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Kapitel 7
ОглавлениеRickman Museum of Crime Scenes, Ostsee, 5. Mai 2049
Das Transportflugzeug zog eine Schleife über der künstlichen Insel, bevor es in den Landeanflug ging. Allerdings würde es gar keine Landung werden, wie Sam gerade realisierte, und ihr wurde dabei zunehmend mulmiger, denn überall gab es nur Wasser. Sie sah durch die verkratzte Scheibe des ovalen Fensters die Ostsee unter sich, die von beängstigend tiefem Blauschwarz war. Wie eine blankpolierte Münze hob sich das helle Rund der Museumsinsel davon ab. Allerdings hatte sie einen Durchmesser von rund 600 Metern. Die beiden großen Gebäude, der Dom und die Burg, waren auch aus größerer Höhe gut zu erkennen und boten in ihrem Nebeneinander einen skurrilen Anblick. Sam konnte nun auch ein hohes Apartmenthaus, den dreistöckigen Hotelbau mit seinen umlaufenden Arkaden und den niedrigeren, nüchternen Verwaltungskomplex ausmachen, die anderen Häuser lagen unter Bäumen versteckt.
Die Wasserung war ungewohnt holperig und Sam war froh, danach wieder einigermaßen festen Boden unter den Füßen zu haben.
Der Mann, der sie am Terminal empfing, war über ihre Ankunft informiert und stellte sich als Museumsdirektor Gero von Parneck vor. Zuerst hatte Sam ihn für Rickman gehalten, den sie nur aus Fernsehberichten und aus der Zeitung kannte, aber ihr war dann sehr schnell klar geworden, dass sich der reichste Mann der Welt um andere Dinge zu kümmern hatte, als um eine kleine Hamburger Privatdetektivin. Parneck wirkte auf Sam sehr kultiviert, von einem noblen Understatement: dezenter, grauer Anzug, kurzgeschnittenes, schon leicht graues Haar, das aussah, als käme er eben vom Friseur. Das dünne, noch dunkle Schnurrbärtchen, dessen Unterkante wie mit einem Lineal gezogen war, erinnerte sie ein wenig an Clark Gable.
„Nicht gerade verkehrsgünstig gelegen, Ihr kleines Museum“, meinte Sam mit einem Blick auf das Meer ringsum, „viel Laufkundschaft werden Sie hier aber nicht haben.“
Parneck lächelte höflich.
„Oh, seien Sie da ganz unbesorgt. Es gibt genügend Shuttles zum Festland. Und jede Menge Ausflugsboote“, er ließ mit leicht gerunzelter Stirn seinen Blick über das Meer wandern, „die legen allerdings hier nicht an. Aber allein das Umrunden der Museumsinsel und der Blick auf die Gebäude, vor allem auf den Dom, werden von findigen Trittbrettfahrern aus der Gegend bereits als Touristen-Attraktion angeboten, wogegen wir leider machtlos sind. Aber, um auf Ihre Bemerkung einzugehen, das Museum ist nach der Eröffnung schon auf Monate hinaus ausgebucht, obwohl wir mit der Werbung noch gar nicht richtig begonnen haben.“
„Dafür sorgt schon der Haufen von Verrückten, den ich im Fernsehen gesehen habe.“
„Ach ja, diese Kreuzzügler und die Liga, das wird sich bald wieder beruhigen. Aber verzeihen Sie bitte, darf ich Sie zunächst sehr herzlich bei uns willkommen heißen. Dr. Rickman hat mir erzählt, dass Sie in Sachen des Owens-Hauses sehr schnelle und erfolgreiche Arbeit geleistet haben und hat mir darum das Vergnügen auferlegt, während Ihr Gepäck ins Hotel gebracht wird, Sie ein wenig durch unser Museum zu führen - sofern Sie nicht zu müde sind, nach dem Flug? Es wären gut 300 Meter zu Fuß.“
„Oh nein, es ist mir ganz recht, ein paar Schritte zu gehen, ich musste lange genug sitzen. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Dann wollen wir mal, man könnte wohl sagen: bei Ankunft Mord.“ Sam sah an der unbewegten Mine von Parneck, dass er kein Hitchcock-Fan sein konnte, denn ihre amüsant gemeinte Anspielung sagte ihm offenbar nicht das Geringste.
Ihr lagen tatsächlich tausend Fragen auf der Zunge und sie konnte ihre Neugier kaum noch zügeln.
