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Kapitel 2
ОглавлениеHamburg, 30. April 2049
Samantha A. Merkmann war seit über acht Jahren Privatdetektivin, oder jedenfalls nannte sie sich so. Sie saß in der kleinen Lounge des „Störtebekers“ am Hamburger Hafen vor ihrem Cappuccino und überlegte, ob sie ein großes oder ein kleines Stück des verführerisch duftenden Streuselkuchens wählen sollte, den ihr der Kellner auf einem kleinen Servierwagen vorführte. Das hing auch ein klein wenig davon ab, wer die Rechnung zahlen würde.
Ihre Freunde nannten sie liebevoll-ironisch „Sam“, eine Anspielung auf Sam Spade und die Riege der klassischen Groschenroman-Detektive, mit denen Sam so rein gar nichts gemein hatte. Im Gegensatz zu realen Kriminalkommissaren, die für ihre Kollegen aus Büchern oder Filmen nur ein geringschätziges Lächeln übrig hatten, weil das doch alles in Wirklichkeit ganz anders sei, liebte Sam alte Kriminalromane über alles und schwärmte geradezu für Film-Klassiker dieses Genres. Die Verfilmung des „Malteser Falken“ mit Humphrey Bogart als Privatdetektiv Sam Spade hatte sie schon mindestens ein Dutzend Mal gesehen und unter den Favoriten ihrer Medienbibliothek gespeichert. Ihre Arbeit als Privatdetektivin sah allerdings etwas nüchterner und farbloser aus, als die ihrer fiktiven Kollegen. Wenn sie ehrlich zu sich war, sogar ziemlich.
Sam hatte genau vor einem Monat und zwei Tagen ihren 43. Geburtstag gefeiert und zu diesem Alter bekannte sie sich auch, denn sie hielt wenig von übertriebenem Make-up oder allzu häufigen Friseurbesuchen. Sie gehörte nicht unbedingt zu den Frauen, nach denen sich die Männer auf der Straße noch einmal umdrehten, obwohl sie durchaus als attraktiv zu bezeichnen war. Auf ihre Weise. Sie stand mit beiden Beinen fest auf der Erde und wirkte vielleicht manchmal in ihrer lebenslustigen Art ein klein wenig zu kumpelhaft. Ein guter Bekannter hatte sie einmal als „unverschnörkelt“ bezeichnet und sie wusste bis heute nicht, ob sie dies als Kompliment auffassen sollte oder lieber nicht, genauso wie das mit dem "Kumpel zum Pferdestehlen" und dem "spröden Charme", den Harry angeblich an ihr so geschätzt hatte. So konnte Sam unter den Männern zwar auf viele gute Freunde zählen, aber auf relativ wenige gute Liebhaber. Im Moment eigentlich auf gar keinen.
Ihr halblanges, dunkelblondes Haar widersetzte sich allzu oft den Versuchen, es in eine bestimmte Form zu zwingen und sie hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass diverse Wirbel ein unbezähmbar stürmisches Eigenleben auf ihrem Kopf führten. Der eine Spur zu rundliche Körperbau, der von ihrer Leidenschaft für bestimmte alkoholgefüllte Süßigkeiten herrührte, gab ihr ein sympathisches, fast ein wenig gemütliches Aussehen, was dazu führte, dass viele Leute Sam unterschätzten, was sie wiederum nicht selten zu ihrem Vorteil zu nutzen wusste. Man sah ihr eher weibliche Intuition und weniger den scharfen Intellekt an, mit dem sie schon manchen aus der Fassung gebracht hatte.
Diese Mischung wog das Manko auf, dass Sam wohl bei wilden Verfolgungsjagden über dunkle Hinterhöfe den Kürzeren gezogen hätte, denn Sport, in welcher Form auch immer - vom Schach vielleicht mal abgesehen - zählte nicht gerade zu ihren ausgewiesenen Leidenschaften. Doch Verfolgungsjagden hatte sie gar nicht nötig. Sie bediente kaum ein Klischee, das man sich von einer Privatdetektivin gemacht hätte. Sie lief weder mit dem altenglischen Habitus einer Miss Marple mit Strickzeug und seltsamen Hüten durch die Gegend, noch mit schwarzem Lederdress unter hochglänzenden Lack-Overknees und ihre rudimentären Karatekenntnisse hatte sie sich bei einem vierwöchigen Selbstverteidigungskurs für Frauen an der Hamburger Volkshochschule erworben. Und das auch nur, weil sie für eine Freundin eingesprungen war, die nach der ersten Stunde bereits buchstäblich das Handtuch geschmissen hatte. Sam hatte die Gelegenheit vor allem ergriffen, weil der Kurs praktisch kostenlos gewesen war - die von Sybille im voraus entrichteten Kursgebühren wären sonst ohnehin verfallen.
