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Kapitel 3

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Großbritannien, 1. Mai 2049

Nachdem Sam wiederholt versprochen hatte, vorsichtig zu sein und auch potentiellen Lebensabschnittsgefährten - ob nun reich, adelig oder beides - Gelegenheit zu geben, ihren Humor unter Beweis zu stellen, fuhr sie zum Flughafen, checkte ein und landete eine Stunde später in Stansted.

Sie nahm nicht das Shuttle nach London, sondern übernachtete in einem Hotel am Flughafen, schlief lange und fuhr erst nach einem ausgiebigen englischen Frühstück weiter an die Küste. Abenteuerlustig gestimmt, hatte sie nach Nierenpastete gefragt, aber der indische Kellner hatte sie nur verständnislos angesehen. Vielleicht war ein Hotel am Flugplatz doch nicht der richtige Ort für traditionelle englische Küche.

Sie verzichtete auf einen Mietwagen, da sie sich nicht traute, auf der falschen Straßenseite zu fahren. Das hätten sie längst ändern müssen. In einigen anderen Ländern - war das nicht in Somalia gewesen oder Schweden? - hatte das auch geklappt, mehr oder weniger schnell.

Sam nahm in London den Hochgeschwindigkeitszug „Lionheart“, der mit knapp 300 Stundenkilometern über Bristol nach Cardiff raste, stieg dort in die gemütlichere Regionalbahn nach Swansea um und erreichte nach ziemlich unbequemer und langer Fahrt schließlich Milford Haven. Am frühen Abend brachte sie ein Taxi nach Martin's Haven, von wo aus sie mit dem letzten Fährboot, das bis 20 Uhr jede Stunde fuhr, nach Skomer übersetzte und nun glaubte, am Ende der zivilisierten Welt angelangt zu sein.

Pro Tag durfte nur eine bestimmte Anzahl von Touristen die Insel betreten, aber die Saison hatte noch nicht richtig begonnen und Sam war zu dieser Stunde der einzige Fahrgast. Es dämmerte schon und sie sah nicht mehr viel von der Schönheit der kleinen Insel, bemerkte aber die vielen Papageientaucher, Kormorane und Lummen, die sich überall in Scharen versammelten. Sam liebte nicht nur Kriminalromane, auch die großen Film-Klassiker des einschlägigen Genres bis zurück in die Anfangszeit des Films hatte sie alle gesehen. Es war daher kein Wunder, dass die Szenerie sie stark an Alfred Hitchcocks „Vögel“ in der Verfilmung mit Rod Taylor aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnerte.

Sie mietete sich in einer kleinen, neu erbauten Pension nahe dem Fähranleger ein - die einzige auf Skomer. Früher hatte es hier nur Vögel und Felsen gegeben, jüngst hatte man schließlich doch dem Tourismus Tribut gezollt. Der Pensionswirt betrieb sogar einen winzigen Pub, in dem sich abends die Männer aus den umliegenden Häusern trafen. Fährleute, ein Vogelwart und ein paar alte Fischer, die noch in den wenigen Hütten auf Skomer wohnten.

Obwohl etliche Touristen kamen, um die Menhire und die Vogelwelt, vor allem die Papageientaucher, zu bestaunen, erregte Sams Erscheinen allgemeines Interesse, was wohl vor allem ihrem schreiend roten Schal mit den grünen Karos und den gelben Ausrufezeichen darauf zuzuschreiben war. Da sie sich ansonsten gerne relativ dezent kleidete, versuchte Sam mit ungewöhnlichen, meist sehr bunt gemusterten Schals oder Halstüchern etwas Pep in ihre Garderobe zu bringen und verfügte über eine erstaunliche Kollektion exklusiver oder zumindest auffälliger Designs. Die Ausrufezeichen übten scheinbar eine fast magnetische Anziehungskraft auf die Blicke der Männer aus, was Sam nun doch etwas unangenehm war. Sie band das Tuch ab und steckte es in ihre Tasche.

„Was solls sein?“, fragte der Mann hinter dem Tresen und Sam entschied sich für ein kleines Stout. „Tourist?“

„Äh, ja oder vielmehr nein - ich bin in einer Grundstücksangelegenheit hier.“

„Ich kenn mich gut aus hier, kenn praktisch jeden. Viel Grundstücke gibts hier nich. Kenn sie alle, will ich wohl meinen. Was für ein Grundstück suchen Sie denn?“

„Das mit dem Haus, in dem die Morde geschehen sind, wissen Sie, welches ich meine?“

„Ja klar doch. Kennt hier jeder. Liegt direkt vor der Halbinsel 'The Neck'. Auf 'Nigger Island'. Da wollten schon viele hin. Das ‚Agatha Christie Haus’ haben sies immer genannt. Na ja, jedenfalls war es wohl so ne Art Vorlage für das Buch mit den zehn Indianern oder was das war. Die meisten Touristen fahren heute ja nach Skomer, wegen der Vögel, wissen Sie. Meistens mit den Ausflugsbooten, die fahren zweimal täglich. Die Fährboote nehmen nur wenige. Schon gar nicht abends. Zum Übernachten bleibt kaum jemand - meistens nur junge Pärchen.“

Einige der Männer, die in Hörweite saßen, zwinkerten sich zu, lachten etwas anzüglich auf, so ein Lachen, bei dem man den Mund nicht öffnete und das ein bisschen nach Ersticken klang, und der Mann fuhr etwas irritiert fort: „Nach 'Nigger Island' will heute fast keiner mehr. Nicht mal die Fährboote legen da mehr an. Früher mal, aber heute nicht mehr. Aber hier, der alte Pete, der fährt mit seinem Kutter jeden hinüber, der da hin will und bezahlen kann. Was, Pete?“

Ein alter Mann, der in der Nähe an einem Einzeltisch saß und aufmerksam zugehört hatte, nickte eifrig. Der Wirt stellte vor Sam ein gut gefülltes Glas mit schwarzbraunem Bier ab, auf dem eine cremefarbene, dünne Schaumkrone schwamm.