„Sagen Sie, stimmt es, was ich da gelesen habe, dass der Eintritt 5000 Euro pro Person kostet? Das ist ja ganz schön happig.“
„Nun, das erscheint vielleicht zunächst teuer, beinhaltet aber auch eine ganze Woche Aufenthalt in unserem erstklassigem 5-Sterne-Hotel mit Wellness-Bereich und Vollpension unserer Gourmet-Küche und vor allem natürlich die Möglichkeit, exklusiv alleine oder mit einer Begleitperson jeweils ein Haus pro Tag zu besichtigen, einschließlich der Interaktionen mit den Holo-Figuren.“
„Nur zwei Personen? Kinderfreundlich ist das aber nicht.“
„Das Museum ist erst für Personen ab 18 Jahren zugänglich.“
„Ich nehme an, wegen der ... Interaktionen?“
„Ja, ein Mord ist eine Gewalttat und die Darstellung in dem Realitätsgrad, den wir zu bieten imstande sind, nicht für Kinder geeignet. Man kann der Handlung natürlich auch nur zusehen, sie sozusagen wie dreidimensionales Kino konsumieren, aber man kann auch aktiv dabei sein.“
„Und selbst zum Mörder werden? Oder den Mord verhindern?“
„Nein, dass nun nicht gerade, weder das eine noch das andere. Bestimmte Handlungsroutinen sind festgelegt und lassen sich nicht variieren, aber sehen Sie, es geht hier ja nicht allein um die Morde“, man merkte Parneck an, dass ihm dieses Thema eher unangenehm war, „es geht doch in erster Linie um das authentische Ambiente, den kunst- und kulturgeschichtlichen Hintergrund, den Sie in den jeweiligen Gebäuden erleben dürfen. Sie können die Figuren nach ihren Lebensumständen befragen, nach den zeitgeschichtlichen Details. Darauf sind sie programmiert. Ein hochinteressantes didaktisches Konzept. Dies ist natürlich erst nach der Eröffnung oder in der Probephase möglich, aber heute haben wir schon mal eine Ausnahme für Sie und unseren anderen Gast gemacht und die Handlungsebene im Dom freigeschaltet.“
„Ein anderer Gast?“, fragte Sam erstaunt, „noch so ein VIP wie ich?“
„So könnte man es nennen, wir nehmen ihn mit auf unseren kleinen Rundgang, wenn Sie nichts dagegen haben. Da kommt, glaube ich, auch gerade sein Boot.“
Parneck warf dabei einen etwas irritierten Blick auf Sams Halstuch. Sie trug heute ein großes, viereckiges Seidentuch mit gelben, halb geschälten Bananen, die ein interessantes Muster auf dem blauen Grund bildeten.
Am Terminal legte ein kleines, privates Schnellboot an und ein dunkelhaariger Mann in einem nachtblauen, sportlich geschnittenen, vermutlich italienischen Anzug mit einem schmalen Schal in dezentem Neapel-Gelb, stieg aus und trat durch den Torbogen des Gebäudes.
„Wie sind Sie eigentlich auf die Idee für so ein außergewöhnliches Museum gekommen? Das ist ja ein höchst neuartiges Konzept.“
Parneck fühlte sich durch die Frage geschmeichelt, vor allem, weil sie unterstellte, dass es allein sein Verdienst gewesen sei, und er erzählte Sam nicht ohne Stolz von seiner ursprünglichen Idee und der Teilnahme an dem Wettbewerb, freilich ohne die Peinlichkeit der Ablehnung auch nur im Mindesten zu erwähnen.
„Ach, Sie kommen auch aus Hamburg?“, fragte Sam erfreut und lächelte ihn dabei an.
„Nun ja, ich war dort mehrere Jahre an der Kunsthalle tätig.“
„Ach, das ist ja drollig. Ich habe dort vor einigen Jahren in einem Fall recherchiert. Die verschwundenen Renaissance-Münzen aus dem Münzkabinett, die Spott-Medaille mit diesem Kardinalskopf, den man drehen konnte und dann wurde plötzlich ein Narr mit einer Narrenkappe draus, wissen Sie noch?“
„Ja, natürlich.“
„War ein ziemlicher Wirbel damals, weil man den Täter ja richtigerweise in den eigenen Reihen vermutete. Darum hat man auch auf eine Anzeige bei der Polizei verzichtet, um nicht zuviel Staub in der Öffentlichkeit aufzuwirbeln. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass wir uns damals ...“ In diesem Augenblick kam der Mann, dem Parneck bereits von weitem kurz zugewinkt hatte, mit schnellen Schritten auf sie zu und begrüßte zuerst Sam und dann Parneck mit einer leichten Verbeugung.
