Читать книгу HOLO-TOD - Klaus J. Dorsch - Страница 11
Kapitel 8
ОглавлениеDas Innere des Domes hatte sie damals nicht besonders beeindruckt. Heute aber war es anders. Heute war alles still, durch die Leere weit und irgendwie ... erhebend. Ein schier endloser Fußboden mit farbigen Steinintarsien erstreckte sich bis zum Hochaltar, der in weiter Ferne auf sie zu warten schien. Ihre Schritte hallten dumpf durch das mächtige Kirchenschiff. Sam kam sich ganz winzig vor unter dem spitzbogigen Gewölbe, in dessen schwindelerregender Höhe sich die Dienste der schweren Pfeiler zu Kreuzrippen zusammenfanden.
Sie bogen zunächst ins linke Seitenschiff ab und gingen langsam an den Wandgemälden von Uccello und Castagno vorbei, von denen ehrfurchtheischende, gemalte Reiterstandbildnisse damals berühmter Persönlichkeiten herabblickten. Noch versperrten ihnen die dicken Pfeiler den Blick auf den Chor. Von den Seitenschiffen fiel Licht durch die hohen Rundbogenfenster ins Kirchenschiff und in den Sonnenstrahlen tanzten Milliarden feinster Staubpartikel. Sam wagte vor Ehrfurcht nichts zu fragen, obwohl sie wusste, dass sie drei die einzigen menschlichen Wesen im Raum waren. Es roch nach Kerzenwachs, einer Spur Weihrauch und altem Holz. Als sie die Chorpartie erreichten, wo sich das Langhaus zu den drei Konchen hin öffnete, wurde ihr Blick hinaufgezogen in die gewaltige Kuppel, die innen von einem grandiosen Gemälde mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts vollständig ausgefüllt war.
Sam erschrak etwas, als sie den Blick wieder senkte und erst jetzt eine Gruppe von etwa zwanzig Personen bemerkte, die im Kirchenschiff bewegungslos herumstanden wie in der nostalgischen Ausstellung von Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett. Alle trugen vornehme Gewänder der Renaissancezeit, prächtige, bunte Umhänge und Mäntel aus edlen, reich bestickten Stoffen. Patrizier und andere einflussreiche Bürger der Stadt Florenz, denen man ihre Macht und Wohlhabenheit förmlich ansah, mit breiten, goldenen Halsketten vor der Brust und Baretten auf den Köpfen.
Sam fühlte sich plötzlich mit ihrem Bananen-Schal äußerst fehl am Platze. Die Peinlichkeiten des Tages schienen kein Ende nehmen zu wollen. Sie band ihn möglichst unauffällig ab und stopfte ihn in ihre Jackentasche.
Parneck hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt, schließlich befand man sich nach wie vor in einem Gotteshaus. An Sam gewandt, erklärte er verhalten: „Wir schreiben das Jahr 1478. Die Medici sind über mehrere Generationen hinweg die mächtigste Familie in Florenz. Sie haben durch ihr Bankhaus Macht bis in die höchsten Kreise erlangt. Selbst die Päpste - und gerade diese - brauchen Geld. Die Medicis haben ein Netz von Filialen in ganz Europa etabliert. Lorenzo di Medici ist einer der reichsten wie auch einflussreichsten Männer dieser Zeit. Man nennt ihn ‚Il Magnifico’, den Prächtigen. Faktisch ist er es, der Florenz regiert. So was ruft Neider auf den Plan, Konkurrenten, wie hier die Familie der Pazzi. Sie zetteln eine Verschwörung an, in die sogar der Papst eingeweiht ist und ...“
Parneck hielt inne, denn plötzlich war Bewegung in die Gruppe gekommen. Sam erschrak erneut, denn die Personen, die dort standen und sich ihnen nun wie auf Kommando zuwandten, waren durch nichts von realen Menschen zu unterscheiden. Nichts verriet irgendeine Mechanik, sie bewegten sich absolut natürlich, das Puppenhafte ihrer wächsernen Verwandten fehlte ihnen völlig.
