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Kapitel 9

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Sam wollte sich gerade ein heißes Bad einlaufen lassen, als sie es sich anders überlegte. Hatte Parneck nicht einen Wellness-Bereich erwähnt? Sie schlüpfte in den weißen Bademantel, der auf dem Bett bereit lag und in die Frottee-Latschen, nahm das große Handtuch, auf dem SAUNA stand und verließ ihr Zimmer. Im Aufzug war die unterste Etage mit dem Wort „Wellness“ und einem entsprechenden Piktogramm gekennzeichnet.

„Kombiniere, da bin ich richtig“, dachte Sam und drückte auf den Knopf.

Der Wellness-Bereich war luxuriös, was man bei den Eintrittspreisen auch erwarten durfte. Sam sah ein großes Schwimmbecken mit einem Whirl-Pool und einem künstlichen Wasserfall, eine Kneipp-Grotte, die den Eindruck erweckte, als sei sie aus echtem Felsen herausgeschlagen worden und die von dicken, weißen Kerzen geheimnisvoll illuminiert wurde, eine finnische Holz-Sauna, ein geschmackvoll in dezentem Beige gestaltetes Lapidarium mit griechischen Götterstatuen, ein Kräuterdampfbad und sogar einen Eisbrunnen. Das einzige Geräusch, das man hier unten hörte, war das ständige leise Klacken, das die Eisstückchen erzeugten, wenn sie von der Decke fielen und sich im Rund des flachen "Brunnens" zu einem kleinen Berg anhäuften.

Sonst war es ungewöhnlich still. Gelegentlich konnte man das leise Plätschern von Wasser oder ein sanftes Rauschen in den Heizungsrohren zu vernehmen. Noch war der Museumsbetrieb ja nicht eröffnet und mit Gästen somit nicht zu rechnen. Da die Anlage jedoch bereits in Betrieb und alle Räume ihrer Nutzung entsprechend beheizt waren, mutmaßte Sam, dass der Wellness-Bereich auch von den Museumsangestellten besucht werden durfte. Ob sie damit rechnen musste, plötzlich einem nackten Grafen gegenüber zu stehen?

Sam lächelte schelmisch, doch ihr Lächeln erstarb, als sie ein seltsames Geräusch hörte. Sie hatte schon viele Kriminalfilme gesehen, wo Menschen in einer Saunaanlage umgebracht worden waren. Ein beliebtes Motiv; auch der neue skandalöse Musik-Clip von Marii Farewel spielte in einer Sauna, wo sie sich nackt auf der Holzbank räkelt und erstochen wird, während sie ihren neusten Hit "Death is waiting for you" singt. Sam überlegte, was einen solchen Ort wohl für Mörder so anziehend machen sollte. Filmemacher reizte sicherlich die Möglichkeit, mehr oder weniger gewagte Nuditäten zu zeigen, aber kriminalistisch? Die uralte, abgedroschene Geschichte, wo Türen von außen mit Besen oder ähnlichem blockiert werden konnten, hat doch noch nie jemand ernsthaft geglaubt. Wenn man jedoch ganz allein hier war ... Sam schrak zusammen, als sie ein Geräusch hörte, das wie das Öffnen einer Tür klang, dann war wieder alles still.

Sie fröstelte und verscheuchte die ängstlichen Gedanken; ihre Nerven waren wohl von den Erlebnissen im Dom noch überreizt. Sie bog im Labyrinth der gesundheitsfördernden Räume um eine Ecke und entdeckte am Ende eines kurzen Ganges ein Kristalldampfbad, das sie verlockte. Sie spähte durch die beschlagene Glastür und sah im Halbdunkel einen effektvoll beleuchteten, riesigen Bergkristall in einer Nische an der Rückwand. Sie hängte ihren Bademantel an einen Haken neben der Tür und betrat nackt den halbdunklen, mit aromatischem, heißem Dampf gefüllten Raum, der nach Menthol, Eukalyptus und Bergamotte roch.

Als sie beim vorsichtigen Vorantasten an ein paar menschliche Füße stieß, blieb ihr vor Schreck das Herz fast stehen.

„Verzeihung“, hörte sie eine Stimme aus dem Dampf, „vielleicht hätte ich mich früher bemerkbar machen sollen.“ Sam holte tief Luft, soweit der heiße Dampf dies erlaubte und machte zwei Feststellungen, die sie einigermaßen beruhigten: Erstens: die Füße gehörten nicht zu einer Leiche, zweitens: die Stimme gehörte nicht Parneck, ja sie war sogar erfreulicherweise weiblich.