„Gestatten Sie, dass ich Ihnen Professor Carlo Calaprese vorstelle? - Frau Samantha Merkmann.“
Calaprese verbeugte sich noch einmal vor Sam, diesmal etwas tiefer, und deutete einen Handkuss an, wobei seine Lippen ihrer Hand nur nahe kamen, sie aber nicht berührten. Sam, die so etwas bisher nur aus Filmen kannte und es immer für albernes Getue gehalten hatte, errötete über die galante Selbstverständlichkeit seiner Geste und murmelte mit belegter Stimme etwas, was sich wie „Angelehnt“ anhörte. Gottseidank hatte sie in letzter Sekunde dem Reflex widerstanden, die Hand schütteln zu wollen, sonst wäre es unter Umständen für Calapreses Nase böse ausgegangen.
„Signore Calaprese ist Beauftragter der UNESCO“, erklärte ihr Parneck und gab seiner Stimme einen gewichtigen Unterton, „Er hat eine Professur für Philosophie an der Universität in Florenz inne, vertritt hier aber die Interessen der 'Liga gegen die Translozierung des Domes', wie sie sich nennt.“ Er warf Calaprese einen leicht skeptischen, aber durchaus noch höflichen Blick zu.
Sam überlegte, wo sie Calaprese schon einmal gesehen hatte. Vielleicht in einer Zeitung, oder nein, in dem Fernsehbeitrag, der im Pub leise im Hintergrund gelaufen war. In Wirklichkeit sah er viel sympathischer und gepflegter aus. Seine schwarzen Haare kräuselten sich lustig an den schon leicht ergrauten Schläfen. Um die dunklen Augen hatte er viele kleine Fältchen. Er trug eine Brille, was heutzutage nur noch wenige Leute taten, meist um ihre Individualität zu betonen und eine bestimmte Lebenseinstellung zu demonstrieren. Medizinisch gesehen konnten die meisten Augenprobleme schon längst durch Lasertechniken oder andere Operationen behoben werden. Sam betrachtete ihn etwas eingehender, als es höflich war. Er mochte um die 50 sein. Vielleicht knapp darunter. Als er sich über ihre Hand gebeugt hatte, meinte Sam den frischen, etwas herben Duft eines wahrscheinlich teuren Aftershaves gerochen zu haben, das sie auf Anhieb mochte.
„Meine Landleute neigen zu verbalen Übertreibungen und überschwänglichen Temperamentsausbrüchen, aber sie halten es auch für eine Sünde, mein lieber Graf Parneck, ein Gotteshaus zu versetzen, aus dem Herzen ihrer Heimatgemeinde zu reißen, für einen Taschenspielertrick, ganz abgesehen davon, dass es sich beim Florentiner Dom um ein Schatzkästchen italienischer Frührenaissancekunst handelt, dessen kultureller Wert unermesslich ist und hier - verzeihen Sie, wenn ich es einmal drastisch ausdrücke - zu einer Mischung aus Dungeon und Disneyland degradiert wird.“ Parneck schluckte, behielt aber seine Contenance und Sam bewunderte den langen Schachtelsatz des offensichtlich auch im Deutschen eloquenten Professors.
Als sie aus dem großzügigen Arkadengang, der das Hotel umzog, heraustraten, öffnete sich der Blick auf die hoch aufragende Kuppel des Domes, die, von hier aus gesehen, das Langhaus vollständig verdeckte und mit den drei Konchen den Eindruck eines idealen Zentralbaus der italienischen Renaissance erweckte. Sam war entzückt, denn aus einer solchen Perspektive hatte sie den Dom in Florenz, wo er von den Häusern der Innenstadt eingezwängt und verdeckt wurde, noch nie gesehen Er strahlte im Sonnenlicht, das gerade zwischen den Wolken hindurchbrach, mit seinem subtilen Farbdreiklang aus weißen Hausteinblöcken, dunkelgrünen Pietra-Serena-Steinen und der rotbraunen Ziegelsteinkuppel mit ihren weißen Rippen und der weißen Bekrönung.
