkämen und ob wir uns nicht etwa unter dem Vorwand einer Urlaubsreise nach Deutschland abgesetzt hätten. Auch habe er den Hausdiener zwei Mal beim Einkaufen abgepasst und wissen wollen, wann wir zurückerwartet würden.

Kaum zurückgekehrt, fuhren wir zur Mount Road. Schon beim bloßen Erscheinen unseres Autos, das man auf der Mount Road ja bestens kannte, verbreitete sich die Kunde von unserer Rückkunft unter dem Straßenbewohnern und Händlern. In kürzester Zeit war sie bis zu Raju gedrungen, der alsbald angerannt kam. Er schien nicht weniger erleichtert als wir. Bei der Begrüßung gab es ein großes Hallo, an dem sich alles beteiligte, was sich zu Rajus Bekannten rechnen durfte.

Zu Hause waren die alten Verhältnisse bald wieder hergestellt. Raju ging bei uns ein und aus als gehöre er schon immer zum Haushalt. Er kam morgens und fuhr abends wieder auf die Mount Road. Da die Bettdecke, die wir ihm vor unserer Reise gekauft hatten, im Palls Hotel gestohlen worden war, kauften wir ihm eine neue. In der Folge brachte er das kostbare Tuch morgens mit zu uns und nahm es abends wieder mit.

Einige Tage nach unserer Rückkunft waren wir bei Bekannten eingeladen, jungen Leute aus einer Fabrikantenfamilie, die zwei kleine Kinder hatten. Raju war wegen dieses Besuches, des ersten bei einer gutbürgerlichen Familie mit Kindern, ziemlich aufgeregt. Die Kinder des Hauses besaßen alles, was Kinder wohlhabender Eltern haben: eigene Zimmer im komfortablen Einfamilienhaus, technisches Spielzeug und Fahrräder. Während wir uns mit unseren Freunden unterhielten, spielte Raju mit den Kindern auf dem Hof. Er fuhr etwas ungeschickt mit dem Fahrrad herum und die beiden Kinder liefen übermütig lachend hinterher. Plötzlich war es still im Hof. Wir wurden von den Kindern unserer Freunde herbeigerufen. Raju lag mit dem Fahrrad am Boden und krümmte sich in rhythmischen Zuckungen. Sein Gesicht war verzerrt, vor seine Lippen trat Schaum und er war nicht ansprechbar. Nach einigen Minuten begannen sich die Verkrampfungen zu lösen und er fiel schwer atmend in einen tiefen Schlaf. Wir brachten ihn ins Haus und legten ihn auf ein Sofa, wo er mit entspanntem und friedlichem Gesicht weiterschlief. Nach etwa einer halben Stunde wachte er auf. Er schien aus weiter Ferne zu kommen, war matt und lächelte verlegen, weil er sich nur unbeholfen bewegen konnte. An das, was vorgefallen war, konnte er sich nicht erinnern. Am Abend dieses Tages ließen wir Raju erstmals bei uns schlafen.

Am folgenden Tag gingen wir mit Raju zum Arzt. Er untersuchte ihn und fragte nach ähnlichen Vorfällen, die Raju verneinte. Er fragte ihn auch, wie es zu der Narbe auf seiner Stirn gekommen sei. Raju sagte, dass es sich um ein Zeichen handele. Es zeige, dass sich ein Gott seiner besonders angenommen habe. Der Arzt meinte, dass Raju wohl einen epileptischen Anfall gehabt habe. Ob er ernsthaft krank sei, könne man erst sagen, wenn sich solche Anfälle wiederholten. Dafür, dass Raju schon einmal einen ähnlichen Anfall gehabt habe, spreche allerdings die Narbe auf seiner Stirn. Es könne sein, dass der Anfall vom Vortag durch die außerordentliche Anspannung ausgelöst worden sei, die der Besuch bei unseren Bekannten ausgelöst haben dürfte. Rajus Alter schätzte er auf sieben bis zehn Jahre und stellte fest, dass er ansonsten ein gesunder Junge sei.

Auch die folgende Nacht verbrachte Raju in unserem Haus. Er schlief auf dem nackten Steinboden neben unserem Bett, eingehüllt in seine Bettdecke, die er sich ganz über den Kopf gezogen hatte. Bevor wir selbst zu Bett gingen, standen wir lange im Schlafzimmer und betrachteten das kleine eingerollte Bündel, aus dem nur ein kleines braunes Ärmchen hervorschaute. Wir fragten uns, welchen Sinn es mache, Raju abends immer wieder auf die Mount Road zu schicken und welchen Unterschied es machen würde, wenn er über Nacht bei uns bliebe. Wir kamen zu dem Schluss, dass es einerlei sei. Dass es einen gewaltigen Unterschied machte, sollten wir erst später feststellen. Möglicherweise blieb uns der Unterschied damals auf Grund jener Kraft verborgen, die frisch verheiratete junge Menschen zur Vergrößerung ihrer kleinen Gemeinschaft drängt.

Von da an wohnte Raju in unserem Hause.

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