„Sind Sie sicher“, fragte sie Parneck leise, „dass dies wirklich Holo-Figuren und keine Schauspieler sind?“
Ein älterer Mann aus der Gruppe kam auf sie zu, fixierte sie mit einem eindringlichen, leicht verärgerten Blick und Sam wich unwillkürlich etwas hinter Calaprese zurück. „Che cosa e questo?“
„Verzeihung“, sagte Parneck und wandte sich an Calaprese, „Sie erlauben doch, Professore, dass wir in der Landessprache unserer charmanten Begleitung fortfahren?“ Er hob die Stimme: „Computer! Überrangschaltung Parneck-Null-Drei. Spracheinstellung ändern. Deutsch.“
„Certamente, aber gerne doch, Herr Graf, mein Vater war Italiener, meine Mutter ist Deutsche.“
„Was ist das? Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“ fuhr der Mann fort, der nun direkt vor ihnen stand. Inzwischen füllte sich die Kirche zur Ostermesse. Vom Eingang her hörte man heitere Stimmen.
„Wir sind Reisende aus fernen Landen“, gab Parneck dem Florentiner höflich Auskunft, "und mit den Gepflogenheiten Eueres Landes noch nicht vertraut, wenn Ihr gütigst entschuldigen wollt."
„Ihr tragt ... ungewöhnliche Gewänder.“ Ein missbilligender Blick lag auf Sams knielangem Rock. „Von wo kommt Ihr?“
„Aus dem hohen Norden.“
„Augsburg?“
„Noch viel nördlicher.“
Überraschung zeigte sich auf dem Gesicht des Florentiners.
„Seid uns denn willkommen, doch verhaltet euch still und stört nicht die heilige Messe.“
Der Mann wandte sich wieder von ihnen ab und informierte leise seine Begleiter, die dem Trio noch einmal erstaunte Blicke zuwarfen, sich dann aber abwandten, denn am Kirchenportal waren freudige Ausrufe und unruhiges Gemurmel zu hören. Umringt von seinem Gefolge, hatte Lorenzo di Medici mit seinem jüngeren Bruder Giuliano den Dom betreten.
„Lorenzo!“, flüsterte Parneck nun noch leiser Sam zu, „Achten Sie auf den Mann, der eben durch das Portal kommt.“ Sie hätte ihn auch ohne den Hinweis sofort erkannt. Er trug eine knielange, reich bestickte und mit Goldapplikationen verzierte Schaube aus dunkelrotem Samt mit weiten Ärmeln, darunter ein modisch geschlitztes, schwarzes Samtwams, das einen edlen Kontrast zu der großen, doppelreihigen Goldgliederkette abgab, die um seinen Hals hing. Das schwarze, lange, an den Enden mit der Brennschere kunstvoll zu Locken gekräuselte Haar sah unter einer leuchtend roten Samtkappe hervor. Sein Gesicht war mager und eingefallen, mit fahlem Teint. Eine Schönheit war er nicht gerade. Die Nase, auffällig und scharf geschnitten, wirkte irgendwie deformiert. Jedoch strahlte er bereits aus der Ferne eine machtvolle Autorität aus, vermittelte aber gleichzeitig auch einen intellektuellen und kunstsinnigen Eindruck. Ein charismatischer Machtmensch, ein Mäzen der schönen Künste, ein Mann, den viele respektierten und bewunderten, viele aber auch hassten.
Sam fühlte sich irgendwie an Rickman erinnert.
„Neben ihm steht sein jüngerer Bruder Giuliano, achten Sie später besonders auf ihn.“ Sam sah einen jungen, lächelnden Mann mit feiner geschnittenen Gesichtszügen und einem eher unbekümmerten Wesen. Man merkte ihm an, dass die Probleme von Geschäften, Macht und Intrigen noch nicht so auf ihm lasteten, wie auf seinem älteren Bruder. Die beiden wurden von zwei jungen Männern freundschaftlich umarmt, die mit ihnen lachten und scherzten.
„Sehen Sie die beiden da?" Sam nickte. "Das sind Francesco de Pazzi und Bernardo Bandini, die Mörder. Sie umarmen die Medicis, um zu fühlen, ob sie unter den Mänteln Harnische tragen oder Waffen.“
Sam wurde erst in diesem Moment klar, dass sie in wenigen Augenblicken unmittelbare Zeugin einer Bluttat werden sollte und ihr wurde etwas weich in den Knien.