Sie blieb für einen Moment ergriffen stehen.
Der Graf vermerkte das wohlwollend und wandte sich nun ausschließlich an Sam, da er das kunsthistorische Wissen bei Calaprese voraussetzte. Er legte die Fingerspitzen beider Hände aufeinander und während sie dem gewaltigen Bauwerk nun langsam immer näher kamen, dozierte er: „Der Florentiner Dom ist ein Meisterwerk der italienischen Architektur, das Langhaus wurde schon von Arnolfo di Cambio im späten 13. Jahrhundert erbaut. Aber die architektonische Glanzleistung ist die gigantische Kuppel von Brunelleschi, das größte je erbaute Rippengewölbe und damals zugleich die größte Kuppel seit der Antike. Sie wurde zweischalig und ohne Lehrgerüst hochgezogen, indem man die Ziegel im Fischgrätverbund mit schnellbindendem Mörtel vermauerte - ein unglaubliches Wagnis. Sie wurde 1434 vollendet, bis zum Ansatz der Laterne, die später von Michelozzo di Bartolommeo ausgeführt wurde.“
Parneck bemerkte Sams fragenden Blick. „Laterne nennt man das Türmchen oben auf der Kuppel. In Wirklichkeit ist sie kein ‚Türmchen', sondern so groß, dass auf ihrem Umgang viele Menschen Platz finden können. Die Laterne ist über die Kuppelschale zugänglich, ein ziemlich strapaziöser Aufstieg, aber man hat von dort einen wundervollen Blick auf Florenz ... äh, ich meine, auf die Ostsee.“
Calaprese warf Sam ein verschwörerisches „Ätsch-Reingefallen-Lächeln“ zu und sie lächelte schelmisch zurück.
Sie gingen nun schweigend nebeneinander und umrundeten dabei eine der drei großen Konchen, welche die Kuppel im unteren Teil umgaben und stützten. Nachdem sie ein letztes Stück entlang des nördlichen Seitenschiffs zurückgelegt hatten und um die Ecke gebogen waren, standen sie vor der imposanten Fassade mit dem Haupteingang.
„Der Bau hat die gewaltige Länge von 153 Metern“, fuhr Parneck im Tenor eines Fremdenführers fort. „Die Gesamthöhe beträgt beachtliche 114 Meter. Die Fassade, vor der wir jetzt stehen, ist übrigens, was viele nicht wissen, im oberen Teil erst ein Werk des späten 19. Jahrhunderts. Sie ist durch drei Portale gegliedert, über denen sich je ein spitzer Wimperg erhebt.“
„Ein was?“, fragte Sam nach. Calaprese erläuterte ihr an Parnecks Stelle: „Ein Wimperg ist eine Art dreieckiger Giebel, über jedem Portal, sehen Sie, da“, er zeigte mit einer Hand hinauf und trat dabei nahe an sie heran. Ihre Gesichter berührten sich fast und als er ihr den Kopf zuwandte und sie ansah, trat Sam etwas irritiert zur Seite.
„Richtig, Professore", bestätigte Parneck, "ein Architekturteil, das noch aus dem Formenschatz der Gotik stammt. Über dem großen mittleren Giebel sitzt in einer Nische eine Marienstatue als zentrale Figur einer Reihe von Skulpturen, welche die zwölf Apostel darstellen. Der Dom ‚Santa Maria del Fiore’ ist der Muttergottes geweiht, müssen Sie wissen. Ursprünglich sollte auch die Figur des David von Michelangelo in einer der unteren Nischen der Domfassade aufgestellt werden.“
„Was, der Nackte mit dem kleinen ...?“, platzte Sam heraus und bereute sogleich ihren allzu spontanen Ausruf. Sie nahm sich vor, in den nächsten Minuten gefälligst ihr Mundwerk zu halten.