„Aber wenn Sie mich fragen", fuhr er dabei fort, "das lohnt nicht. In den letzten Jahren ist kaum jemand mehr deshalb gekommen. Seit sie im Internet diesen Bericht haben, wo drin steht, dass das alles doch ganz anders war.“

„Anders?“

„Na ja, anders eben, sag ich doch. Oder hab ich das nicht gesagt? Das Haus hat dem alten Owens gehört, also dem ganz alten. Edward J. Owens hieß er, glaub ich. Die Christie hat das in U. N. Owen verdreht, Sie wissen schon, unknown, unbekannt eben, damit das spannender wird.“

„Was ist denn passiert, damals, ich meine, wirklich?“ Der Wirt wischte langsam mit einem Lappen über den Tresen, als müsse er seine Erinnerungen erst sammeln. Er war froh, die alte Geschichte wieder mal jemandem erzählen zu können, der sie noch nicht kannte.

„Na, das weiß hier inzwischen jeder, auch wenn man es damals vertuschen wollte und es der alte John bis heute nicht hören will. Der wohnt noch da auf der Insel, aber nich im Haus, da traut er sich nich rein, der wohnt da in seinem Blockhaus wie ein Einsiedler. Genauso verrückt wie sein Ururgroßvater, wenn Sie mich fragen.“ Die Männer, die aufmerksam lauschten, obwohl sie alle die Geschichte schon mindestens hundertmal gehört hatten, lachten. „Der alte Owens ist damals einfach durchgeknallt, hat an einem Wochenende zehn - oder warens zwölf? - von seinen liebsten Feinden in sein Haus eingeladen, hat ihnen geschrieben, dass er sich mit ihnen aussöhnen will und son Zeug und dann - paff - paff - hat er sie alle über den Haufen geschossen, einfach so, ohne langes Federlesen.“ Der Wirt demonstrierte das Gesagte, indem er mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand eine Pistole formte und den Rückstoß der Waffe durch das Hochreißen der Hand bei jedem „paff“ imitierte, was seine Zuhörer mit einem Auflachen belohnten. „Natürlich hat er sie nicht alle auf einmal erwischt. Sind wohl gelaufen wie die Hasen, als er mit der Ballerei anfing. Aber erwischt hat er sie alle, einer ist vor lauter Angst die Klippen runtergesprungen. Einfach die Klippen ist der runter, vor lauter Angst! Und als Owens keine Munition mehr hatte und nur noch eine Frau lebte, da hat er die einfach mit einem Beil erschlagen. Hat sich dann auch noch selbst aufgehängt, das arme Schwein. Na, die Christie hat das natürlich noch viel spannender gemacht und früher sind darum viele Touristen gekommen, die geglaubt haben, das sei hier tatsächlich so passiert, vor allem, als sie das verfilmt haben, mit dem berühmten Schauspieler - ich komm immer nicht auf den Namen - aber als das dann im Internet gestanden hat, wie das alles wirklich war, da sind kaum noch Leute gekommen, nur noch die Spinner, die - wie hat der eine noch gesagt? - den negativen Schwingungen des Hauses nachspüren wollten oder so Geisterjäger.“ Er hielt etwas erschrocken inne. „Also, ich meine ... nicht, dass Sie jetzt meinen, dass ich meine, dass Sie ... ich weiß ja nicht, was Sie ...“ Sam lächelte und prostete ihm zu. Das Stout war, wie erwartet, fast lauwarm.

In dem alten Fernseher, der sich hinter dem Tresen ein Regal mit zwei Dutzend geschnitzten Holzvögeln teilte, liefen die Nachrichten eines englischen Senders. Der Ton war sehr leise gestellt. Sam erkannte aber Rickmans Museumsinsel mit dem Dom. In der nächsten Szene waren aufgeregte Leute mit Transparenten zu sehen, die irgendwelche Parolen skandierten. Ein gutaussehender Mann, wohl Italiener, wurde von der Reporterin befragt. Dann begann eine Sportberichterstattung.

„Schon gut, vielen Dank für Ihre Hilfe“, meinte Sam, trank ihr Bier nur halb aus, was den Wirt zu einem geringschätzigen Blick veranlasste, und verabredete mit dem alten Pete für den nächsten Tag eine Fährfahrt nach 'Nigger Island', wobei sie den geforderten Preis fast um ein Drittel herunterhandelte. Die Bahnfahrt war teuer genug gewesen. Die nehmen es wirklich von den Lebendigen! Sie bezog ihr Zimmer, das sehr einfach, aber für ein, zwei Nächte ausreichend sein würde, gönnte sich noch eine von den mitgebrachten Weinbrandbohnen und schlief erschöpft und zufrieden ein.

Da im Internet Grundbucheinträge aus Datenschutzgründen nicht verfügbar waren und es auf Skomer keinerlei Behörden gab, suchte Sam am anderen Morgen zunächst das Grundbuchamt im kleinen Rathaus in Marloes auf, um verärgert festzustellen, dass Ämter in dieser Gegend, am Ende der behördlichen Zivilisation, mittwochs erst am Nachmittag öffneten. Sie nutzte die Gelegenheit, fuhr mit dem Bus nach Martin's Haven zurück und unternahm einen Spaziergang an der Steilküste entlang.

Es hatte ein wenig zu nieseln begonnen, aber sie genoss den frischen Wind und den leichten Regen auf ihrem Gesicht. Das Meer war grau und kleine Gischtkronen liefen wie weiße Zierleisten auf den Wellen und lösten sich in immer gleichen Mustern am Strand auf. Sam faszinierte der Gedanke, dass dieses Spiel sich fortsetzen würde, auch wenn sie ging und nicht mehr Zuschauerin war, auch während sie heute Nacht schlief oder morgen schon wieder in Hamburg war oder längst tot. Die Natur brauchte den Menschen nicht als Zuschauer. Sie war sich selbst genug. Irgendwo schrie ein Papageientaucher, der sich von Skomer hierher verirrt hatte. Es hörte sich irgendwie lustig an. Sie dachte unvermittelt an Harry zurück, der sie immer zum Lachen gebracht hatte, an seine stets wirre Frisur, die ihrer so ähnlich sah, an seine Hände. Der Teufel soll ihn holen, Frau Hansens Gemeinsame-Humor-Theorie hatte hier komplett versagt.

In Gedanken versunken war sie dem Rand der Steilküste unerwartet nahe gekommen und schreckte zurück. Nicht hinuntersehen! Nur nicht hinuntersehen! Innerhalb weniger Sekunden begann ihr Herz zu rasen und ein Gefühl der Enge schnürte ihr die Brust zusammen. Sam mied Klippen und auch hohe Bauwerke wie der Teufel das Weihwasser. Schnell drehte sie sich um und ging langsam wieder zurück ins Dorf.