Seit vier Jahren arbeitete Sam fast ausschließlich für Rickman und seine Unternehmen, jedoch ohne fest bei ihm angestellt zu sein. Das hätte ihr Selbstbewusstsein gar nicht zugelassen. Vor allem aber, musste sie sich eingestehen, war ihr das Angebot bislang nie gemacht worden. Rickman beauftragte sie nicht damit, bösen Jungs über die erwähnten Hinterhöfe nachzuhetzen, dafür hatte er ganz andere Leute auf seiner Lohnliste. Er forderte vielmehr Sams weibliches Einfühlungsvermögen, ihren pragmatischen Verstand und ihre oft unkonventionellen Methoden. Ihren berühmten Auftraggeber hatte sie noch nie persönlich zu Gesicht bekommen, sie kannte ihn nur aus dem Fernsehen oder dem Internet und erhielt ihre Aufträge stets von einem seiner Assistenten.
Der junge Mann, der ihr nun gegenüber saß, gehörte in diese Kategorie. Er stellte sich als Rickmans persönlicher Assistent vor und Sam fragte sich, wie wohl ein unpersönlicher Assistent aussehen würde. Er kam ihrer Vorstellung von einem unpersönlichen Assistenten nämlich sehr nahe. Sein unauffälliger, aber kostspieliger Designer-Anzug passte zu der makellosen Frisur und dem sportlich-leicht und doch elegant riechenden Aftershave, das sich etwas eigenartig mit dem Duft von Kaffee und Puderzucker mischte - Sam achtete immer sehr auf Düfte und Gerüche in ihrer Umgebung. Seinen Namen hatte sie schon wieder vergessen, obwohl er ihn bei seiner formvollendeten Verbeugung genannt hatte. Rickmans Assistenten wechselten so oft, dass sie kein Interesse hatte, sich mit unnötigen Informationen zu belasten. Er würde nach Aushändigung der Unterlagen und womöglich der knappen Erläuterung ihres Auftrages so unauffällig und unpersönlich verschwinden, wie er aufgetaucht war.
Für wichtige - oder ihr wichtig erscheinende - Dinge hatte Sam hingegen ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Als Kind hatte sie geglaubt, dass ihr Nachname sie dazu prädestinieren würde, sich Dinge ganz besonders gut merken zu können, und sie war geradezu versessen darauf gewesen, diese Fähigkeit zu trainieren und Leute damit in Erstaunen zu versetzen, wie damals in der 3. Klasse, als sie bereits fast alle Elemente des Periodensystems auswendig hersagen konnte ohne recht zu wissen, was sich hinter diesen seltsamen Begriffen eigentlich verbarg. Etwas später hatte sie erkannt, dass es eine weitere Bedeutungsfacette ihres Namens gab, nämlich etwas "bemerken". Sie hatte ihr Augenmerk auch darauf gerichtet und versucht, an merkwürdigen Kleinigkeiten ihrer Umgebung, die anderen nebensächlich vorkamen, Beobachtungen anzustellen, die sie oft zu erstaunlichen Schlussfolgerungen führten, wie damals, als der kleine Koberke unbemerkt aus der Klassenkasse Geld entwendet und Sam bemerkt hatte, dass sein Konsum an Süßigkeiten plötzlich sprunghaft angestiegen war, obwohl sein Geburtstag schon ein halbes Jahr zurücklag. Sie war erfreut und erstaunt zugleich, als sie später bei der Lektüre alter Kriminalromane auf die Figur der Miss Marple stieß, die mit ähnlichen Methoden ihre Fälle zu lösen pflegte.
„Agatha Christie?“, fragte Sam erstaunt und höchst interessiert, als sie einen ersten, flüchtigen Blick in die Unterlagen geworfen hatte. „Die First Lady of Crime? Oh, ich vergöttere sie …” Das Ende des Satzes ging akustisch ein wenig unter, da Sam herzhaft in ein großes Stück Streuselkuchen biss, dessen Krümel sich nun kaskadenartig auf ihrer dunkelblauen Bluse verteilten und der kristalline Zucker auf der etwas fülligen Oberweite kleine helle Sternhaufen und Galaxien nachbildete. Sie wischte mit einer energischen Handbewegung darüber, wodurch die Galaxien zu Kometen mit langen, weißen Schweifen wurden.
„Und der Alte will wieder mal das Haus!“
Der Assistent überhörte etwas indigniert die respektlose Formulierung und erklärte bemüht höflich: „Wenn Sie es ermöglichen könnten, hierbei dienlich zu sein, wären wir Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Frau Merkmann. Kosten spielen, wie gesagt, nur eine untergeordnete Rolle. Sie können sich in formal-juristischen Fragen auch gerne der Unterstützung von Dr. Sanders bedienen.“ Der junge Mann sah etwas ungeduldig auf die winzigen Zeiger seiner Rado, deren Keramikarmband tiefschwarz und glänzend sein Handgelenk umschloss. „Hier sind die restlichen Unterlagen, den Roman kennen Sie ja vielleicht.“
Sam schnaufte verächtlich auf - war der Papst katholisch? Sie nahm gleichzeitig aus dem Augenwinkel befriedigt zur Kenntnis, dass der Fahrer inzwischen leise mit dem Kellner sprach und offenbar die Bezahlung der Rechnung im voraus regelte.
