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Kapitel 4
ОглавлениеTraunstein, 17. Oktober 1996
„Du bringst mich noch ins Grab mit deinem ewigen Fernseh-Glotzen! Du wirst schon noch sehen, was aus dir wird! Nichts Besseres als aus deinem Vater, der sich verdrückt hat und mich mit dir sitzengelassen hat. Warum straft mich der Herrgott so? Ich hätte Karriere machen können, hörst du, jawohl, Karriere. Aber ich musste ja alles aufgeben wegen dir."
Der Junge wusste, was nun kommen würde. Er konnte es auswendig herunterbeten: was hätte sie für eine Sängerin werden können ... "Was hätte ich als Sängerin für Erfolge feiern können - die geistlichen Stücke vor allem, die Matthäus-Passion, die Requiems - alles, hörst du, alles hätte ich singen können. Jetzt natürlich nicht mehr, aber damals. Ich hätte ein schönes Leben haben können, in Mailand leben oder in Rom, in der Nähe des Heiligen Vaters. Aber nein, stattdessen sitze ich hier, in diesem gottverlassenen Kaff, wo dein Vater uns hingeschleppt hat und dem ich meine besten Jahre geopfert habe. Hörst du mir eigentlich zu, wenn ich mit dir rede? Warst du heute schon beichten? Es ist Samstag - geh zu Pater Ignazius zur Beichte und bereue deine Sünden, vor allem, was du mir ständig antust. Ob du mir zuhörst, habe ich gefragt? Ich rede mit dir! Und hör auf, dir immer wieder diesen ewigen Raumschiff-Mist anzuschauen, der da dauernd im Fernsehen läuft. Das hast du doch schon tausendmal gesehen. Ist doch immer wieder dasselbe.“
Sie knallte die Tür hinter sich zu und der Junge war froh, wieder allein zu sein. Er hörte sie noch schrill die ersten Takte eines Kirchenliedes anstimmen - O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz bedeckt mit Hohn -, dann wurde sie leiser. Dann war es still. Er war dankbar für die Stille. Das silberfarbene Kruzifix, das über der Tür hing, pendelte noch leicht. In jedem Raum des Hauses, mit Ausnahme der Toilette, gab es mindestens eine Darstellung des Gekreuzigten. Neben der Tür hing ein Kesselchen aus Porzellan mit Weihwasser und dem blutroten Christus-Monogramm. Auf dem Tisch lag eine Bibel mit Sterbebildchen von Verwandten und Bekannten und der von Pater Ignazius geweihte Rosenkranz, den der Junge schon lange nicht mehr gebetet hatte. Nur wenn sie kam, tat er manchmal so.
Er stellte den alten Video-Rekorder wieder an. Ein neueres Gerät, wie viele seiner Klassenkameraden eines hatten, konnte er sich nicht leisten. Aber es ging auch so. Er drehte den Ton ganz leise, damit sie es nicht hörte. Er kannte sowieso fast jede Folge auswendig. Er setzte sich aufs Bett und versank sofort in der Welt einer fernen, besseren Zukunft, wo die Menschen edel und selbstlos miteinander umgingen. Der gütige, weise und kultivierte Captain des riesigen Raumschiffes, der immer das Richtige zur richtigen Zeit sagte und tat, sein forscher Erster Offizier, der vor Tatkraft und Energie nur so strotzte und die vielen anderen der Crew, die fest zusammenhielten. Von denen jeder für sich mit seinen Stärken und Schwächen ein wertvolles Mitglied dieser Gemeinschaft war. Wo Menschen auch andersartig sein durften, ohne ausgegrenzt zu werden. Wo besondere Fähigkeiten erkannt und akzeptiert und zum Wohle aller genutzt wurden. Es war eine schöne Welt - eine Welt, wie er sie sich wünschte.
Er wusste nicht mehr, wie oft er jede dieser Folgen schon gesehen hatte - in der Schule nannten ihn seine Freunde „Riker“ oder neuerdings auch „Tom“, nach dem Steuermann des Raumschiffes „Voyager“, deren Folgen, die gerade aktuell im Fernsehen liefen, er regelrecht verschlang. Er verpasste keine einzige und zeichnete sie alle auf. Vorsichtshalber stellte er bei Wiederholungen von jeder Folge noch eine zweite Aufnahme her, die er einem Freund anvertraute. Sie hatte schon einmal versucht, alle seine Video-Kassetten wegzuwerfen, als sie von Pater Ignazius erfahren hatte, dass der Junge eine Beichtgelegenheit versäumt hatte.
Besonders das Holo-Deck faszinierte ihn. Der Computer schuf Szenarien und Figuren, wie immer man sie sich vorstellen mochte. Der Fantasie waren dort keine Grenzen gesetzt, Ausflüge in die Vergangenheit, exotisches Ambiente oder Kampfspiele - man lief nicht einmal Gefahr, sich zu verletzen oder gar zu sterben, denn das Holo-Deck hatte eine Sterbesicherung. Besonders mochte er die Figur des Schiffsarztes, der bei Notfällen aktiviert werden konnte. Ein väterlicher, gütiger Charakter, der immer Rat wusste, ein Mensch, wie ihn der Junge in seiner realen Umgebung schmerzlich vermisste. Der Holo-Doktor, der keinen besonderen Namen hatte, war kein Mensch, nicht einmal Angehöriger einer außerirdischen Rasse, sondern ein Hologramm mit einer hochwertigen Programmierung, ein Hologramm, das im Laufe der Serie eine eigene Persönlichkeit entwickeln und schließlich mit seinem mobilen Emitter sogar die Krankenstation, die ans Holo-Deck angeschlossen war, verlassen wird.