Sie dachte an Rickman. Das „Rickman Museum of Crime Scenes“ schien eines seiner Lieblingsprojekte zu sein. Die Eröffnung war schon einmal verschoben worden, weil er noch ein weiteres Gebäude mit einem Tatort erworben hatte und ihr wurde etwas mulmig bei dem Gedanken, dass es der für Juli geplanten Eröffnung vielleicht ebenso so ergehen könnte, weil sie ihren Auftrag nicht rechtzeitig erfüllen konnte. Aber ich glaube, dachte Sam, Rickman wird es diesmal durchziehen, ob mit oder ohne das Haus von Nigger Island.

Man munkelte, dass man ihm in diesem Herbst den Nobelpreis für Physik verleihen wolle, eine Auszeichnung, die an sich für die Innovationen, für die er verantwortlich zeichnete, schon längst überfällig gewesen wäre - doch immer wieder hatten sich die Schweden geziert, weil ihnen die kommerzielle Ausschlachtung seiner Erfindungen zu brachial und skrupellos erschienen war. Nun schien der Widerstand geschwunden und die Bekanntgabe der Nominierungen war traditionsgemäß immer Anfang Oktober erfolgt. Nein, Rickman war hier im Zugzwang. Er musste der Welt dieses Projekt vorher präsentieren, nur so war es dramaturgisch richtig. Nicht, dass er auf die zwei Millionen Euro Preisgeld scharf gewesen wäre - das war für ihn nur Kleingeld. Aber das Renommee, das dieser Preis heute mehr denn je für den Ausgezeichneten mit sich brachte, war enorm. Es würde wahrscheinlich all jene Stimmen zum Verstummen bringen, die Rickman einen Taschenspieler und Scharlatan nannten, der seinen Reichtum auf ein paar Sexspielzeugen und mutmaßlichen militärischen Anwendungen seiner Holo-Figuren aufgebaut hatte. Obwohl, Sam fand es eigentlich ganz friedensstiftend, wenn jemand seine teuren Raketen nicht mehr auf eine feindliche Armee abschoss, weil er nicht sicher sein konnte, ob sie aus Menschen oder nur aus projizierten, harmlosen Holo-Figuren bestanden. Aber wer weiß? Vielleicht lernten die ja auch bald schießen. Doch so weit war es mit der Technologie der Holo-Figuren wohl noch lange nicht, obgleich viel darüber spekuliert wurde. Sam bedauerte, dass sie - anders als Frau Hansen, die stets aus der Boulevard-Presse gut unterrichtet war - versäumt hatte, sich über die Details des geplanten Museums genauer zu informieren und nahm sich fest vor, dies bei nächster Gelegenheit nachzuholen.

Sie kehrte nach Marloes zurück und als das Grundbuchamt endlich seine Pforten öffnete, fand Sam nach einigem Suchen unter Mithilfe einer zuständigen Beamtin den entsprechenden Eintrag: Die Auskunft des Wirtes war richtig gewesen: Das Haus gehörte heute rechtmäßig John Baptist Owens.

Ihr nächster Besuch führte sie ins Amtsgericht, wo sie versuchte, Einblick in die damaligen Prozessunterlagen zu bekommen. Leider stellte sich heraus, dass diese über hundert Jahre alten Dokumente nicht auffindbar waren. Man arbeitete seit langer Zeit nicht mehr mit Papier-Akten und auch für die Aufbewahrung der Altbestände gab es gesetzliche Fristen, die in diesem Fall überschritten waren. Es existierten einige wenige, allgemeine Textdateien über den Fall im Computer, die Sam ohne große Probleme auf ihren MPC kopieren durfte, da sie keine personenbezogenen oder geschützten Daten enthielten. Leider aber auch nur wenig Interessantes.

Als sie das Gebäude verließ, fiel ihr Blick auf einen kleinen Wegweiser, der auf das Heimatmuseum von Marloes hinwies. Es war nicht weit bis dorthin, Sam sah bereits das handgemalte Schild über der Tür, dessen Verzierungen ebenso üppig wie geschmacklos waren.

Sie betrat einen einzigen, aber erstaunlich großen Raum, vielleicht eine ehemalige Turnhalle, mit einem bunten Sammelsurium von Stellwänden unterschiedlichster Bauart und Vitrinen, denen man ansah, dass sie bereits den verschiedensten Zwecken gedient haben mochten und hierher gelangt waren, nachdem sie diesen nicht mehr genügt hatten. Aufsichtspersonal war nicht zu sehen, ebensowenig eine Kasse, was Sam befriedigt zur Kenntnis nahm. Es gab aber auch nichts, was zu bewachen gewesen wäre oder wofür es sich gelohnt hätte, Eintritt zu bezahlen.

An den Stellwänden hingen billig gerahmte oder aufgeblockte alte Fotos aus der Vergangenheit des Städtchens, ein paar von Feuchtigkeit wellige Zeitungen lagen aufgeschlagen in den Behelfsvitrinen, einige bäuerliche Geräte aus dem 20. Jahrhundert, die bereits etwas zerschlissene Fahne des Schützenvereins und als Glanzstücke konnte man den Küchenschrank und die Nähmaschine aus dem Besitz der lokalen Berühmtheit Mary Sutherbrick bewundern - wer immer sie auch gewesen sein mochte. Offenbar hielt man es nicht für nötig, dies dem Ortsfremden durch eine Beschriftung zu erläutern. Allerdings war fraglich, ob es Sam wirklich interessiert hätte, dass besagte Mary Sutherbrick im zarten Alter von 18 Jahren an der Ausscheidung um den Titel der "Miss Wales" teilgenommen hatte, wobei sie einen 2. Platz belegte.

Sams Rundgang führte sie schließlich an einen Tisch, der früher wohl einmal als ganz normaler Küchentisch gedient hatte. Eine dicke, an den Kanten geschliffene, leicht eingestaubte Glasplatte, die im Format nicht ganz zu dem Tisch passte und vormals zu ganz anderen Zwecken benutzt worden war, presste unter sich eine Reihe von Zeitungsausschnitten, Fotos und Dokumenten platt.