Die Kirche hatte sich inzwischen gefüllt, weit mehr als hundert Personen, schätzte Sam, waren anwesend. „Lassen Sie uns hinüber ins nördliche Seitenschiff gehen, von dort können wir alles Weitere besser beobachten“, flüsterte Parneck.
Die Medicis schritten langsam nach vorne, in die erste Reihe, begleitet von ihren Freunden und engsten Gefolgsleuten. Pazzi und Bandini nahmen schräg hinter ihnen Platz. Für die Vertreter der prominentesten Familien waren Stühle aufgestellt worden, während die anderen standen. Sam fiel erst jetzt auf, dass der Dom damals noch nicht über fest eingebaute Kirchenbänke verfügte. Die Messe begann und ein Priester in einem weißen, prunkvoll verzierten Ornat schritt langsam und würdevoll auf den Hochaltar zu. Die Gespräche waren augenblicklich verstummt und in die entstandene Stille hinein begannen vier Knaben, a-cappella einen Choral zu singen, eine Melodie, wie Sam sie schöner und anmutiger noch nie gehört hatte. Sie war wie verzaubert von den engelsgleichen Stimmen, die rein und kraftvoll durch das weite Kirchenschiff hallten, so dass sie für einen Moment ihre Umgebung völlig vergaß.
Noch bevor der Priester den Altar erreichte, sprang Francesco de Pazzi plötzlich auf und rief „Popolo e libertá. Für Volk und Freiheit!“ In seiner Hand blitzte ein kurzer, spitzer Dolch. Alles ging furchtbar schnell. Noch ehe er Lorenzo, der sich auf den Ruf hin umgewandt hatte, niederstechen konnte, fiel Giuliano dem Attentäter in den Arm und der Stoß des Dolches traf den jungen Medici mit fürchterlicher Wucht mitten ins Herz. Rotes Blut quoll über sein weißes Leinenhemd, durchtränkte sein Wams und tropfte auf den hellen Steinfußboden der Kirche. Lorenzo schrie wütend auf und packte Francesco am Arm, der die Waffe wieder aus dem zusammengesunkenen Körper herausziehen konnte und nun auf Lorenzo einstach. Er verletzte ihn, bevor die herbeigestürzten Anhänger der Medicis versuchten, Francesco zu überwältigen. Dieser hieb mit verzerrtem Gesicht in solch blinder Wut um sich, dass er sich selbst eine tiefe Wunde am Bein beibrachte. Der Boden der Kirche war vom Blut glänzend rot gefärbt. Das kostbare weiße Messgewand des Geistlichen war mit Blutspritzern übersät. Der Priester hatte sich schützend auf Lorenzo geworfen, der auch von seinen Freunden vor neuen Attacken abgeschirmt wurde, während er fassungslos auf seinen am Boden liegenden, toten Bruder starrte.
Sam, die nur wenige Meter vom Geschehen entfernt stand und alles genau beobachten konnte, war zutiefst erschüttert. Ihr wurde heiß und sie wandte sich angewidert ab.
Nun brach in der Kirche ein unbeschreiblicher Tumult aus. Die Anhänger der Medici waren über die unglaubliche Tat so entsetzt, dass sie auf der Stelle an den Mördern und ihren Helfershelfern eine Lynchjustiz vollzogen, die auch außerhalb eines Gotteshauses ihresgleichen gesucht hätte. Viele Männer trugen an ihren Gürteln kleine Zierdolche, die sie nun zur Verteidigung benutzten, andere entwanden den Angreifern ihre Waffen. Besonders die Leute aus dem Tross von Bischof Salvatis waren ihr Ziel, da man ihn als Drahtzieher der Aktion vermutete. Die Anhänger der Pazzi richteten ihrerseits unter den Verbündeten der Medici ein Blutbad an.
Einige Eingeweihte des Attentats hatten sich als Kapuzinermönche verkleidet und versuchten nun, zu fliehen. Ein Mann in einer braunen Ordenskutte, dessen Kopf völlig unter der weiten Kapuze verborgen war, taumelte von einem schweren Schlag getroffen rückwärts und prallte ziemlich heftig gegen Sam, die ihm im Weg stand. Sie verlor das Gleichgewicht, knickte mit dem Fuß um und wäre gestürzt, wenn Calaprese nicht im letzten Moment hinzugesprungen wäre und sie aufgefangen hätte. Aus dem Dunkel der Kapuze starrten sie ein paar glühende Augen fanatisch an, bevor der Mann hastig das Weite suchte.