Sam bemerkte, dass sich der Dampf durch das Öffnen der Tür und die dadurch eingeströmte Kälte etwas gelichtet hatte und im Halbdunkel erkannte sie langsam einen ganz zweifelsfrei weiblichen, nackten Körper, der auf einer ergonomisch gerundeten Bank in geschmackvollem Dunkelblau saß. Wie die Sitzbank war der ganze Raum mit kleinen, tiefblauen Mosaiksteinchen überzogen, die in regelmäßigen Abständen mit glitzernden Goldtesserae abwechselten. Darüber wölbte sich ein effektvoller Sternenhimmel aus bunten Lämpchen, die ständig dunkler, dann wieder heller wurden und dabei langsam die Farben wechselten.

Sam setzte sich auf die gegenüberliegende, freie Bank und überlegte dabei fieberhaft, was sie jetzt sagen sollte. Sie ging nicht oft in eine Sauna und in einem solchen Dampfbad war sie heute das erste Mal. Sie hatte auch keinerlei Ahnung, wie man sich in einer solchen Situation, gänzlich unbekleidet, etikettemäßig richtig verhielt. Grüßte man sein Gegenüber? Und wenn ja, formell höflich oder sportlich kumpelhaft? Stellte man sich vor? Etwa: „Guten Tag, mein Name ist Merkmann, Samantha Merkmann“? Stand man dazu wieder auf? Oder genügte ein „Hallo, auch hier?“ Sprach man sich mit Nachnamen oder Vornamen an? Oder war es höflicher, einfach zu schweigen, um in diesem Fall die andere nicht in ihrer Kontemplation und Erholung zu stören? Und: stellte sich etwa die Jüngere zuerst vor, und woran erkannte man, wer die Jüngere war?

Da der Dampf sich weiter lichtete, klärte sich zumindest diese Frage, denn die Frau, die ihr gegenüber saß, hatte einen sehr attraktiven, jungen Körper. Sam schätze sie auf Mitte 20 und rutschte automatisch auf ihrer Sitzbank soweit nach vorn wie es ging und hob Rücken und Brust ein wenig an, um die Ringe, die beim Sitzen vor ihrem Bauch entstanden waren, wenigstens halbwegs zu glätten. Sie verfluchte in solchen Momenten ihren Hang zu Weinbrandbohnen und anderen süßen Verlockungen. Allerdings, stellte sie etwas befriedigt fest, litt die Attraktivität ihres Gegenübers durch eine ziemlich große, scharf geschnittene Adlernase, die Sam ein wenig an Sherlock Holmes oder neuerdings auch an Lorenzo di Medici erinnerte.

„Hallo, ich bin Tanja.“

Damit waren wieder zwei Probleme vom Tisch.

Eine Düse in der Wand produzierte jetzt neuen, heißen Dampf, der sich sofort auf der Haut niederschlug und in kleinen Rinnsalen angenehm warm und duftend am Körper herab lief.

„Ich bin Samantha, aber man nennt mich meist nur Sam.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Sam. Ich habe dich schon vorhin am Dom mit deinem Mann und Parneck gesehen.“

Aha, man duzte sich also im Dampfbad, wieder eine Unklarheit weniger.

„Das ist nicht mein Mann, ... das ist ... also er ...“

Tanja kicherte und wahrscheinlich zwinkerte sie dabei auch mit den Augen, was man im Halbdunkel natürlich nicht sehen konnte. „Schon gut, hab schon kapiert.“

Sam wollte erst vehement widersprechen, ließ es dann aber bleiben und erzählte ihr lieber die Geschichte, die sich im Dom zugetragen hatte. Sie erwähnte auch die Hilfe durch Calaprese. Es tat ihr gut, mit jemandem, vor allem mit einer Frau, über das Geschehene zu reden.