„Ja, genau der.“ Parneck lächelte etwas süffisant. „Sehen Sie, Professore,“ sprach er aber nun wieder ernsthaft zu Calaprese gewandt, „viele Kunstwerke - auch der David - stehen heute, vor der Witterung geschützt, in optimalen klimatischen Verhältnissen in Museen, auch solche, die früher ortsfest an Bauten angebracht waren, denken Sie nur an den Parthenonfries. Warum soll nicht auch ein Bauwerk wie der Florentiner Dom geschützt in einem Museum stehen und so auf lange Zeit optimal erhalten bleiben.“
„Ich verstehe nicht ganz, Herr Graf, hier in der Ostsee, mitten im Meer, in relativ salzhaltiger Luft, Orkanen und Regen schutzlos ausgesetzt?“
Parneck streckte sich und sah sein Gegenüber fast ein wenig triumphierend an. „Ich freue mich, Ihnen hier eine von Dr. Rickmans neusten Entwicklungen erläutern zu können, er hat sich die öffentliche Bekanntgabe zwar für die Eröffnungsfeier vorbehalten, aber ich glaube, in ihrem Fall kann ich eine Ausnahme rechtfertigen. Ich kann mich ja wohl auf ihre Diskretion der Presse gegenüber verlassen?“, dabei sah er Calaprese scharf an. Als dieser nickte, fuhr Parneck fort: „Sehen Sie das leichte Flimmern der Luft über der Insel?“
Jetzt, wo er es erwähnte, fiel es auch Sam zum ersten Mal auf. Es war allerdings kaum wahrzunehmen und ohne Parnecks Hinweis hätte sie es wahrscheinlich gar nicht bemerkt.
„Das ist eine Art kuppelförmiger Schirm, der nur wenige Atome dünn ist und das Sonnenlicht durchscheinen lässt, feste Körper bis zu einem gewissen Gewicht und Volumen jedoch abstößt, wie zum Beispiel Regentropfen, Sand, Vogelkot, aber auch weitgehend Wind und sogar Stürme abhält oder doch wesentlich mindert. Er reicht circa zwei Meter ins Wasser hinein und wird nur von den Terminals, durch die sie beide gekommen sind, permanent durchstoßen.“
Tatsächlich fiel Sam erst in diesem Moment auf, dass es auf der Insel fast völlig windstill war.
„Garantiert konstante, für ein Kunstwerk ideale Bedingungen, besonders hinsichtlich Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Minimale äußere Einflüsse. Weitestgehender Schutz.“
Calaprese hakte nach: „Ein Schutzschirm? Das klingt mir ein bisschen nach Science Fiction. Ich könnte mir vorstellen, dass es da ganz andere Anwendungen gäbe, als ein Museum zu überdachen. Haben da nicht die Militärs das größte Interesse daran?“
Parneck lächelte. „Ganz so wie in den Filmen dieses Genres dürfen Sie es sich nicht vorstellen, Professore. Der Schirm ist nicht in der Lage, sehr schnelle Objekte wie zum Beispiel ein Geschoss abzuwehren und auch größeren Belastungen, sagen wie einmal von mehr als 120 Kilogramm, würde der Schirm nicht standhalten. Sie müssen ihn sich - laienhaft ausgedrückt - mehr wie ein Treibhaus oder ein sehr dünnes Plastikzelt vorstellen. Die Anwendungen, die Dr. Rickman im Auge hat, liegen im agrikulturellen Bereich. Man könnte etwa Felder in klimatisch für den Ackerbau ungeeigneten Gegenden überdachen oder ähnliches. Allerdings ist die dafür notwendige Technologie noch zu teuer und der Einsatz würde heute den Ertrag noch nicht lohnen.“
Calaprese schien für einen Moment beeindruckt, kehrte aber sofort wieder zu seinem eigentlichen Thema zurück: „Ist es nicht für das Objekt trotzdem sehr riskant, so eine Translozierung?“
„Natürlich gibt es dabei immer Risiken, das will ich nicht verhehlen. Besonders bei alten Bausubstanzen. Sie sind aber gerne eingeladen, sich in den nächsten Tagen den Aufbau des Hauses aus Großbritannien anzusehen, das gerade angeliefert wird. Frau Merkmann hatte einen großen Anteil an seiner Beschaffung.“
Calaprese sah Sam bewundernd an und sie errötete leicht.
Die Arbeitsteams hatten bereits begonnen, mit schwimmenden Kränen kleinere Teile aus dem Flugzeug ans Ufer zu hieven, wo sie durch eine freigeschaltete Lücke im Kuppelschirm bugsiert wurden. Man hörte den Arbeitslärm bis hierher, da das Haus nicht weit vom Dom errichtet werden sollte. Sam bemerkte auch, dass weitere Transportschiffe riesige Felsbrocken brachten, aus denen eine Art künstliche Steilküste aufgetürmt wurde.
Calapreses dunkle Augen bekamen einen eigentümlichen Glanz, als sein Blick wieder über den Außenbau des Domes wanderte.