„Und hier ist noch der übliche Vorschuss - in bar, wie Sie es immer wünschen“, ein leichter Unterton zurückhaltender Missbilligung schwang in seiner Stimme, „wenn Sie bitte hier unten quittieren möchten. Vor- und Zuname ... Danke. Dr. Rickman erwartet eine baldige Rückmeldung. Ich wünsche Ihnen für Ihre Mission viel Erfolg und darf mich nun empfehlen?“
Natürlich durfte er. Es war auch nicht wirklich eine Frage gewesen, obwohl er die Stimme am Satzende gehoben hatte, sondern eine abschließende Feststellung. Sam war froh, ihn schnell wieder los zu sein. Ob sie den Roman schon mal gelesen hätte? Was bildete sich dieser junge Schnösel eigentlich ein? Alles keine Männer nach ihrem Geschmack! Sie sah ihm nach, wie er in den Fond der grauen Limousine einstieg, die vor dem Eingang auf ihn gewartet hatte - Parkplätze bekam man hier unten am Hafen um diese Zeit sowieso nicht.
„Geld-Pack! Glauben, mich einfach kaufen zu können!“ Trotz der gemurmelten Verwünschung lagen Sams Finger fast liebevoll auf dem kleinen Bündel Banknoten, das sie aus dem schwarzen Umschlag mit dem goldenen Dreieck zog. Immer stilvoll, der alte Rickman, dachte Sam und lächelte. Sie hielt ihn für einen idealistischen Spinner, vielleicht sogar ein wenig durchgeknallt, aber solange er gut zahlte, war ihr das ziemlich egal.
Der Auftrag war überdies von der Sorte, die Sam liebte, Verfolgungsjagden und übermäßiger Körpereinsatz garantiert ausgeschlossen. Sie überflog noch einmal das kurz gefasste Memo: „Die Geschichte in Agatha Christies Roman 'Zehn kleine Negerlein' basiert angeblich auf einer wahren Begebenheit. Verifizieren Sie diese Vermutung und liefern Sie Unterlagen zum tatsächlichen Hergang der Tat. Finden Sie das Haus, in dem die Morde begangen wurden. Notar Sanders ist ermächtigt, das Gebäude zu jedem Preis zu kaufen und unverzüglich die notwendigen Schritte zu seiner Translozierung zu ergreifen. Rickman.“
Die unprätentiöse Art des Multimilliardärs kam Sam sehr entgegen und der Vorschuss von 8.000.- Euro ebenfalls.
„Haben Sie auch Weinbrandbohnen?“, fragte sie den Kellner, der gerade an ihr vorbeilief.
„Weinbrandbohnen?", er wirkte über den Wunsch leicht irritiert, "Ich bedauere, leider nicht.“
Sam liebte Weinbrandbohnen über alles. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts waren sie Kult gewesen, so wie Käse-Igel und Fliegenpilze, die man aus halben Tomaten mit Mayonnaisetupfen gemacht hatte. Aber das war fast 100 Jahre her. Sam seufzte. Heutzutage bekam man Weinbrandbohnen nur noch selten. Oder runde Herz-Kirschen in Zartbitter-Schokolade, die mit Likör gefüllt waren. Oder Katzenzungen. Sie bezog ihre immer von Klarbach, einem Hamburger Delikatessenladen an der Binnenalster.
„Ich nehme noch einen Streuselkuchen.“
„Ein kleines oder ein großes Stück?“
„Ist ... ich meine, hat ... ich meine, die Rechnung ...“
Der Kellner begriff und half ihr diskret aus der Verlegenheit. „Der Herr hat die Rechnung zur Gänze übernommen.“
Sam lächelte. „Ein großes“, sagte sie, „und noch einen großen Cappuccino.“
Zur Gänze, natürlich zur Gänze. Sie hatte richtig kombiniert. Vielleicht würde sie sogar hinterher noch Bratheringe bestellen, die hier sehr gut waren. Sie liebte einen pikanten Abschluss nach zuviel Süßem. Und umgekehrt.
Sie schob ihr Rad den Berg hinauf bis zum Millerntor und fuhr die Reeperbahn und die Königstraße stadtauswärts Richtung Övelgönne. Sie bog in die Kirchentwiete ein, eine kleine Querstraße in der Nähe der Elbchaussee. Hier hatte sie in einem älteren Haus am Steilhang zur Elbe eine kleine Wohnung im oberen Stockwerk gemietet. Die Hauseigentümerin Henriette Hansen, eine alte Kapitänswitwe, wohnte im Erdgeschoss. Das Haus war weder modern noch besonders repräsentativ, eigentlich nichts Besonderes, kein Protzkasten wie die großen Villen der reichen Reeder, Konsuln, Großkaufleute und Holo-Fabrikanten an der Elbchaussee, wo Sam sich nicht einmal eine Untermiete hätte leisten können - wenn solche Leute überhaupt untervermieteten. Aber dieses Haus passte zu ihr. Sam liebte seinen ... spröden Charme.