„Kommen Sie“, rief Parneck ihnen erschrocken zu, „wir sollten jetzt vielleicht lieber gehen.“ Calaprese stützte Sam, die sich den Köchel verstaucht hatte, und gemeinsam verließen sie die Kirche durch eine kleine Pforte im Seitenschiff, die in Florenz zum Campanile hinaus geführt hätte.
Niccolo Machiavelli berichtete später in seiner „Istorie fiorentine“ im Kapitel 52, dass fast hundert Menschen an diesem Ostertag, dem 26. April des Jahres 1478, im Florentiner Dom den Tod gefunden hatten.
Draußen lehnte sich Sam gegen die Kirchenmauer. Der Schreck stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, aber sie sah Calaprese dankbar an und stützte sich auf seinen Arm. „Mein lieber Schwan“, stieß sie schwer atmend hervor, „das ist ja nicht ganz ungefährlich. Ich habe gedacht ... ich dachte ...“
Parneck war der Zwischenfall sichtlich unangenehm. „Es tut mir furchtbar Leid. Bitte entschuldigen Sie diesen unglücklichen Zwischenfall.“
„Unglücklich? Die hätten mich fast umgebracht!“
„Ganz so ist es nun nicht, Frau Merkmann, es war ein unglücklicher Zufall, dass sie genau hinter dem Mönch standen. Hätte er sie gesehen, wäre das natürlich nicht passiert.“
„Gesehen? Er hat mich angestarrt! Und er hat mich angerempelt! Wie kann er das? Wieso kann er mich sehen? Ich dachte, das ist hier wie ein 3D-Kinofilm, den ich mir in Ruhe angucken kann und vielleicht dabei was knabbern.“
„Nein, wie Ihnen leider durch dieses Missgeschick deutlich gemacht wurde, sind die Figuren interaktiv.“
„Er hat mich glatt über den Haufen gerannt! Die Kerle sind fest, hart, ach, Sie wissen schon, was ich meine! Die sind alle echt, oder wie?“
„Ja und nein. Dr. Rickman hat sich die öffentliche Bekanntgabe der technischen Details für die Eröffnungsfeier vorbehalten, aber da Sie ja gewissermaßen zum Club gehören - es ist so: Die Holo-Figuren sind nicht - wie die Holo-Figuren, die Sie beispielsweise vom Avatar ihres Computers her kennen - ausschließlich aus Licht generiert, sondern verfügen auch noch über eine feste, äußere Hülle, die mit entsprechenden Atomen strukturiert wird.“
„Na toll, darauf hätten Sie uns aber auch etwas früher vorbereiten können.“ Sam rieb sich den schmerzenden Knöchel und stöhnte.
„Ich bedauere den Vorfall außerordentlich."
„Aber Sie sagten, wenn er mich gesehen hätte, wäre er mir ausgewichen. Kann er denn sehen und etwas entscheiden?“
„Ja und nein. Sehen Sie, die Figuren werden durch eine sehr komplexe Computermatrix gesteuert, deren Subroutinen eine zufällige, aber im Sinne der Handlung zielgerichtete und sinnvolle Aktion gestattet. Beispielsweise kann er ihre Anwesenheit und ihre Bewegungen durch den veränderten Luftdruck wahrnehmen - natürlich nicht er direkt, sondern der Computer.“
„Soll das heißen, dieses ... dieses Ding da - oder was auch immer - hätte mich auch umbringen können?“
„Auf gar keinen Fall.“
Parneck fühlte sich nun verpflichtet, die technischen Hintergründe doch noch etwas näher zu erläutern, auch, um Calaprese gegenüber keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. „Der Computer folgt bei der Steuerung der Holo-Charaktere den drei grundlegenden Robotergesetzen von Isaak Asimov.“
Sam fragte dazwischen: „Das ist doch der Science-Fiction-Autor aus den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts?“ Sie kannte Asimov, obgleich Science Fiction nicht ganz ihr literarisches Genre war.