„Du weißt aber schon“, warf Tanja zuletzt scherzhaft ein, „dass Beziehungen, die auf Extremsituationen aufgebaut sind, psychologisch gesehen, kaum Aussicht auf Bestand haben. Das stand neulich in meiner Fernsehzeitung.“

„Es ist keine Beziehung“, erwiderte Sam, schneller und entschiedener als nötig, wobei sie jedes Wort einzeln betonte, was Tanja zu einem erneuten Kichern veranlasste, „Na ja, so ganz unattraktiv ist er ja nun nicht gerade, und kultiviert, und wahrscheinlich reich, und muskulös.“

„Na, wenn das nicht reicht. Ich habe kein so rechtes Glück mit den Männern, mein letzter war, na, sagen wir mal, ziemlich unerträglich. Natürlich hatten es mir alle von Anfang an gesagt. Aber du? Worauf wartest du noch? Ich gebe dir den guten Rat: ran an den Speck!“ Sam blickte auf ihren Bauch und fragte sich, wie Tanja das wohl gemeint haben mag, hakte aber vorsichtshalber nicht weiter nach.

„Was machst du eigentlich hier im Museum?“ fragte sie stattdessen interessiert.

„Ich bin Kostümbildnerin. Früher wollte ich mal Psychologin werden, aber dafür hat es nicht ganz gereicht. Ich entwerfe die Kostüme, vor allem die für die Besucher und kümmere mich um die Restaurierung der originalen Stücke, die Parneck ankauft. Da wird auch beim laufenden Betrieb wohl einiges reparaturbedürftig werden. Wir haben ja noch gar keine Ahnung, wie die Besucher mit den Figuren umgehen werden. Aber es sind nur wenige, die wirklich originale Kleidungsstücke aus der betreffenden Zeit tragen. Meist schreibt Heio - also Murr - die Kostüme oder Requisiten gleich mit in die Computermatrix, dann muss ich ihm Vorlagen liefern oder Modelle schneidern, die dann eingelesen werden. Der Computer hat alle 3D-Daten einer Figur gespeichert, also wo die einzelnen Atome sein müssen und ihre chemische Zusammensetzung, etwa ob ein Kleiderstoff aus Wolle oder Samt ist. Das wird dann an die passende Stelle projiziert. Es muss gar nicht mal am Körper sein. Eine Figur kann auch mal ein Taschentuch fallen lassen, oder mal ihr Kleid ausziehen, wenn du weißt, was ich meine ...", Tanja kicherte, "Ist natürlich verschleißfrei und für uns viel besser als richtige Kleidung. Aber Parneck will, dass manche Figuren originale Kostüme tragen und mit originalen Requisiten umgehen, damit möglichst viel echt und aus der betreffenden Zeit ist. Da ist er sehr hinterher. Aber weil die Figuren sich bewegen, nutzt sich natürlich echte Kleidung ab oder wird schmutzig. Das mit den Originalen wird wohl auf Dauer nicht funktionieren - außer vielleicht bei Ritterrüstungen. Wenigstens schwitzen die Figuren nicht. Da braucht man die Kleider wenigstens nicht waschen. Aber entschuldige, ich rede wieder mal viel zu viel."

"Sie schwitzen nicht?" fragte Sam interessiert nach und streifte sich den Schweiß von den Armen.

"Na ja, bei manchen sieht es so aus, als würden sie schwitzen, aber der Schweiß geht natürlich nicht ab. Warum, weiß ich auch nicht genau, das ist technisch bedingt. Ich glaube, weil die Atome sofort wieder eingesammelt werden oder so. Und auch kein Hautfett. Die hätten nicht mal Fingerabdrücke - und aufs Klo müssen sie natürlich auch nicht - ganz schön praktisch, was?" Tanja lachte.

"Aber ich habe gesehen, dass sie bluten."

"Das projiziert auch nur der Computer, ist praktisch nur ein Trick. Wenn die Handlung zu Ende ist, ist auch das Blut wieder weg - sogar vom Boden. Unsere Putzfrauen sind schwer begeistert, auch wenn sie's nicht ganz begreifen. Die müssen sich sowieso an allerhand hier gewöhnen. Zwei haben schon gekündigt.“

„Und wie ist das genau?“, wollte Sam von ihr wissen.

"Mit den Putzfrauen?"

"Nein, mit den Holo-Figuren."