Es war bereits Frühling und die Nachmittagssonne hatte schon an Kraft gewonnen, der Wind der Aprilstürme, die sich durch den Klimawandel der letzten Jahrzehnte immer weiter verstärkt hatten, wehte aber manchmal noch recht kühl vom Fluss herauf. Sie saß in dem schmalen, leicht vorspringenden Erker ihres behaglichen Wohnzimmers und sah aus dem noch durch echte Holzsprossen geteilten Fenster. Von Energiesparmaßnahmen hielt die Hauseigentümerin wenig - wie von fast allen technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts. Einen jungen Beamten der Stadt, der damit beauftragt worden war, die Einhaltung von vorgeschriebenen Modernisierungen an Mietshäusern zu überprüfen, hatte sie einmal mit ihrem Besen aus der Tür gejagt und auf der Straße laut um Hilfe gerufen. Seither war niemand mehr darauf zurückgekommen.
Die Sonnenstrahlen, die jetzt angenehm wärmend durch die schmutzigen Scheiben fielen, machten Sam klar, dass dringend Fensterputzen angesagt wäre. Das war der Nachteil der nostalgischen Scheiben, die noch keine selbstreinigende Lotus-Oberfläche aufwiesen. Doch sie schob, wie so oft, den Gedanken erst einmal beiseite und genoss das leicht verschmutzte, aber herrliche Panorama des trägen, grauen Stromes, auf dem Frachter mit bunten Containern und große, weiße Passagierschiffe, manche mit fantasievoller Bemalung, ruhig oder aufgeregt tuckernd in die weite Welt fuhren. Auch wenn das Wetter nicht unbedingt direkt dazu animierte, schwang für Sam beim Anblick der Kreuzfahrtschiffe ein Hauch von Südsee, Palmen und exotischen Stränden mit. Vielleicht sollte sie sich von dem Erfolgshonorar, das sie mit diesem Auftrag verdienen könnte, auch wieder einmal eine große Reise leisten. Hawaii vielleicht, die Füße im warmen Sand, oder in einer Hängematte liegen, zum Diamond Head hinüberschauen, einen kühlen, orangeroten Mai Tai mit einem grünen Schirmchen - oder noch besser: einem gelben - und einen verdammt gutaussehenden, muskulösen Mann, der abends noch nichts besseres vorhatte.
Sam seufzte leise und gab sich schließlich einen Ruck. Sie holte aus ihrer Jackentasche den MPC, ein flaches, graues Kästchen, legte es auf das etwas wackelige, dafür aber echt antike Tischchen unter der Fensterbank, wo sie gerne zum arbeiten saß und schaltete das Gerät akustisch durch Nennung des Passwortes an.
„Jailhouse Rock! - Avatar-Modus!“
Auf das Passwort hin wurde eine holografische Tastatur und ein ebensolcher Monitor projiziert und im Avatar-Modus entstand zusätzlich ein bunter Lichtwirbel, der sich auf der Tischplatte zu einer kleinen Figur mit menschlichen Umrissen verdichtete.
„Vergrößern!“
Sam mochte es nicht, sich mit einem Zwerg zu unterhalten. Der etwas höhere Energieverbrauch machte den Kohl heute auch nicht fett. Der kleine Lichtwirbel fiel wieder in sich zusammen, formierte sich fast augenblicklich neben dem Tisch neu und nahm die lebensgroße Gestalt eines jungen Mannes an, mit schwarzem Haar, das sich an der Stirn zu einer Tolle hochdrehte, großen Koteletten und etwas aufmüpfig hochgeschürzten Lippen. Die Figur trug einen weißen, mit Strass reich bestickten Overall mit weiten Beinen, Fransen an den ebenso weit geschnittenen Ärmeln und einem hochgestellten Kragen.
Sam musste zugeben, dass ihr Elvis nicht unbedingt eine Schönheit war - das teigige Gesicht erinnerte an eine Gummipuppe, manchmal flackerte die Darstellung sogar etwas und wurde durchsichtig. Natürlich war ihr MPC nicht mehr der allerneueste und auch nicht besonders teuer gewesen. Die Einstellparameter für den Avatar reichten gerademal über Geschlecht, Alter, Körperbau, Augenfarbe, Haarfarbe, Haarfrisur (da gab es viel zu wenige zur Auswahl und die Tolle war ein sehr unbefriedigender Kompromiss gewesen) bis hin zur Bekleidung, außerdem war die Haut wenig differenziert dargestellt und die Oberflächentexturen, besonders bei der Kleidung, ließen auch zu wünschen übrig - von den etwas ruckeligen Bewegungen gar nicht zu reden. Als lebensecht konnte man ihn nicht gerade bezeichnen, sein Erscheinungsbild machte eher den Eindruck einer schlechten Karikatur aus einer 3D-animierten Kinder-Serie und erinnerte daher fatal an die späten Lebensjahre des Rock-Stars.