„Er ... er ist in einem weitaus besseren Zustand, als ich ihn in Erinnerung hatte.“
„Natürlich. Sehen Sie, der Dom war in den letzten Jahrzehnten stark baufällig geworden, das muss ich Ihnen nicht eigens erläutern. Die UNESCO hat ein umfangreiches Gutachten darüber vorliegen. Die Kuppel drohte einzustürzen und konnte die gewaltige Laterne kaum mehr tragen, die Fresken im Inneren hatten schon beträchtlichen Schaden genommen, das südliche Seitenschiff gab nach und die Risse im Mauerwerk waren schon nicht mehr zu zählen. Auch einer der Vierungspfeiler war stark lädiert. Es blieb eine Frage der Zeit, bis die Kuppel eingestürzt wäre und leider haben weder die UNESCO noch die Stadt Florenz oder der italienische Staat, geschweige denn die Kirchengemeinde genügend finanzielle Mittel für eine umfassende Restaurierung aufbringen können.
„Das ist leider nur allzu wahr“, musste Calaprese zugeben, „selbst alle konzertierten Bemühungen haben hier zu keinem wirklichen Ergebnis geführt. Verschiedene Spendenaktionen, unter anderem von der Stadt ins Leben gerufen, hätten gerade einmal ein knappes Viertel der Kosten für die notwendigen Maßnahmen zusammengebracht, alle Versuche der letzten Jahrzehnte waren vergebliches Stückwerk.“
Parneck nickte zustimmend und fuhr zufrieden fort: „Dr. Rickman hat, wie Sie wissen, nach langen und zähen Verhandlungen, dann aber mit ausdrücklicher Billigung all der genannten Institutionen und überdies sogar mit dem Segen des Heiligen Stuhles den Dom als Dauerleihgabe erworben. Er hat ihn nicht nur hierherbringen und wieder aufbauen, sondern dabei auch grundlegend restaurieren lassen. Sie können mir glauben, dass es dabei an entsprechender Vorsicht und Sorgfalt nicht gemangelt hat. Die fähigsten Architekten, Ingenieure und Baustatiker der Welt haben sich hier an Knowhow überboten. Es sind am Bau keinerlei Beschädigungen durch die Translozierung entstanden, da mit einer speziellen, von Rickmans Wissenschaftlern weiterentwickelten Lasertechnik gearbeitet wurde, die es ermöglichte, eine Zerlegung der Bausubstanz unter Berücksichtigung der originalen Fugenlagen vorzunehmen, so dass man das gesamte Gebäude ohne einen einzigen Schnitt in die originale Bausubstanz abtragen konnte“. Parneck sah, dass Calaprese durchaus beeindruckt war und fuhr fort: „Die ursprüngliche, grandiose architektonische Intention von Brunelleschi kommt durch Korrekturen am Bauwerk, da, wo sie uns notwendig erschienen, heute viel klarer zum Ausdruck als in den letzten Jahrhunderten, wo zahlreiche mehr oder weniger unsachgemäße Reparaturen vorgenommen wurden. Sehen Sie nur die Außengalerie der Kuppel.“
Calaprese sah hinauf und bemerkte, dass die Ziergalerie am Tambour der Kuppel, die im 15. Jahrhundert zwar begonnen, aber nie ganz um die Kuppel herumgezogen worden war, sich nun vollständig ergänzt darbot und mit ihrem weißen Marmor oberhalb der großen Rundfenster gleichsam eine wunderschöne Krone um das rote Haupt der Kuppel formte. In einer solch vollendeten Schönheit hatte Calaprese die Kuppel noch nie gesehen. Störende Verunstaltungen aus vielen Jahrhunderten waren schonend entfernt und sachgerecht restauriert worden.
Auch der Freiraum um den Dom herum war für Calaprese ungewohnt, zwar fehlten die gewohnten, begleitenden Gebäude des Campaniles von Giotto und des romanischen Baptisteriums, aber auch die vielen, zum Teil ziemlich hässlichen Häuser der Florentiner Innenstadt, darunter auch zahlreiche Neubauten der letzten Jahrzehnte, die den Dom von allen Seiten einengten und bedrängten, von den vielen Souvenirständen und dem ständig tobenden Verkehrschaos gar nicht zu reden. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und im beginnenden 21. Jahrhundert, als noch viele mit Benzin oder Diesel angetriebene Autos auf den Straßen fuhren, hatten die Abgase der Verbrennungsmotoren dem Bauwerk stark zugesetzt.