„Ach so, genau weiß ich das auch nicht. Um die Technik habe ich mich nie so gekümmert und sie machen noch ein ziemliches Geheimnis draus. Aber ich habe gehört, Rickman wird bei der großen Eröffnung die Katze aus dem Sack lassen und alles erläutern. Aber das ist wohl sowieso viel zu kompliziert für unsereinen. Wenn du es wirklich genauer wissen willst, frag einfach Heio, ich meine Murr, das ist unser Chef-Ingenieur. Der ist ziemlich genial, aber ansonsten ... na ja, ein ziemliches Ekelpaket. Und du? Gehörst du auch mit zur Truppe oder was machst du hier?“

„Ich bin Privatdetektivin.“ Sam konnte sich diesmal nicht zurückhalten, obwohl sie es sonst so selten wie möglich erwähnte. Aber ein klein wenig wollte sie Tanja doch damit beeindrucken.

„Wirklich?“, fragte diese auch gleich überrascht nach und sah Sam mit vor Erstaunen leicht geöffnetem Mund an, „das sieht man dir gar nicht ... ich meine, du wirkst ... ich meine ...“

„Ist schon gut, die meisten Menschen würden das nicht von mir denken.“

„Das ist ja super, hast du auch schon mal einen Mord aufgeklärt? Oder warst in eine Schießerei verwickelt? Oder bist du schon mal in Lebensgefahr gewesen?“ Tanja wirkte wie ein Teenager, der seine beste Freundin aufgekratzt nach intimen Details ihrer neusten Liebesbeziehung fragt.

„Gute Güte, nein! Ich hatte allenfalls mit Kunstdieben, meistens aber nur mit Scheidungsangelegenheiten und so zu tun, bis mich Rickman mit - na sagen wir mal - diplomatischen Missionen beauftragte, zu denen man ein wenig Kombinationsgabe braucht. Na ja, genau betrachtet war der Kunstdiebstahl damals juristisch gesehen nur eine Unterschlagung. Aber einen Erpressungsversuch habe ich auch schon mal aufgeklärt.“

„Und ich hatte mir dich schon als Action-Heldin in schwarzer Ledermontur vorgestellt. Da gibt es tolle Kostüme. Kennst du vielleicht noch Emma Peel?“

„Na klar, 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Kult-Fernsehserie, 'Mit Schirm, Charme und Melone'. In Schwarz-Weiß. Ich habe alle Folgen downgeloadet. Total sinnfreie Handlung aber irgendwie verrückt - einfach super!“

Beide lachten.

„Ich heiße übrigens auch Piehl, Tanja Piehl - allerdings mit i-e-h statt Doppel-e.“

„Das ist ja amüsant. Und läufst du auch in solchen Outfits rum?“

„Würde es dir denn nicht auch Spaß machen, so herumzulaufen? Hast du dir noch nie gewünscht, in eine andere Rolle zu schlüpfen?“

„Rolle? Ich weiß nicht recht ...“

„Probier es doch mal aus. Nur so zum Spaß. Ich habe alles dafür hier im Haus. Das meiste sogar selbst geschneidert.“

„Was? Wofür? Fürs Museum?"

"Nein", lachte Tanja unbekümmert, "privat."

"Bist du eine ... ich meine, machst du ... ich meine ...“ Wieder lachten beide.

„Nein, nicht was du vielleicht denkst. Marc, das ist mein jetziger Freund, Marc steht nicht auf so was. Dazu ist er viel zu religiös. Er wohnt übrigens drüben in Bansin, aber er besucht mich oft hier auf der Insel. Er interessiert sich sehr für meine Arbeit. Nein, du wirst es nicht glauben ...“, Tanja machte eine effektvolle Kunstpause und Sam, die inzwischen nachgedacht hatte, ob ihre Vorliebe für bunte Schals und ausgefallene Tücher bezüglich ungewöhnlicher Outfits punkten würde, beugte sich neugierig nach vorn, „ ... ich bin Piratin.“

Sam starrte sie entgeistert an.

„Piratin?“

„Ja, Bloody Mary. So bei Festen, Events oder Kindergeburtstagen“, fuhr Tanja begeistert fort, „Wir sind eine ganze Truppe - 'Flints Meute' - drei Männer und zwei Frauen. Das macht irre Spaß. Wir zeigen eine tolle Show. Ich kann sogar Feuerspucken. Die Rolle ist fast zu meinem zweiten Leben geworden. Da kann ich meine verdrängte Verwegenheit so richtig ausleben und ungestraft Männer verprügeln", wieder lachte sie herzlich, "Wir machen übrigens heute Abend eine große Show, drüben am Strand. Komm doch auch hin, wenn du willst.“

Sam versprach es gerne. Sie hatte sich ein bisschen Ablenkung redlich verdient. Tanja war genau die Richtige dafür. Sie redete viel und gerne und machte einen offenen, ungezwungenen Eindruck, was Sam gerade jetzt als sehr angenehm empfand.