Es schien zum ungewollten Konzept des Heimatmuseums zu gehören, dass fast jedes Beschriftungsschildchen - wenn ein solches überhaupt vorhanden war - in einer jeweils anderen Größe und Schrifttype gedruckt war. So auch dieses, das „Die grausigen Morde der Bestie Edward J. Owens“ geradezu stolz anpries. Es dürfte wohl auch die einzig wirkliche Attraktion in dieser Gegend seit Menschengedenken gewesen sein. Sam warf einen Blick auf die ausgeblichenen Fotos, die den Mörder in seiner Jugendzeit bei einer Festaufführung der örtlichen Schule und den Abtransport der Leichen zeigten. Weiterhin war sein Abgangszeugnis zu bewundern, das mittelmäßige Leistungen auswies. Mehrere Presseartikel aus den späten 30er Jahren berichteten gewohnt reißerisch über die Tat und ganz links lag ein grauer Aktendeckel des Amtsgerichtes von Marloes, der die Glasplatte etwas in die Höhe drückte, so dass Sam darin noch einige Papiere vermutete. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie alleine im Raum war, schob sie die schwere Deckplatte so weit zur Seite, dass sie den Pappdeckel aufschlagen und die etwa zehn Seiten auseinanderblättern konnte. Sam nahm ihre Kamera aus der Tasche, stellte im Menue den Restlichtverstärker ein und den Verwacklungsschutz auf Maximum, wählte den Schwarz-Weiß-Modus für Dokumente und die höchstmögliche Auflösung und fotografierte sorgfältig alles, was mit dem Fall zu tun hatte. Sie schaltete nun noch einen Polfilter zu, der Reflexionen auf der Glasscheibe verhinderte, und nahm auch die Fotos und das Zeugnis gewissenhaft auf.

Sams Blick fiel nur zufällig auf eine Holzkiste mit einem Glasdeckel, die ziemlich versteckt unter dem Tisch stand. Fast hätte sie den Kasten übersehen. Darin lag ein rostiges Beil mit dunklen Flecken. Die Beschriftung war diesmal unsinnigerweise so klein, dass Sam sich leise fluchend weit hinunterbeugen musste, um sie lesen zu können. Das Schildchen sagte aus, dass Owens mit diesem Beil Salina Revolledo erschlagen hatte, als ihm die Munition ausging. Handschriftlich war noch eigens hinzugefügt worden, dass es sich bei den Flecken um das originale Blut des Opfers handelte. Sam überlief ein unangenehmes Schaudern. Sie rückte die Glasplatte wieder zurecht und wandte sich schnell dem Ausgang zu.

Die Rückkehr nach Skomer nahm mehr Zeit in Anspruch, als sie einkalkuliert hatte. Erst am späten Nachmittag fuhr Pete sie mit seinem Kutter über die inzwischen ziemlich raue See. Es regnete nun stärker und dicke, bleigraue Wolken hingen über der kleinen Felseninsel. Der Alte steuerte das große Boot so gut er konnte an den Strand, jedoch musste Sam beim Ausstieg immer noch durch das knöcheltiefe, eiskalte Wasser waten. Natürlich hatte sie nicht an Gummistiefel gedacht und wärmere Kleidung wäre auch angebracht gewesen. Überdies merkte sie erst jetzt, dass sie die Fahrt besser auf morgen hätte verschieben sollen, da es bereits dämmerte.

Man sah die Silhouette des Hauses, das einsam auf dem Hügel stand, schon von weitem. Sie hob sich aber nur mit dem dunklen Dach gegen das dustere Grau des Himmels ab. Sam brauchte noch fast eine Viertelstunde für den steilen Aufstieg, zunächst durch den feuchten Sand, dann über schlüpfrige Steine und zuletzt über Stufen, die in den Fels gehauen waren. Sie war etwas außer Atem, als sie oben ankam. Hier wehte der kalte Wind noch stärker. Fröstelnd zog sie ihren Schal enger um die Schultern.

Das würfelförmige Haus mit den Bogenfenstern, ganz so, wie es im Roman geschildert war, schien verlassen. Die Eingangstür war verschlossen, auch auf ihr Klopfen hin geschah nichts. Nirgendwo brannte Licht. Das Gebäude war baufällig, das sah man sofort und seit langer Zeit unbewohnt. Besonders jetzt, im fahlen Dämmerlicht, bekam es eine abweisende, fast bedrohliche Ausstrahlung. Sam hatte den Roman einige Male gelesen, sie hatte ihn wegen des genialen Szenarios regelrecht vergöttert. Fast erfüllte sie der Eindruck, auf geheiligtem Boden zu stehen, auch wenn sie wusste, dass sich die Ereignisse hier in der Wirklichkeit etwas anders zugetragen hatten, als im Buch geschildert. Doch Mord blieb Mord. Für Rickman wäre das einerlei.

Wie das Haus wohl innen aussah? Sam reinigte mit einem Taschentuch und Spucke die Ecke einer völlig verdreckten Fensterscheibe und spähte hinein. Außer Dunkelheit war natürlich nichts zu erkennen.

Sie erschrak zu Tode, als ein Vogel von innen gegen die Scheibe flatterte.

Nein, sie konnte sich des starken Eindrucks nicht erwehren, den das Haus auf sie machte. Zu denken, zu wissen, dass genau hier, an genau dieser Stelle all das wirklich passiert war. Ein wenig glaubte Sam, sie könne noch mit dabei sein, könne ein Stückchen der Ereignisse, der realen wie auch der erfundenen, miterleben, Richter Wargrave und Dr. Armstrong durch das Kaminzimmer laufen sehen. Besonders genial fand Sam die Idee von Agatha Christie, dass der Mörder seine eigene Ermordung vortäuscht, um unerkannt weiter aus dem Hintergrund die Fäden zu ziehen. Ein besonders geschickter Schachzug, denn damit scheidet er zunächst für den Leser aus dem Kreis der Verdächtigen aus und die Überraschung am Schluss ist umso größer.

Der „Genius Loci“, davon hatte Rickman einmal in einem Fernsehinterview gesprochen, der Geist, der einem Ort innewohnt - viele vermochten ihn zu spüren. Er übermannte Pilger an heiligen Stätten, beeindruckte Interessierte an geschichtsträchtigen Orten, heilte Kranke in Lourdes. Ein Schauer lief Sam über den Rücken, der nicht nur von der Kälte und den nassen Füßen kam.