Ein etwas dümmliches Lächeln von Elvis zeigte an, dass der Avatar betriebsbereit war.
„Anfrage an alle Standard-Suchmaschinen“, begann Sam, während sie eine Schachtel mit Weinbrandbohnen bereitstellte, „Agatha Christie. Zehn kleine Negerlein.“
„903.638 Ergebnisse. Englischer Kriminalroman von Agatha Christie. Erschienen 1939 unter dem Originaltitel ‚Ten Little Niggers or the Last Weekend’, alternativer Titel: ‚And Then There Were None’, verfilmt 1945, 1965, 1974 und 1987. Inhaltsangabe: Der angebliche U. N. Owen lädt zehn Menschen, die aus seiner Sicht eines Verbrechens schuldig sind, aber von der Justiz nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten, zu einem Wochenende in sein Haus auf einer einsamen Insel ein, wo sie ihrer Verbrechen bezichtigt werden. Die Gäste werden einer nach dem anderen ermordet, nur ...“
„Stopp! Vorherige Suche fokussieren: Verfilmung. Originalschauplatz.“
„Die deutsche Verfilmung von 1966, unter der Regie von George Pollock, fand am Originalschauplatz statt. Darsteller: Mario Adorf, Shirley Eaton, Daliah Lavi ...“
„Stopp! Suche im aktuellen Text-File: Name des Originalschauplatzes.“
„Keine Angaben.“ Sam fischte sich eine Weinbrandbohne aus der Schachtel und entfernte sorgfältig die Goldfolie. Nichts hasste sie mehr, als auf ein Stückchen kleben gebliebene Goldfolie zu beißen, was einen überraschend unangenehmen, metallischen Geschmack hinterließ. Es gab sie auch unverpackt, aber Sam bevorzugte die verpackten, da sie sich oftmals welche in die Jackentasche steckte.
Sie erinnerte sich nun, dass in dem Roman, den sie mehr als ein Mal gelesen hatte, so etwas ähnliches wie „Negerinsel“ oder „Negerkopfinsel“ vorkam.
„Text-File aus Medienbibliothek aufrufen: Literatur. Autor: Agatha Christie. Titel: Zehn kleine Negerlein.“
„Text-File steht vollständig zur Verfügung. Wollen Sie online lesen, einen Ausdruck erhalten oder den Text anhören?“
„Lass mal laufen.“
„Eingabe unverständlich.“
„Gott nochmal! Text anhören!“
„Richter Wargrave, der vor einiger Zeit pensioniert worden war, saß in der Ecke des Raucherabteils und ...“
„Stopp. Volltextsuche. Alle Begriffe aufzählen, die in Zusammenhang mit dem Wort 'Insel' auftreten.“
Sam schob sich die Weinbrandbohne in den Mund und kaute genüsslich.
„Kleine Insel ... unheimliche Insel ... verlassene Insel ... gottverdammte Insel ... Negerkopfinsel ... felsige ...“
„Stopp!", rief Sam mit vollem Mund und bemühte sich um eine verständliche Aussprache, "Auf die englische Original-Ausgabe zugreifen und die Suche auf zusammengesetzte Begriffe mit dem Bestandteil 'Island' ausdehnen.“
„Ein Begriff gefunden: Nigger-Island.“
„Okay. Neue Anfrage an alle Suchmaschinen: Nigger-Island.“
„Die Anfrage enthält rassistische oder diskriminierende Elemente und kann nicht beantwortet werden.“
Sam fluchte. „Okay, okay, du blöder Kasten. Sondererlaubnis für kulturhistorische Suche. Autorisation Samantha A. Merkmann, Privatdetektivin. Passwort: Jailhouse Rock 2049. Anfrage wiederholen.“
„Zugriff wurde registriert und genehmigt. Mehrere Bedeutungen sind möglich:
1. Nigger Island in Devon, Nähe Sticklehaven. Handlungsort des englischen Kriminalromans von Agatha Christie: Zehn kleine Negerlein.“
„Stopp! Geographische Daten von Sticklehaven anzeigen.“
„Ein solcher Ort existiert geographisch nicht.“
Na klar, dachte Sam, so einfach kann es ja auch nicht sein, sonst hätte Rickman sich einfach selbst ins Internet gehängt und sein Geld sparen können.
„Vorherige Suche fortsetzen. Jeweils nur eine Begriffserklärung nennen.“
„2. Im 18. Jahrhundert von Piraten bewohnte Insel westlich von Sansibar.“
„Weiter.“
„3. Von 1969-1972 Kneipe im Künstlerviertel von San Francisco. Damals sehr berühmt für Free Jazz-Aufführungen von farbigen Musikern.“ Sam stellte sich einen farbigen Musiker vor, gelb-blau kariert mit grünen Punkten, und grinste. Die Bezeichnung „Neger“ oder „Nigger“ galt seit langem als rassistisch und war seit vielen Jahrzehnten aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Auch den früher gebräuchlichen Begriff "Negerküsse", der Form und Farbe dieser Süßigkeit so herrlich anschaulich beschrieb, hatte man nach der Jahrtausendwende durch ein bürokratisches "schokoliertes Schaumgebäck" ersetzt, was Sam eigentlich um der Farbigkeit des Begriffes willen bedauerte. Aber "Farbiger" fand sie nun auch etwas seltsam.