Hier auf der Museumsinsel stand der Dom allein, in einer solitären Schönheit, erhabenen Ruhe und einer majestätischen Größe, mit der er wohl im 15. Jahrhundert auf den gläubigen Besucher einen ungeheuren Eindruck gemacht haben musste.
Calaprese holte tief Luft.
Parneck fuhr bereits fort: „Überdies hat Dr. Rickman sich sehr großzügig gezeigt, was finanzielle Zuwendungen für die Sanierung anderer gefährdeter Bauten in ihrer Heimatstadt anlangte, Professore, ich erinnere nur an die Rettung von San Miniato al Monte, Santa Maria Novella und der Pazzi-Kapelle. Und auf dem Baugrund des Domes ließ er eine Nachbildung errichten, die heute nur von Fachleuten vom Original unterschieden werden kann. Der Papst persönlich hat die Kopie geweiht und ihr damit quasi den religiösen Ritterschlag der Kirche verliehen.
Calaprese lächelte Sam an: „Der Papst hat ein schlechtes Gewissen Florenz gegenüber, weil einer seiner Vorgänger, Sixtus IV., beim Pazzi-Aufstand und dem Mord im Dom eine sehr zwielichtige und unrühmliche Rolle gespielt hatte.“ Sam lächelte zurück - wann hatten Papstvorgänger einmal keine unrühmliche Rolle gespielt?
„Dennoch, bei allem Respekt für ihre Leistungen“, fuhr Calaprese an Parneck gewandt fort, „ist doch die Frage, ob alles gemacht werden muss, nur weil es technisch gemacht werden kann? Obwohl ich sagen darf“, lenkte er ein, „dass ich von ihrer Arbeit und der ihrer Teams mehr beeindruckt bin, als mir lieb ist. Signorina, was meinen Sie?“ Sam war gerade in Calapreses fein geschwungene Lippen vertieft gewesen, errötete darum schon wieder und fluchte innerlich darüber, dass sie nicht richtig zugehört hatte.
„Ich wäre gespannt, wie es wohl innen aussieht“, meinte sie stattdessen. "Übrigens, mögen Sie eine Weinbrandbohne? Ich habe noch welche.“ Sie fischte die kleine Schachtel, die sie im Flugzeug auf ihrem Sitz vorgefunden hatte, aus ihrer Handtasche und bot daraus an. Parneck lehnte höflich ab, da sich nur noch zwei Stück in der Packung befanden, Calaprese zögerte etwas und Sam sah ihn aufmunternd an und sagte: „Ich liebe sie.“ Sie errötete schon wieder, als ihr die Doppeldeutigkeit ihres Satzes bewusst wurde, aber er lächelte nur höflich und griff dankend zu.
„Prego, dopo di Lei.“ Er wies dezent kauend mit einer leichten, elegant wirkenden Handbewegung auf den Eingang des Domes, dessen schwere Türen weit geöffnet waren. „Gracias“ antwortete Sam verwirrt, und wollte gleich darauf am liebsten in den Erdboden versinken. Sie benahm sich in Gegenwart von Calaprese wirklich wie ein dummer Backfisch.
Sie betraten das Gebäude durch das Mittelportal und Sam war überwältigt von der Größe des Raumes. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Vor vielen Jahren war sie mit Harry in ihrem Toskana-Urlaub auch in Florenz gewesen, besser gesagt, auch hier, in diesem Dom. Damals wuselten hier gut dreihundert Touristen herum, unterhielten sich laut, kamerabehängt, in albern bedruckten T-Shirts und Badelatschen. Einer trug sogar Shorts, die mit dem entsprechenden anatomischen Vorderteil der David-Statue bedruckt waren. Rote Baseballkappen mit blödsinnigen Nummern, Sonnenbrillen, dicke Bäuche, haarige Beine, herumtobende Kinder mit vorschriftswidrigen Eistüten in den Händen, sogar ein kleiner Hund. Trotz Verbotes ein beständiges Blitzlichtgewitter der digitalen oder holografischen Kameras, deren Besitzer nicht wussten, wie man den Blitzmodus abstellen konnte.
Wohl kaum jemand von diesen Touristen wird gewusst haben, dass er sich in dieser Kirche am Schauplatz eines Mordes befand.