Wieder schaute sie in die Dunkelheit, versuchte vergeblich, Einzelheiten im Innern zu erkennen. Privatdetektive in drittklassigen Filmen, dachte Sam, würden jetzt in das Haus eindringen und dort auf einen Mörder stoßen, der sich blödsinnigerweise in der Dunkelheit und Kälte des verlassenen Hauses tage- oder womöglich wochenlang versteckt gehalten und auf irgendjemanden gewartet hatte, um ihn dann schließlich aus dem Hinterhalt heraus zu meucheln - warum auch immer. Aber nicht mit mir, dachte Sam, dies ist kein Film und dafür werde ich auch nicht bezahlt. Sie machte sich auf den Rückweg, denn ihr war nun richtig kalt.

An der Felsklippe, die sie sich nach der Schilderung im Roman gewaltiger vorgestellt hatte, stand ein kleines Holzhaus, das einen zwar etwas ungepflegten, jedoch soliden Eindruck machte. Durch das kleine Fenster war das Licht einiger Kerzen zu sehen. Ein kleines, sorgfältig geschnitztes Schild an der Tür trug den Namen des Besitzers: J. B. Owens. Sam klopfte.

„Hallo, Mr. Owens? Hallo?“

Von drinnen hörte man schlurfende Schritte und ein Hund schlug an.

„Was wollen Sie? Hauen Sie bloß ab oder ich schieße Ihnen eine Ladung Schrot in den Hintern!“

Sam blieb der Mund offen stehen. Nette Begrüßung, das konnte ja heiter werden. Vielleicht sollte sie die Verhandlungen doch einfach Sanders überlassen. Aber da sie nun schon mal hier war ...

„Entschuldigung, ich komme wegen des Hauses.“

„Hauen Sie ab!“

Sam stand in einer kleinen Pfütze, die aus ihren Schuhen herausgelaufen war und fror. Der Wind wehte immer noch sehr frisch von der See her, der Regen hatte etwas nachgelassen.

„Ich bin ins Wasser getreten und friere. Könnte ich mich vielleicht einen Moment aufwärmen, Sir?“

Etwas knurrte hinter der Tür und Sam war sich nicht sicher, ob es der Mann oder der Hund war. Ein Riegel wurde laut quietschend zurückgezogen und ein kleiner, alter Mann mit weißem Vollbart lugte durch den Türspalt.

Tatsächlich hielt er eine Schrotflinte in der Hand.

„Ich bin auch gleich wieder weg.“

„Hm, will ich Ihnen auch geraten haben. Aber niemand soll dem alten Owens nachsagen können, dass er nicht gastfreundlich wäre, bei dem Wetter. Kommen Sie in Gottesnamen rein, ich habe gerade Tee aufgesetzt, aber kommen Sie mir bloß nicht mit dummen Sprüchen. Ich lasse niemanden mehr in das Haus. Verfluchter Kasten, bringt mir nichts als Ärger.“

Er hatte sich seinem Teekessel zugewandt und wies mit einer unfreundlichen Handbewegung auf einen schäbigen Küchenstuhl, der am Tisch stand.

„Nun setzen Sie sich schon!“

Er holte zwei Tassen, von denen er die eine mit einem schmutzigen Tuch auswischte, schenkte beide voll und setzte sich an den Tisch.

„Danke“, sagte Sam und nahm die heiße Tasse mit beiden Händen, „Sie sind sehr freundlich. Ich kann verstehen, dass die Touristen Sie nerven.“

„Wenns nur das wäre. Früher, da sind ganze Bootsladungen von denen gekommen. Haben sogar Eintritt bezahlt für das Haus, aber in den letzten Jahren sinds nur noch wenige. Ist alles viel zu lang her. Jetzt kommen nur noch die Verrückten. Wollen Gespenster jagen und so einen Mist. Bauen Geräte auf, die so komisch summen. Einer hat sich eine Mütze aus Silberpapier aufgesetzt mit so Drähten dran und dann versucht, das Haus anzuzünden. Hat ihm angeblich der Erzengel Uriel gesagt. Ich bin alt. Seit vierzig Jahren sitz ich nun hier. Ein paar Touristen, ein paar Kröten an Eintrittsgeldern. Hier“, er deutete in die Ecke, wo sich ein Haufen Holzspäne ringförmig um einen Schemel verteilte, „ich schnitze Vögel aus Holz. Die verkauft George nun drüben im Pub an die Touristen. Zuviel zum Sterben und zuwenig zum Leben, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich hab die Schnauze voll von dem ganzen Pack und den alten Geschichten. Glauben Sie, es macht Spaß, wenn der Ururgroßvater als mehrfacher Mörder verschrien ist und man nicht weiß, ob mans nicht auch geerbt hat und nicht vielleicht auch eines Tages durchdreht?“ Er sah im Halbdunkel der Kerzen zu ihr hinüber und Sam wurde etwas unwohl dabei. „Aber die Geschichten über meinen Vater sind nicht wahr, glauben Sie bloß nichts davon, das war ein Unfall beim Reinigen seiner Waffe. Alles andere sind bösartige Gerüchte vom alten Beevers und seinem Sohn, den beiden Schwätzern!“

Sam nippte an ihrem Tee, der erstaunlich gut schmeckte. Sie fühlte sich dennoch unbehaglich.

„Ich kann Sie gut verstehen. Verkaufen Sie es doch.“

„Was?“

„Das Haus - warum verkaufen Sie es denn nicht einfach?“

„Junge Frau, haben Sie das Haus mal bei Tag gesehen? Oder von innen? Das ist eine Ruine. Was sag ich - ein Wrack. Auf einer einsamen, gottverlassenen Insel. Da will nicht mal ich drin wohnen. Und die ...“, er zögerte kurz, "... Unfälle? Wer soll das Ding denn kaufen? Die paar Spinner, die sich noch dafür interessieren, haben doch alle kein Geld!“

Sam lächelte in ihre Tasse hinein. Sie kannte einen Spinner mit Geld. Und der war im Augenblick sehr interessiert.