„Ja, aber die von ihm formulierten Prämissen und Regeln waren so gut durchdacht, dass sie bis heute nicht verbessert zu werden brauchten. Ein Roboter - in unserem Fall besser gesagt eine Holo-Figur - darf keinem menschlichen Leben willentlich Schaden zufügen oder durch Untätigkeit gestatten, dass ihm Schaden zugefügt wird. Der Mönch hätte Sie also nie absichtlich angerempelt oder gar verletzt. Das zweite Gesetz verpflichtet ihn, jeden Befehl eines Menschen auszuführen, es sei denn, dieser Befehl kollidiert mit dem ersten Gesetz.“
„Moment mal“, fragte Sam, „heißt das, ich hätte dem komischen Mönch auch sagen können, er soll mit mir Tango tanzen oder sonst noch was - und er hätte es getan?“
Parneck war froh, dass Sam wenigstens ansatzweise ihren Humor wiedergefunden hatte. „Nicht ganz, wir haben Asimov hier ein wenig modifiziert, der Mönch würde nur Handlungen ausführen, die zur Situation passen und in den betreffenden Subroutinen - wir sprechen hierbei auch von den Zufallsroutinen - als handlungsfähig, das heißt auch von uns erwünscht oder zumindest nicht verboten, festgelegt wurden.“
„Also kein Tango?“
„Ich fürchte, hier nicht, vielleicht besuchen Sie hierfür mal unser Jugendstil-Haus. Das dritte Gesetz, das Asimov formuliert hat, besagt, dass ein Roboter, beziehungsweise hier eine Holo-Figur, ihre eigene Existenz schützen muss, solange sie damit nicht gegen das erste Gesetz verstößt. Alle diese Gesetze haben wir integriert - wir bezeichnen sie etwas vereinfacht zusammenfassend als Gewaltsperren.“
„Ah, ich verstehe“, Sam nickte und lächelte nun ein wenig, „das heißt, ich könnte also nicht, weil ich vielleicht ein verhinderter Freizeit-Rambo bin und in ihrem Museum mein Mütchen kühlen möchte, ein paar Dutzend ihrer Mönche da drinnen niederschlagen oder mich an diesem Massenmord beteiligen?“
„Genau, das wäre nicht möglich. Wir möchten ja nicht, dass hier irgendwelche Perverse ihre Gewaltfantasien austoben. So ist es auch unmöglich, dass eine Holo-Figur umgebracht wird, sofern sie nicht das Opfer ist, oder eine Figur sich quasi aus Versehen oder gar willentlich selbst umbringt. Auch das verhindern normalerweise die Gewaltsperren. Der Computer erkennt aggressive Handlungen gegen die Figuren und verhindert sie defensiv, etwa durch Flucht, wobei den Holo-Figuren im Bedarfsfall Kräfte zur Verfügung stehen, die weit über das menschliche Leistungsvermögen hinausgehen.“
„Und wenn diese Gewaltsperren mal ausfallen?“
Parneck lächelte. „Das ist so gut wie unmöglich, die sind dreifach redundant abgesichert."
Sam war still geworden. Sie hatte noch tausend Fragen, aber der Schock wirkte nach. Sie war da nicht besonders widerstandsfähig. Das soeben Erlebte hatte sie sehr aufgewühlt. Sie war nicht wie die überzogen coolen Typen aus den Action-Filmen, die sich von einer Explosion zur nächsten hechten, sich an Dachrinnen festklammern, aus brennenden Autos springen und danach lächelnd zur Tagesordnung übergehen und so tun, als wäre überhaupt nichts gewesen.
Sie fand das Ganze hier unheimlich - aber dennoch zugleich faszinierend.