"Weiter."
"Keine weiteren Ergebnisse."
Sam schluckte. "Standard-Suchmaschinen verlassen. Die englische Suchmaschine 'Colloquial Language' aufrufen. Gleicher Suchbegriff."
„Umgangssprachliche Benennung einer offiziell namenlosen, kleinen, privaten Insel unweit der Westküste von Penbrokeshire in Wales, Großbritannien, vorgelagert der Insel Skomer, die für ihre geheimnisvollen Steinkreise, Menhire und ihre grandiose Vogelwelt bekannt ist. Erwähnt in dem Essay „Revelation“ von Flannery O'Connor ...“
„Stopp! Geht doch! Umgebung der Insel Skomer anzeigen. Satelliten-Ansicht. Live. Auf den Hauptmonitor legen. Bildschirmfüllend.“
Eine Wand ihrer Wohnung, die gerade eben noch ein Muster aus bunten Orchideen auf violettem Hintergrund geziert hatte, verwandelte sich. Es erschien die Luftansicht einer kleinen Insel, welche rechts in einer fast abgetrennten Halbinsel auslief. Davor lag noch eine viel kleinere Insel - mehr oder weniger nur ein größerer Felsen.
„Rechte Bildhälfte vergrößern.“
Auf einem felsigen Plateau stand ein großes Haus, sonst war die Insel leer, bis auf eine Holzhütte am Strand. Irgendwie machte das Haus auf Sam selbst aus der Ferne einen unheimlichen Eindruck.
„Bingo, ich meine: Stopp! Bild und geographische Daten der Insel speichern unter Rickman_neu." Ihr fielen immer keine passenden Dateinamen ein, wenn es darauf ankam.
„Speicherung erfolgt“, lächelte Elvis.
„Alle Tabs schließen. Verbindung mit Great Star Alliance.“
Das Hologramm verwirbelte und baute sich erneut auf, diesmal zu einer Angestellten der größten Luftfahrtgesellschaft der Welt, die Rickman vor nicht allzu langer Zeit aufgekauft hatte. Dieser Avatar, auf den der MPC online zugriff, war wesentlich detailgetreuer gebildet als Sams Elvis und ließ sich kaum von einem lebenden Menschen unterscheiden. Das auf Befehl des MPCs von einem holografischen Projektor an der Zimmerdecke mithilfe einer archimedischen Spirale erzeugte dreidimensionale Abbild vermittelte in seinen Texturen sogar die gute Qualität des Stoffes der dezenten, dunkelblauen Uniform mit dem Kranich-Logo und dem gelben Seidenhalstuch und Sam glaubte sogar, ein dezentes Parfum riechen zu können, was aber sicherlich eine Täuschung war, denn olfaktorische Darstellungs- und Übertragungstechniken waren schon vor Jahrzehnten in der Entwicklung steckengeblieben, weil niemand so etwas wirklich brauchte. Das Gesicht der Frau, fand Sam, war etwas ausdruckslos geraten, aber wohlgeformt und würde mit dem dezenten Make-up wohl auf die meisten Kunden angenehm und sympathisch wirken. Wahrscheinlich waren der Programmierung der Figur zahlreiche Umfragen und psychologische Studien im relevanten Kundensegment vorausgegangen. Mit Sicherheit aber stammte das hochwertige Produkt aus einer Hologramm-Schmiede Rickmans.
„Guten Tag und herzlich willkommen bei Great Star Alliance. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich möchte den nächsten, möglichst billigen Flug von Hamburg nach London. Erstmal nur hin.“
Sam ging ohne zu zögern durch das Abbild der Frau hindurch, um sich einen Notizblock zu holen und die Abflugzeit zu notieren.
„Der nächste Flug nach London-Stansted", sagte der Avatar davon unberührt, "startet um 19.15 Uhr ab Hamburg. Ankunft in Stansted um 19.55 Uhr. Der Betrag von 86 Euro beinhaltet alle Gebühren, Umweltschutzabgaben und Nebenkosten und wird bei Bestätigung der Buchung von ihrem mit ihrer IP-Adresse verlinkten Konto abgebucht. Bitte bestätigen Sie ihren Auftrag."
Sam legte den Daumen flach auf ein dafür vorgesehenes Feld der Tastatur, das grün aufleuchtete und damit den Abschluss bestätigte.
„Vielen Dank für ihre Buchung. Bitte geben Sie Ihr Gepäck am Schalter auf. Sie erhalten durch ihren Daumenabdruck Zugang zu Gate 26. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug. Wenn Sie die Buchungsunterlagen ausdrucken oder weitere Services in Anspruch nehmen möchten ...“
Sam unterbrach die Verbindung bevor das endlose Werbegesülze einsetzen würde. Sie hatte noch genügend Zeit. Die Magnetschwebebahn würde sie problemlos in zehn Minuten zum Flughafen bringen, das Einchecken keine fünf Minuten in Anspruch nehmen.