Nachdem sie mit Sanders telefoniert hatte, fuhr sie mit dem Zug nach London. Sie wollte dort zwei Tage als Touristin verbringen, bevor sie wieder zur Insel zurückkehren und sich die Fortschritte ansehen wollte, die das Projekt bis dahin gemacht hatte. Sie zweifelte nicht daran, dass Rickman keine Zeit verlieren wollte, denn die Eröffnung des Museums für Juli war bereits weltweit in den Medien angekündigt worden.

Sam besichtigte vormittags die Kronjuwelen im Tower, wofür sie fast drei Stunden anstehen musste, durch den herrlichen Anblick aber reichlich entschädigt wurde. Der Aufenthalt in der Schatzkammer war allerdings zeitlich begrenzt und stand in keinem Verhältnis zur Wartezeit vor dem Eingang und vor allem zum horrenden Eintrittspreis. Sam fragte sich, warum ausgerechnet sie, Samantha A. Merkmann, dem englischen Königshaus aus dessen seit Jahrzehnten zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten helfen musste. Zugegeben - es war schon etwas anderes als im Heimatmuseum von Marloes.

Sie wusste nur relativ wenig über die politischen und historischen Hintergründe der Pretiosen und rief sich daher, wie viele andere der Besucher auch, über ihren MPC die Führung durch die Schatzkammer direkt online auf.

Sie bemerkte, dass das allgemeine Interesse neben dem "Star of Africa", dem zweitgrößten geschliffenen Diamanten der Welt, der im Königszepter zu bewundern war, vor allem dem "Rubin des Schwarzen Prinzen" galt, der in Wirklichkeit gar kein Rubin, sondern ein roter Spinell ist. Er befindet sich in der Imperialen Staatskrone und wurde von König Pedro von Kastilien nach der Schlacht von Najera 1367 dem "Schwarzen Prinzen" geschenkt, der ihn an seinem Helm getragen hat. Pedro soll ihn durch einen Mord an dem König von Granada in seinen Besitz gebracht haben.

Sam fiel auch hier auf, wie stark Morde - und seien sie noch so lange her - die Fantasie der Menschen beschäftigten. Ein Gegenstand oder ein Ort wurde um vieles interessanter, wenn er mit einer Bluttat in Verbindung stand, ein Umstand, der Rickman bei seinem Museum der Tatorte das Interesse des Publikums garantieren würde.

Sie verließ die Schatzkammer und schloss sich unauffällig einer Riesegruppe an, die zu einer Gedenktafel geführt wurde, welche die Stelle des Schafotts markierte, mit dem König Heinrich VIII. seine Gemahlin Anne Boleyn hinrichten ließ. Anne war die Hofdame von Heinrichs erster Frau gewesen, er machte sie zu seiner Geliebten und heiratete sie, da er sich von ihr den ersehnten, aber bislang ausgebliebenen männlichen Thronfolger erhoffte. Als sie jedoch nur mit einer Tochter niederkam, beschuldigte sie der König des Ehebruchs und verurteilte sie zum Tode. Der Fremdenführer erzählte überflüssig betont deklamierend, der König habe eigens einen Henker aus der Region von Calais kommen lassen, der für seine besonderen Fähigkeiten bei der Enthauptung mit dem Schwert bekannt war, was bei den Zuhörern, zumeist älteren Damen, Reaktionen auslöste, die zwischen Entsetzen, ungläubigem Staunen und wohligem Erschauern lagen.

Am nächsten Tag hatte sich Sam einen Besuch im alten Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud vorgenommen. Früher musste man auch hier lange Wartezeiten vor den Kassen in Kauf nehmen, heute jedoch nicht mehr. Die Ausstellung der Wachspuppen war nur noch eine nostalgische Sehenswürdigkeit und allenfalls für jene interessant, die in alten Zeiten schwelgen oder sich einmal staunend ansehen wollten, was man vor etlichen Jahrzehnten für eine besondere Attraktion gehalten hatte. Das Management hatte sich darum seit langem nicht mehr die Mühe gemacht, die ausgestellten Persönlichkeiten zu aktualisieren und so konnte man noch auf Politiker wie den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl oder den russischen Präsidenten Gorbatschow treffen, die heute kaum noch einer kannte. Breiten Raum nahm nach wie vor die Präsentation des englischen Königshauses zur Jahrtausendwende ein, eine Ergänzung zur prächtigen Darbietung der victorianischen Epoche in Windsor und auch die uralte Galerie der Schwerverbrecher wie Dr. Crippen, der seine Frau in Säure aufgelöst hatte, fanden immer noch ihr staunendes Publikum.

Sam beobachtete ein älteres Ehepaar, das versuchte, über die Absperrung hinweg den Anzug von Dr. Crippen zu berühren und Sam fragte sich, warum eine simple Wachspuppe solche Emotionen auslösen konnte, nur weil sie so aussah wie jemand, der vor langer, langer Zeit seine Frau umgebracht hatte.

Schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte „Madame Tussaud's“ am Piccadilly Circus eine weitaus modernere und vor allem weniger makabere Show eröffnet, den „Rock Circus“, in dem neben etlichen herkömmlichen Wachsfiguren auch bewegliche Puppen zu sehen waren, deren Mechaniken sie in begrenztem Umfange wie Roboter mit ruckartigen, sich stets wiederholenden Bewegungen agieren ließen.

Einige davon waren auch heute noch als Reminiszenz an vergangene Tage in der neusten Präsentation der „Madame Tussaud's New Music & Cinema-World“ im Hochhaus am Piccadilly Circus in einem eigenen Raum zu sehen und Sam amüsierte sich über den Auftritt von Elvis, der auf einer etwas wackeligen Drehbühne hereingefahren kam und dabei so wenig lebensecht wirkte, wie der Avatar ihres MPCs. Man konnte sich heute kaum mehr vorstellen, dass dies damals eine vielbestaunte Attraktion gewesen sein soll.

In der neuen, gigantischen Show hatte man aber gewaltig aufgerüstet und die von Rickman entwickelten und durch seine Firmen hergestellten und vertriebenen Holo-Figuren zum Einsatz gebracht. Neben Beethoven, Bach, Mozart, den Beatles, Michael Jackson und dem neusten Publikumsliebling, der Skandalsängerin Marii Farewel war selbstverständlich auch eine neu überarbeitete Elvis-Show dabei.