„Ich hätte noch so viele Fragen dazu, aber im Augenblick, glaube ich, reicht es uns allen“, meinte Calaprese einfühlsam mit einem Blick auf Sam, die ihn dankbar und zustimmend anlächelte, „aber ich muss auch sagen, dass mich die Vorstellung - oder ich muss wohl besser sagen, das Erlebte - stark berührt hat. Ja, tatsächlich. Die paar Minuten, in denen ich Augenzeuge war, erschienen mir wie eine Zeitreise in die Renaissance, die einem durch den starken Realitätsgrad und die Emotionalität einen Zugang verschaffte, wie ihn stundenlange Vorlesungen - ich fürchte, sogar meine - und viele dicke Lehrbücher nicht hätten bieten könnten. Man fühlte sich tatsächlich in das 15. Jahrhundert zurückversetzt. Wenn ich Sie nicht neben mir in Ihrem Anzug gesehen hätte und Signorina Merkmann mit ihrem ungewöhnlichen ...“
„Bedenken Sie“, unterbrach ihn Parneck, „dass im Normalfalle nur jeweils zwei Personen Zugang zum Szenario haben und diese auch noch zeitgeschichtlich korrekt eingekleidet werden.“
„Ich bin kein überzeugter Anhänger ihres Konzeptes geworden, verehrter Herr von Parneck, verzeihen Sie mir bitte, aber ich beginne zu verstehen, wo Ihr Ansatz liegt und ich muss zugeben, dass es ein Erlebnis der besonderen Art war. Ich werde darüber nachdenken und sicher viel zu berichten haben. Meine Bemerkung über Dungeon und Disneyland von vorhin bitte ich zu entschuldigen.“
„Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen, mehr konnte ich im Augenblick nicht erhoffen. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen aber gerne noch die anderen Häuser ...“
„Oh, nein!“ protestierte Sam, schneller und lauter als beabsichtigt, „Mein Bedarf an Morden und Gefahren ist für heute mehr als gedeckt. Ich brauche jetzt erstmal ein heißes Bad für meinen geschundenen Luxuskörper, dazu ein paar Takte Rock’n Roll aus meinem MPC. Und - was gut wäre - eine große Packung Katzenzungen?“
„Selbstverständlich, wie Sie wünschen. Ich hoffe, Sie werden das alles nicht in allzu schlechter Erinnerung behalten. Ich weiß allerdings nicht, ob wir hier Katzenzungen ...“
„Nun, es war“, Sam versuchte, ihre linke Augenbraue ein möglichst großes Stück in die Höhe zu ziehen, was aber misslang, „faszinierend. Wenn es mir wieder besser geht, würde ich sehr gerne noch genauer über einige technische Details informiert werden - wenn das möglich wäre. Ich kann mir das alles noch nicht so richtig vorstellen.“
„Am besten besuchen Sie einmal Herrn Murr, unseren Chef-Ingenieur. Ich melde Sie gerne an. Ich bin sicher, dass er nur so darauf brennt, Ihnen all ihre Fragen zu beantworten.“ Die Art und Weise, wie Parneck den letzten Satz unbewusst betonte, ließ allerdings das genaue Gegenteil davon vermuten. Auch der Graf wirkte erschöpft, die unschöne Szene hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er zugeben wollte und ihn plagten auch wieder starken Kopfschmerzen, was er sich jedoch vor seinen Gästen nicht anmerken ließ.
Die beiden Herren begleiteten Sam, die immer noch etwas humpelte, bis vor den Hoteleingang.
„Ich hoffe doch, wir sehen uns wieder?“ fragte Calaprese mit einem charmanten Lächeln. Parneck kam Sams Antwort zuvor und lud beide als Gäste zur Eröffnungsfeier des Museums ein.
Er würde wohl darauf verzichtet haben, wenn er die Ereignisse dieses Tages auch nur im Mindesten hätte vorhersehen können.
Calaprese verabschiedete sich mit einem Händedruck von Parneck und mit einem erneuten Handkuss von Sam und sie hätte schwören können, dass diesmal seine Lippen ihre Hand leicht berührten, was ihr tatsächlich ein angenehmes Kribbeln in der Bauchgegend verursachte. Vielleicht hatte sie ihre Hand im entsprechenden Moment auch ein klein wenig zu weit angehoben.
„Eine Frage habe ich doch noch“, wandte sie sich an Parneck, als dieser sich schon umgedreht hatte, „es wurde also in jedem der Häuser ein Mord begangen?“
„Ja.“
„Und sind eigentlich alle Morde aufgeklärt?“
„Nein, nicht der an der Prostituierten Nitribitt ... und natürlich auch nicht der im Klitzke-Haus.“