Sie packte einen kleinen Reisekoffer, schloss die Fenster, fütterte King, den schwarzen Beo, der ihr ständig „Love me tender“ nachrief, goss noch einmal alle Pflanzen, prüfte, ob die Hausgeräteüberwachung an und alle Lichter aus waren. Den MPC reduzierte sie wieder auf Zigarettenschachtelgröße und steckte ihn in ihre Jackentasche. In den Koffer legte sie obenauf eine neue Packung Weinbrandbohnen, die sie von einem mittelgroßen Stapel im Küchenschrank nahm, wobei sie sich fragte, ob sie die im Flugzeug mitnehmen durfte. Wie viel Flüssigkeit ergaben 20 Weinbrandbohnen? Sie verzichtete auf eine Anfrage bei der Fluggesellschaft - im schlimmsten Fall würde sie einfach alle vorschriftswidrigen Teile vor dem Flug aufessen. Eine zweite Schachtel klemmte unter ihrem Arm, als sie die Wohnungstür mit einem altmodischen Sicherheitsschlüssel abschloss. Frau Hansen hielt wenig von „modernem Kram“. Halt, der Müll musste ja auch noch weg! Frau Hansen hatte sich bis heute ebenso erfolgreich gegen die Bemühungen der Stadt gewehrt, das Haus an das zentrale Müllentsorgungssystem anzuschließen.
Wenig später balancierte Sam - beladen mit Reisetasche, Koffer, Weinbrandbohnenschachtel und Mülleimer - die Treppe hinunter. Wie sie schon richtig vermutet hatte, wurde die Tür im Erdgeschoss genau in diesem Moment einen kleinen Spalt weit geöffnet.
„Schönen Tach auch, Fräulein Samantha“, ein wohlfrisierter, grauhaariger Damenkopf schob sich durch den Türspalt. Sam lächelte freundlich und blies sich, da sie keine Hand frei hatte, eine widerspenstige Strähne dunkelblonden Haares aus den Augen.
„Guten Tag, Frau Hansen, ich verreise für ein paar Tage. Dürfte ich Sie wieder bitten, die Pflanzen zu gießen und King Futter zu geben?“
Damit reichte Sam die Schachtel mit den Weinbrandbohnen durch den Türspalt, der sich daraufhin weit öffnete. Sie stellte ihre anderen Lasten erst einmal ab.
„Och, das hätte doch nich Not getan. Vielen Dank auch. Geht das wohl wieder mal auf Große Fahrt?“ Die Neugier stand der alten Dame förmlich in den leuchtenden Augen geschrieben.
„Na ja, so weit nun auch wieder nicht. Ich muss nach England, genauer gesagt, nach Wales.“
„Och, da is mein Seliger auch immer längs geschippert. Bis nach Liverpool rauf. Mit seiner Aurora. War ja ein schönes Schiff, die Aurora.“ Eine etwas lastende Pause entstand, bis Frau Hansen fortfuhr, wobei ihre Stimme auf dem schmalen Grat zwischen Frage und Feststellung wanderte: „Is wohl ne Geheimsache?“
„Nun", Sam musste dabei lächeln, "das nicht gerade, ich bin mit einer Immobilienangelegenheit betraut worden.“
„Wohl wieder von ihrem Millionär?“
„Er ist nicht m e i n Millionär, Frau Hansen, aber Sie haben Recht. Ich bin im Auftrag von Mr. Rickman unterwegs.“
„Doch nich etwa für dieses neue Museum? Da machen die ja im Moment bannich viel Aufhebens drum. Ich hab das erst vor Tagen inner Illustrierten gelesen. Zehn Seiten! Mit Bildern! Un in Fernsehen kam das auch schon so oft. Der hat das ja alles bezahlt. Na, ich weiß ja nich, was ich nu dazu sagen soll. All die vielen schweren Gebäude mittenmang auf dem Meer! Als obs in der Ostsee kein schweres Wetter geben würde. Und erst die Stürme! Un wenn da nu Schiffe dagegen fahren? Na, unsereins kommt da ja sowieso nich hin. Für mich is das nun schon mal gar nix. Man mag das ja nich mögen müssen. Aber das ganze gruselige Zeug da, also wissen Sie, Fräulein Samantha, nee, das is nu wirklich nix für mich. Ich geh da lieber in die Kunsthalle am Bahnhof, das,“ sie machte mit der Hand eine Bewegung, als würde sie einen Chor dirigieren, „das is noch ein Museum, die haben da einen Caspar David Friedrich, son großes Bild, mit nem verunglückten Schiff in Eismeer. Das is man noch Kunst gewesen. So was gehört in ein Museum ausgestellt und nich Mordfälle! Wo sind wir da bloß wieder hingekommen?“
Sie deutete hinter sich in die Stube hinein, wo wahrscheinlich die von ihr erwähnte Illustrierte lag. „Das Preisausschreiben hab ich ja nu nich mitgemacht. Ich möchte doch nich die erste sein, die da durchgehen muss. Bin doch kein Versuchskaninchen. Ausprobieren, ob die einen nicht vielleicht totschlagen? Nee, ich ja nu nich. Obwohl, mit diesem Riesen-Flugzeug abgeholt werden, direkt vorm Haus, das wär schon was. Da würde die olle Bramstert von nebenan aber ganz schön Augen machen. Wo die doch den ganzen Tach am Fenster hängt. Aber das mit diesen Bewohnern von diesem Museum, na, das is ja auch nich geheuer. Die laufen da ja wohl überall frei rum. Und Mörders dabei! Also wissense, nee. Wenn die nun jemanden Falschen ermorden tun! Von so einer Insel kann ja keiner runter. Nee, nee, Fräulein Samantha, passen sie bloß gut auf sich auf.“
"Keine Sorge, Frau Hansen, ich muss da ja gar nicht hin."