Sam stand, nun doch ein wenig aufgeregt, in dem abgedunkelten, von zahlreichen Disco-Scheinwerfern grell-bunt beleuchteten Raum und meinte, den King persönlich auf der Bühne vor sich zu sehen, so naturgetreu wurde das Original holografisch nachgebildet. Das junge Original.

Da gerade nur wenige Besucher im Raum waren, konnte Sam bis ganz nach vorne an die Bühne gehen und als sie nur noch ein paar Schritt von ihm entfernt stand, blickte er plötzlich auf sie hinunter, sah ihr direkt in die Augen, wobei ein leichtes Lächeln über seine Züge glitt, so, als habe er in Samantha Merkmann gerade eine ihm gut bekannte, ja vielleicht sogar geliebte Person erblickt. Obwohl Sam natürlich wusste, dass dies nur von einem kleinen, interaktiven Computerprogramm gesteuert wurde, das die Holo-Figuren mit einer stereotypen Bewegungsfolge scheinbar auf bestimmte äußere Einflüsse - wie hier ihrer Annäherung - reagieren ließ, schoss ihr doch die Röte in die Wangen und weiter über beide Ohren hinauf, die nun regelrecht anfingen zu glühen, und sie fühlte Gänsehaut am ganzen Körper, als Elvis sich vor sie hinkniete und ihr - nur ihr! - immer noch lächelnd eine Kusshand zuwarf und sang: „Love me tender, love me true, never let me go ...“. Dieses Lächeln war einfach atemberaubend und seine Stimme hatte nichts von ihrer einstigen Faszination eingebüßt und ging durch Sam hindurch wie ein heißes Messer durch Butter. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch näher an die Bühne zu treten und mit der Hand nach seinem Fuß zu greifen. Ihre Backfisch-Schwärmerei wich einer tiefen Ernüchterung, als ihre Hand durch seinen blauen Wildlederschuh hindurchglitt.

Um nach diesem Wechselbad der Gefühle wieder einigermaßen Herrin ihrer selbst zu werden, beschloss Sam, die Cafeteria aufzusuchen und ein Stück von irgendeiner süßen, englischen Scheußlichkeit zu sich zu nehmen, was sie ganz bestimmt wieder auf den Boden der Realität zurückholen würde.

Sie überlegte ernsthaft, sich eine Elvis-Holo-Figur im Souvenirshop zu kaufen. Das Programm lief über jeden einigermaßen leistungsfähigen Haus-Computer mit Holo-Projektor, kostete aber stattliche 499 Euro.

Sam ahnte, womit Rickman seine Milliarden gescheffelt hatte. Der Souvenirshop bot eine große Auswahl von Musikstars und anderen Prominenten aus Film und Fernsehen an. Darüber hinaus gab es auch noch viele andere Holo-Figuren im Angebot, denn die Palette von „R-Toys“ war breit und produzierte alle möglichen Varianten. Etwa Figuren zu Werbezwecken, die vor Geschäften stehen, winken und alles Mögliche sagen, wie etwa: „Bitte treten Sie doch näher, heute haben wir Sonderangebote!“ Für die Kinder gab es Spielgefährten aus den gerade aktuellen 3D-Kinofilmen, wie "Smart Wizzard III" oder Fernseh-Serien wie "Cygnus Expedition" und "Dimension Surfer".

Witzig fand Sam auch einen blasierten Butler für den Privathaushalt, der natürlich nicht servieren konnte, sondern nur herumstehen, wichtig aussehen und die Gäste freundlich willkommen heißen. Man konnte ihn sogar so programmieren, dass er einzelne Personen anhand auffälliger Merkmale erkannte und entsprechend mit Namen begrüßte. Oder das attraktive französische Zimmermädchen im superkurzen, schwarzen Röckchen - der Gag für jeden Junggesellenhaushalt! Etwas weiter oben im Regal gab es auch spezielle Angebote für Erwachsene: Die Nachfrage nach Striptease-Tänzerinnen in allen nur denkbaren Haut- und Haarfarben in jeglichen Konfektionsgrößen war ungeheuer. In der gehobenen Preisklasse konnte man solche Parameter selbst programmieren, bis hin zu ganz spezieller Bekleidung, die nahezu jeden Kundenwunsch zufrieden stellen würde.

Wie Sam mit leichtem Erröten bemerkte, gab es auch zahlreiche männliche Ausführungen, die aber wesentlich teurer waren, als die weiblichen - und weitaus kostspieliger als die Elvis-Figur. Sam fand beides unerhört. In entsprechenden Sex-Shops wurden natürlich Holo-Figuren für sehr viel weitergehende Ansprüche angeboten. Allerdings nur fürs Auge, denn sie waren nun mal nur eine Illusion aus Licht. Aber für Illusionen hatten schon immer sehr viele Leute sehr viel Geld bezahlt. Was soll's? Stripper oder Elvis? Sam holte tief Luft, dachte an das Honorar, das sie bald bekommen würde, drückte ihren Daumen zum Bezahlen auf das Gerät an der Kasse und steckte die kleine Packung in ihre Handtasche.

Sie kehrte am späten Abend in ihre Pension zurück und fand außen an ihrer Zimmertür einen einfachen Zettel angepinnt, auf dem mit rotem Filzstift „GO HOME!“ stand. Reizende Leute hier! Als sie wenig später die Schankstube betrat, sahen alle wie auf ein geheimes Kommando zu ihr herüber und die Gespräche verstummten schlagartig.

„Kann ich bitte ein Guinness haben?“, fragte Sam.

„Is leider aus, Ma'am“, knurrte der Mann hinter dem Tresen, wischte sich hörbar über die Nase und fügte hinzu: „Das Zimmer ist leider ab morgen an jemand anderen vermietet. Besser Sie packen.“

Er wandte sich ab und fing an, betont uninteressiert Gläser zu spülen. Das war ja mal eine klare Ansage! Offenbar hatten die Arbeiten am Haus schon begonnen und der Erwerb und seine besonderen Umstände waren bereits Tagesgespräch. Augenscheinlich waren die Einheimischen davon nicht begeistert. Zwar war der Hausverkauf durch Owens legal, schließlich war es sein Haus und er konnte damit machen, was er wollte - Punktum - aber ein kompletter Abtransport des Hauses - da schlug wohl das Herz der Lokalpatrioten doch eine Oktave höher.