„Ich hoffe es stört dich nicht“, fuhr Tanja ganz begeistert fort, "dass ich auch Parneck eingeladen habe. Er kommt ja sonst nie vom Museumsgelände weg. Aber da werden so viele Menschen sein, dass ihr euch wohl kaum über den Weg lauft.“

Für Sam war das kein Problem. Sie hatte bereits ein wenig Abstand von den Ereignissen der letzten Stunden gewonnen und sie fand Parneck vielleicht ein bisschen schnöselig, aber nicht unbedingt unsympathisch.

Die entspannende Hitze, die reinigende Feuchtigkeit und die ungezwungene Unterhaltung taten ihr gut, und sie fand Tanja auf Anhieb recht nett - vielleicht ein wenig naiv, aber durchaus nett.

„Ist dein Freund auch Pirat?“

„Nein, so was mag er nicht. Das ist ihm zu albern. Marc, also eigentlich heißt er ja Markus nach diesem Evangelisten, aber alle nennen ihn Marc, ist mehr introvertiert. Hat Theologie studiert. Man könnte ihn eher für die Oberammergauer Passionsspiele gebrauchen. Dafür wäre er ein ziemlich guter Typ, mit seinem Bart und den langen Haaren und wie er immer schaut. So eine Art Reserve-Christus. Ist familiär ziemlich vorbelastet. Professor Kutanus ist sein Vater. Der bekannte Reformtheologe. Hast du von dem schon mal gehört? Ist berühmt, manchmal sogar im Fernsehen. Schreibt Abhandlungen über das zunehmende Verschwinden der religiösen Werte in unserer Gesellschaft und so. Ziemlich konservativ, wenn du mich fragst. Na, die ganze Familie ist etwas komisch. Aber Marc ist ganz in Ordnung. Zumindest war er es immer ... in letzter Zeit ... na ja, er hat mit seinem Examen ziemlich viel um die Ohren ... ich glaube, er hat da ein paar Prüfungen versiebt, aber er redet nicht gerne drüber ... vertrauen ... vorgestern ...“

Sam sah plötzlich das bleiche Gesicht von Calaprese vor sich, das sich zu einem diabolischen Grinsen verzog. Sie schreckte auf. Sie hatte zuletzt nicht mehr richtig zugehört, fast wäre sie im Halbdunkel ein wenig eingenickt und sah entschuldigend zu Tanja hinüber, die jetzt bemerkte, dass ihr Redefluss auf Sam einschläfernd gewirkt hatte.

„Die Holos im Dom haben dich ganz schön geschockt, was?“ fragte sie unvermittelt und Sam nickte nur. „Das geht wohl jedem so, der sie das erste Mal erlebt. Sie sind anders als die Computer-Avatare und die Holos, die man überall in den Souvenirläden kaufen kann. Nicht nur, weil sie tatsächlich körperlich sind, aber hauptsächlich deswegen. Du kannst sie anfassen und sie dich auch. Rickman wird damit noch ein paar Milliarden mehr scheffeln - oder hat das wahrscheinlich schon.“

„Wie meinst du das, die sind doch noch gar nicht auf dem Markt?“

„Glaubst du denn, eine solche Erfindung wird nur gemacht, um für ein Museum tolle Statisten zu haben? Das ist doch nur ein Aushängeschild, Werbung eben. Ich bin sicher, dass diese neuen Holos schon längst im Einsatz sind. Mit ganz anderen Aufgaben.“ Tanja sah verschwörerisch zu Sam hinüber und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen.

„Aber wenn es sie schon länger gibt, warum dann noch nicht im freien Verkauf? Die sind doch offenbar viel besser als die einfachen Licht-Holos, die man derzeit kaufen kann.“

„Du weißt doch, wie das immer läuft: Die stellen irgendein neues Gerät her und das ist so groß wie dein Wohnzimmerschrank und alle kaufen es, weil es neu ist. Und wenn es alle haben, kommt dasselbe Teil nochmal raus und ist jetzt so groß wie eine Zigarettenschachtel und auch noch viel schneller und besser. Was sie auch vorher schon hätten machen können. Aber alle schmeißen nun das alte weg und kaufen das neue und - voilá - doppelter Verdienst. So hatte auch dieser Bill Gates seine Millionen gemacht.“

Sam wurde es nun langsam zu heiß. Ihr war schon leicht schwindelig, als sie aufstand. Auch Tanja ging kalt duschen, beide rieben sich mit Eisstückchen ein und setzten sich ins Lapidarium, wo eine angenehme Temperatur von etwa 40 Grad herrschte und unaufdringliche, leise Meditationsmusik aus unsichtbaren Lautsprechern drang.