Frau Hansens Redefluss war wie üblich schwer zu bremsen. Nach der kurzen Unterbrechung begann sie - wie Sam schon befürchtet hatte - mit einem ihrer Lieblingsthemen: „Aber wenn Ihnen da mal so ein netter Mann über den Weg läuft, ich meine ein richtiger, kein so künstlich ... Animirierter - na, Sie wissen schon, was ich meine - dann schauen Sie doch nun endlich mal genauer hin. Das kann doch nich angehen, dass Sie immer noch alleine sind. Die ...“, sie stockte ein wenig verlegen, „die ... Geschichte is ja nun schon so lange her. Wie is das denn mit ihrem Millionär? Der is doch ledig. Wär das nix für Sie? Na ja, büschen alt isser ja, wär eher was für mich, jahrgangsmäßig - aber dann hätten Sie ihn wenigstens nicht so lange.“ Sie kicherte verschmitzt in sich hinein. „Aber mal im Ernst: Eine gute Partie wär das ja allemal. Sieht ja auch noch ganz passabel aus. Reichste Frau der Welt, na? Oder vielleicht ein Adliger? Wär das nix? Dann müssten Sie auch nich mehr arbeiten, schon gar nich so gefährlichen Kram. Aber achten Sie darauf, Fräulein Samantha: Wenn Sie wirklich einen treffen: Der Humor! Sie müssen immer darauf achten, dass er den gleichen Humor hat, wie Sie. Wenn man über das Gleiche lachen kann, ist der Rest nur noch ein Kinderspiel. Hat mein Seliger auch immer gesagt. Denken Sie man bloß an meine Worte.“
Plötzlich sah Frau Hansen an Sam vorbei aus der Tür und erstarrte in maßlosem Entsetzen. Sam kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut aus Kriminalfilmen, wo sich der Mörder von hinten herangeschlichen hatte und mit dem aufblitzenden Stilett zum tödlichen Stich ausholte, während der Detektiv ihm völlig ahnungslos den Rücken zukehrte.
„Da!“, stöhnte Frau Hansen tonlos und es verschlug ihr tatsächlich völlig die Sprache. Sams Blick folgte dem ausgestreckten, dünnen Zeigefinger, der leicht zitterte.
Dann sah sie das Grauen auch.
Eine perlenkettenartige Spur von Müll führte die Treppe hinauf, oder besser gesagt, hinunter. Ihr Müll. Zerknüllte, weil gebrauchte Papiertaschentücher, eine leere, schon ziemlich alte, aber noch schleimige Bananenschale, golden glänzende Einwickelpapiere von Weinbrandbohnen und eine kaputte, alte Haarbürste mit ziemlich vielen Haaren darin reihten sich zu einem peinlichen Defilee. Sam schaute verdutzt auf den Mülleimer, der seinen Dienst nur noch unzureichend versah, weil der Boden sich halb gelöst hatte.
Unter den tadelnden Blicken von Frau Hansen und von ihr kopfschüttelnd erzeugten Geräuschen, die wie "Tzs, tzs, tzs" klangen, musste Sam alles säuberlich aufsammeln, den Müll sorgfältig trennen und auch den kaputten Eimer sachgerecht entsorgen. Um einigermaßen von der blamablen Situation abzulenken, kam Sam auf Frau Hansens Lieblingsthema zurück: "Machen Sie sich wegen eines Mannes keine Hoffnungen - ich bin nur kurz und rein geschäftlich unterwegs, da lerne ich keine Männer kennen und der britische Humor, na, ich weiß nicht so recht. Und machen Sie sich bloß keine unnötigen Sorgen. Es ist ein absolut unspektakulärer und garantiert ungefährlicher Auftrag. Ich bin weit von der Museumsinsel entfernt und Mörder laufen mir schon gar nicht über den Weg."
Sam ahnte in diesem Moment nicht, wie sehr sie sich in allem täuschen sollte.