Sam schloss die Zimmertür zweimal ab, verriegelte sorgfältig das Fenster und schob sicherheitshalber noch einen Stuhl unter die Türklinke. In einem Film, überlegte Sam lächelnd, wäre das nun der absolute Spannungskiller - eine sich langsam herabsenkende Türklinke, ein schmaler, sich leise öffnender Türspalt, eine schwarz behandschuhte Hand, die sich gespenstisch hindurchschob - alles verhindert durch einen simplen Stuhl. Schade, aber spannende Erlebnisse zulasten von Leib und Leben überließ sie lieber ihren Filmkollegen.

Als sie die Pension am frühen Morgen so schnell und unauffällig wie nur möglich verließ, wartete ein junger Mann vor der Tür.

„Miss Merkmann?“

„Ja?“, antwortete Sam vorsichtig.

„Dr. Sanders schickt mich, ich soll Sie mit dem Boot zur Insel bringen. Er meinte, es wäre vielleicht besser für Sie.“

Am Ufer war ein schnelles Motorboot vertäut und die kurze Fahrt zur Insel war olfaktorisch wesentlich angenehmer als in Petes stinkendem Fischkutter. Als das Boot um die Landzunge im Süden bog, traute Sam ihren Augen nicht. Jetzt verstand sie auch die Reaktion der Dorfprominenz. Sanders hatte nicht lange gefackelt und ganze Arbeit geleistet. In der kleinen Bucht lagen mehrere große Container-Frachtschiffe und dazwischen sah man die Rümpfe von drei Wasserflugzeugen aufragen. Das Haus auf der Insel war kaum mehr zu erkennen, es wurde verdeckt von zahlreichen Gerüsten, Baukränen, Baggern und Maschinen, die wie riesige Kreissägen aussahen und von einem Heer von Arbeitern mit grauen Overalls und gelben Schutzhelmen umlagert waren. So musste es beim Bau der Pyramiden im alten Ägypten ausgesehen haben, oder jedenfalls so ähnlich.

Man hörte bis hierher das Kreischen der gigantischen Flexscheiben und das Sirren von Lasern, welche die Mauern des alten Hauses zerschnitten, als wären sie aus Butter. Die Teile wurden an den Seiten von riesigen, aufblasbaren Kissen umfangen und gestützt. Kräne hoben die tonnenschweren Stücke in ihren Ummantelungen mühelos über die Klippen direkt hinunter an den Strand in die Container, die alsbald in den Bäuchen der Frachtschiffe verschwanden. Kleinere Teile wurden in die Frachtmaschinen verladen. Das Dach des Hauses fehlte bereits völlig und von den Mauern stand nur noch wenig mehr als die Hälfte. Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde bis zum nächsten Tag alles verladen sein. Wie aus diesen Trümmern allerdings wieder ein komplettes Haus werden sollte, war Sam schleierhaft. Hoffentlich hatten sie alles nummeriert und ein paar Fotos davon gemacht. Aber wenn sie schon den Florentiner Dom wieder zusammengesetzt hatten, war das hier wohl nur eine Fingerübung.

Am Ufer begegnete sie dem alten Owens, der mit zwei Koffern und einer schäbigen Reisetasche auf Petes Kutter wartete.

„Das hab ich ja nun nicht gedacht, dass Sie das so eilig haben. Hätte es mir wohl nochmal gründlicher überlegen sollen.“

Er warf Sam einen übellaunigen Blick zu.

„Ich zieh erstmal zu meiner Schwester nach Manchester. Kann mich in der Gegend sowieso nich mehr blicken lassen. Erst hat sich die ganze Zeit kein Schwein um mich gekümmert und nun bin ich für alle hier der Buhmann. Sehen Sie nur mal hin“, er wies auf seine Hütte, „alle Scheiben haben sie mir eingeschmissen, gestern Nacht.“

Glücklicherweise legte das Boot von Pete gerade an und Owens kletterte etwas unbeholfen an Bord. Eine Verabschiedung hielt er nicht für nötig. Pete würdigte Sam aber auch Owens keines Blickes und fuhr sofort wieder ab.

Sie konnte die Einheimischen durchaus verstehen. Auch wenn das Haus schon lange nicht mehr die große Touristenattraktion war, so blieb es dennoch ein Stück ihrer Heimat und gehörte einfach hierher. Es musste schmerzen, zu sehen, wie es aus seinem angestammten Platz, wo es viele Jahre überdauert hatte, herausgerissen wurde und eine übel aussehende Wunde hinterließ, die noch lange zu sehen sein würde. Sam war froh, nicht an der Translozierung des Florentiner Domes beteiligt gewesen zu sein, den Rickman vor kurzem auf die Museumsinsel hatte schaffen lassen. Da waren Verhandlungen sicherlich auf ganz anderer Ebene gelaufen. Und mit mehr Ärger, dachte Sam, die sich an die Fernsehbilder von neulich erinnerte. Da kochte die Volksseele noch immer. Dagegen war das hier nur ein Stürmchen im Wasserglas, oder, wie man hierzulande sagte, a storm in a tea cup.

„Soll ich ihren Koffer schon mal in die Maschine bringen?“, fragte der junge Mann.

„Wohin?“

„Dr. Sanders bittet Sie, das Haus mit auf die Museumsinsel zu begleiten. Aber nur, wenn Sie möchten. Sie fliegen gleich mit einem der Transportflugzeuge.“

Sam gefiel der Gedanke, schnell von hier wegzukommen, die Kosten für die Zugfahrt zu sparen und auch, sich einmal die Fortschritte auf der Museumsinsel anzusehen, die sie bislang nur sporadisch aus Berichten in der Presse, dem Internet oder von Fernsehberichterstattungen her kannte. Sie hoffte nur, dass sie den Flug nicht zwischen Trümmern verbringen musste.

Diese Befürchtung bestätigte sich zwar nicht, aber die Sitze für die Flugbegleiter waren nicht gerade die reinste Luxusklasse. Dennoch lächelte Sam erfreut, als sie Platz nehmen wollte. Da hatte doch jemand mitgedacht. Auf ihrem Sitz lag eine kleine Packung mit fünf Weinbrandbohnen. Das war sehr gut, denn ihre gingen zur Neige.

HOLO-TOD

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