Sam wirkte plötzlich sehr nachdenklich.

„Der Mönch im Dom, er hat mich so seltsam angesehen. Nur kurz, aber richtig angesehen. So, als hätte er mich ... persönlich erkannt. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Glaubst du, die neuen Holo-Figuren haben so etwas wie ein Bewusstsein?“

„Du liest zuviele Science-Fiction-Geschichten. Du meinst, wie dieser Doc aus Star Trek? Der eine Persönlichkeit entwickelt hat? Nein, da steckt einfach nur fantastische Technik dahinter. Heio hat mir mal erzählt, dass ein paar Milliarden Subroutinen jede Figur steuern und dabei menschliche Verhaltensmuster nachahmen. Unter anderem ist es seine Aufgabe als Chef-Ingenieur, diese Unterprogramme auf ihre Stimmigkeit zu testen. Manche machen Probleme, wenn sie nicht zueinander passen. Etwa wenn ein grobschlächtiger Raubmörder sagen würde: 'Dürfte ich mir wohl die Freiheit nehmen, Sie um ihre Handtasche zu bitten.' So was würde wohl nur Parneck sagen", kicherte Tanja, "Verstehst Du, das muss alles zusammenpassen. Das ist ziemlich harte Knochenarbeit, hauptsächlich für Murr - daher ist er immer so mürrisch.“

Sam grinste über das Wortspiel.

„Ich glaube, ich schaue morgen trotzdem kurz bei ihm vorbei. Sag mal, ich habe eine vielleicht ganz dumme Frage, aber, wie ist das zum Beispiel mit dem Giuliano im Dom, dem Opfer des Messerattentats. Der wird doch jedesmal erstochen, wenn die Vorführung läuft. Geht die Figur dabei nicht irgendwann ... kaputt, wenn sie körperlich ist?“

Tanja lachte leise. „Ich weiß, was du meinst. Aber schau, die Figur ist kein Roboter, der nach einem Angriff auch wirklich zerstört wäre - was man von richtiger Kleidung eben nicht gerade behaupten kann. Bei den Mordopfern sind darum alle Kleider holografisch, damit sie keinen Schaden nehmen. Aber pass auf: Die Holos bestehen aus Licht, klar?" Als Sam nickte, fuhr Tanja fort: "Aber an den Grenzen, also außen - ich glaube, sie sagen 'Rinde' dazu - ist eine kleine Menge Materie angelagert. Die kann man immer wieder neu formen. So genau kenne ich mich aber mit der Technik auch nicht aus.“ Tanja sprang unvermittelt auf und fragte vergnügt: „Hast du Lust, noch eine Runde zu schwimmen?“

Sam hatte und sie gingen hinüber ins Schwimmbad, dessen azurblau beleuchtetes Wasser sich in eine traumhafte Karibik-Landschaft einzufügen schien. Das große Becken war unregelmäßig geformt und lief in kleinen Buchten aus, die von echten Palmen umstanden waren. Sam ging auf eine zu, um zu prüfen, ob sie tatsächlich echt oder nur aus Plastik waren und ihre Hand glitt durch die Palme hindurch. Hologramme! Aber materiell waren die hier offenbar nicht. Sam ging zurück und stellte fest, dass auch die Götterstatuen im Lapidarium Hologramme waren und selbst der wunderschöne Bergkristall war nicht echt. Clever, dachte Sam, kann ihn wenigstens keiner klauen. Sie hatte nun verstanden, dass offenbar die Hologramme aus Licht eine ganz andere Kategorie darstellten, als jene, die auch materiell existent waren. Wahrscheinlich war es zunächst einmal eine Kostenfrage. Selbst bei einem Projekt von Rickman.

Sam schwamm ein paar Runden im warmen, klaren Wasser und verabschiedete sich danach herzlich von Tanja, nicht ohne ihre Zusage zu erneuern, am Abend an den Strand zu kommen. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück und sank ermüdet auf das angenehm warme und weiche Wasserbett, dessen sanftes Schaukeln sie bald einschlafen ließ.