Versonnen drehte der Junge ein Bild in seiner Hand. Es maß 10 x 10 Zentimeter und zeigte einen Schauspieler im Kostüm des Hamlet. Man konnte die Figur nur dann klar und deutlich erkennen, wenn man das Bild in einem bestimmten Winkel zum Licht hielt. Bewegte man es dann, so hob wie durch ein Wunder der Mann den Finger, drehte sich leicht zum Betrachter um und lächelte ihn an. Dabei schimmerte der Grund des Bildes in allen Regenbogenfarben. Kevin, ein Schulfreund, hatte dieses Wunder schon vor einigen Jahren von einem Besuch des Museums für Holografie in Kopenhagen mitgebracht und es dem Jungen nach zähen Verhandlungen überlassen. Als Gegenleistung musste dieser ihn bei den Klassenarbeiten abschreiben lassen und zwei Monate lang die Mathematik-Hausaufgaben für ihn machen. Er empfand das als geringen Preis, denn Mathematik, Biologie und Physik waren seine Lieblingsfächer und flogen ihm nur so zu. Sein Wissen in naturwissenschaftlichen Fächern überschritt weit den geforderten Schulstoff und der Junge lernte auch aus anderen Quellen, wie den wenigen wissenschaftlichen Büchern der Pfarrbibliothek - ein Aufenthaltsort, den seine Mutter ausnahmsweise billigte - bis seine Fähigkeiten die seiner Lehrer bald überstiegen, was er ihnen jedoch nie merken ließ. Auch in anderen Fächern brachte er mühelos Einsen mit nach Hause, nur in Religion bei Pater Ignazius reichte es auch jetzt stets nur für eine Drei, was ihm schwere Vorwürfe seiner Mutter eintrug.
Dabei hatte er doch nur fragen wollen. Nach Dingen, die er nicht verstand, so, wie er es von den Naturwissenschaften her gewohnt war. Aber Fragen waren im Fach Religion nicht erwünscht. Pater Ignazius hatte ihm vor einigen Jahren erzählt, dass Christus voller Schmerzen am Kreuz den Opfertod erlitten habe, weil er für die Sünden aller Menschen, speziell auch die Sünden des Jungen, gestorben sei. Auch er sei damit am Tode des Herrn mitschuldig geworden. Der Junge hatte das nicht gewollt und viele Nächte mit Gewissensbissen wach gelegen. War er damit ein Mörder? Seine Verwirrung hatte sich noch gesteigert, als Pater Ignazius ihnen wenig später lehrte, dass der Kreuzestod Christi unabdingbar notwendig gewesen sei, um die Menschheit zu erlösen. Er sah darin Widersprüche, die er sich nicht erklären konnte - wie bei vielen religiösen Lehrsätzen. Die anderen Jungen in der Klasse, die er fragte, wussten auch keine Erklärungen, lernten aber die Sprüche im Katechismus auswendig, sagten sie brav her und fast jeder brachte es auf eine Eins in Religion. Später hörte er einfach auf zu fragen.
In den letzten Ferien hatte er für vier Wochen einen Job angenommen und ab vier Uhr morgens in der staubigen Hitze eines großen Brennofens geholfen, drei Meter hohe Isolatoren aus Porzellan zu verladen. Die Schwielen und Kratzer an seinen Händen wollten wochenlang nicht heilen. Der Staub brannte abends in seiner Lunge und in seinen Augen, die er auf dem Heimweg vor Müdigkeit kaum noch offen halten konnte. Doch die Bezahlung war gut gewesen und er konnte sich als erster in seiner Klasse einen gebrauchten Computer, einen C 64, leisten. Das Gerät hatte einen Arbeitsspeicher von 64 KB RAM und arbeitete nicht mehr mit dem veralteten Kassettenlaufwerk „Datasette“, sondern mit dem VC 1541-II-Diskettenlaufwerk, das ein Speichervolumen von beachtlichen 170 KB pro Diskettenseite hatte. Diese Welt würde ihr niemals zugänglich sein. Hier konnte er alle seine Gedanken vor ihr verbergen, eigene Ideen entwickeln, erste Berechnungen anstellen. Das Gerät erschien ihm wie der visionäre Beginn einer Zukunft, die er Willens war, zu gestalten und voranzutreiben. Manchmal stellte er sich vor, er wäre ein Zeitreisender aus der Zukunft, den es durch einen Unglücksfall in ein zurückliegendes Jahrhundert verschlagen hätte und er wäre der technischen Möglichkeiten seiner eigenen Zeit beraubt - was ihm jedoch geblieben war, waren die Vorstellungen davon und er würde alles dafür tun, diese wieder Wirklichkeit werden zu lassen. Und niemand würde ihn dabei aufhalten können.