Parneck saß in seinem Büro und sah durch das große Panoramafenster auf die Ostsee. In dieser Richtung befand sich der Strand von Usedom, auch wenn man ihn von hier aus nicht sehen konnte. Wie lange war er schon nicht mehr auf dem Festland gewesen? Er konnte sich kaum mehr daran erinnern. Tanja hatte ihn freundlicherweise für heute Abend eingeladen. Ein Strandfest. Parneck wusste, dass sie in dieser Laienspielgruppe war, wie hießen sie noch gleich, irgendetwas mit Errol Flynn? Er würde wohl einmal vorbeischauen, ein wenig Abstand von all dem hier könnte nicht schaden. Obwohl im Moment stündlich die Lieferungen für das Interieur des Agatha-Christie-Hauses per Express eintrafen, die er übers Internet geordert hatte. Der Aufbau des Hauses ging zügiger voran, als erwartet, und wenn sie viel Glück hatten, konnte das Haus sogar zur Eröffnung funktionstüchtig präsentiert werden. Wenn Murr mit den Figuren klar kam. Er sollte vielleicht auch da noch einmal den Sachstand abfragen.

Trotzdem, ein paar Stunden Freizeit wollte er sich gönnen. Hoffentlich traf er nicht auf diese Dom-Aktivisten. Sicher war der Freund von Tanja da, dieser Marc. Parneck hatte ihn einmal im Park getroffen. Ein religiöser Eiferer und seltsamer Bursche, der gar nicht zu ihr passte. Nicht, dass er sich selbst Hoffnungen gemacht hätte, obwohl ... Er stellte sich Tanja in ihrem Piratenkostüm vor. Er hatte sie noch nie bei einem Auftritt gesehen, aber er konnte es sich sehr gut vorstellen, schließlich hatte er Fantasie und war auch für die kostümgeschichtliche Stimmigkeit der Figuren verantwortlich. Wahrscheinlich trug sie als Bloody Mary eine rote Korsage, im Rücken geschnürt, so dass ihr tiefes Dekolleté dadurch besonders betont wurde. Hohe, schwarze Lederstiefel und einen Degen an der Hüfte. Sicherlich würde sie damit ausgesprochen attraktiv und verführerisch aussehen.

Parneck rief sich zur Raison. Bis zur Eröffnung gab es noch so viel zu tun. Der Tag müsste mehr als 24 Stunden haben. Und die Probleme mit dem Ritter hatte Murr auch noch nicht behoben. Vielleicht sollte er selbst nochmal in die Burg hinübergehen. Und der Termin mit dem PR-Fachmann und den Psychologen wegen der neuen Filmtrailer war noch nicht abgesprochen. Heute hatte er überdies noch etliche Zeit mit dieser Frau Merkmann verplempert. Eigentlich eine ganz nette Person, aber etwas rustikal. Wie Rickman wohl auf sie verfallen sein mochte? Hoffentlich war Calaprese nun etwas ruhiggestellt. Schlechte Publicity war das letzte, was sie jetzt brauchten.

Wenn nur nicht diese verdammten Kopfschmerzen wären. Migräne wahrscheinlich. Er sollte mal damit zum Arzt gehen. Aber erst nach der Eröffnung. Parneck hoffte, dass es dann ruhiger werden würde, aber er wusste auch, dass dies ein Irrglaube war, denn dann würde der Stress erst richtig beginnen. Er hatte gestern auch schon wieder von diesem seltsamen Wort geträumt. Die Tabletten halfen auch nicht besonders. Vielleicht sollte er sich noch eine halbe Stunde hinlegen? Er brauchte ja nicht pünktlich zu Beginn der Veranstaltung dort sein. Es würde genügen, das übernächste Shuttle zu nehmen. Die Vorführung fand sicherlich erst bei Einbruch der Dunkelheit statt, Tanja hatte etwas von Feuer erzählt. Er hatte nicht so ganz genau hingehört, Tanja redete nach seinem Empfinden immer etwas zuviel.

Ein wenig Ruhe würde ihm gut tun.

Seine Nerven waren strapaziert und das Desaster im Dom heute wäre auch nicht nötig gewesen. Hoffentlich kam nicht wieder dieser Alptraum ...

HOLO-TOD

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