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Kapitel 5
ОглавлениеRickman Museum of Crime Scenes, Ostsee, 30. April 2049
Nach einem kurzen Schwenk über die Südspitze Dänemarks näherte sich ein schwarzer Schatten in Form eines gleichseitigen Dreiecks der Ostsee nördlich von Usedom. 40 Kilometer vor der Küste ging das seltsame Flugobjekt scheinbar in einen Landeanflug, um dann aber die Meeresoberfläche zu durchstoßen und sich seinem Ziel unter Wasser zu nähern, solange die Wassertiefe dies zuließ. Die letzten Kilometer steuerte Captain de St.Fleur manuell und ließ das Flugschiff wie ein riesiges Power-Boot mit einer Geschwindigkeit von 310 Stundenkilometern in einer Höhe von circa 80 Zentimeter über die relativ ruhige Wasseroberfläche gleiten. Dann bremste sie die Cheops schnell ab, und ließ sie auf den Grund der Ostsee sinken, die an dieser Stelle nur etwa 22 Meter tief war.
Kaum jemand hatte die fast lautlose Ankunft bemerkt.
Die Insel lag etwa fünf Kilometer vor der Küste, den kleinen, aber feinen Seebädern Bansin und Heringsdorf gegenüber. Die Schifffahrtsrouten zwischen St. Petersburg und Lübeck sowie zwischen Kopenhagen und den polnischen Häfen gingen weit an der Insel vorbei und auch einheimische Fischerboote trauten sich selten so weit auf die See. Natürlich hätte beim Landeanflug das Radar der Cheops jedes noch so kleine Boot frühzeitig geortet und der Autopilot ein entsprechendes Ausweichmanöver erzwungen.
An der Oberfläche des Flugschiffs, das nun noch etwa fünf Meter aus dem Wasser ragte, fuhr ein Turm und ein Tunnel aus, der in ein schwenkbares, passendes Gegenstück am Haupt-Terminal des Ufers einrastete und über den Rickman, geschützt vor den Unbilden der Witterung, die Cheops verließ. Sein Gepäck würde in seiner Suite im Gästehaus sein, noch ehe er selbst dort war, denn sein erster Weg führte ihn in das Verwaltungsgebäude. Er betrat mit schnellen Schritten den Empfangsbereich und die beiden Angestellten, die dort Dienst taten, fuhren etwas erschrocken hoch, da Rickman seinen Besuch nicht hatte ankündigen lassen.
Er grüßte sie nur mit einem knappen Kopfnicken und begab sich direkt in den 1.Stock, wo er ohne anzuklopfen die Tür mit der Aufschrift „Dr. Gero von Parneck“ öffnete und den Raum betrat.
Parneck saß an seinem Schreibtisch und sah erstaunt hoch.
„Oh, guten Tag, Mr. Rickman. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie kommen wollten.“ Parneck sah ihn über seine randlose Lesebrille hinweg ein wenig überrascht an und bemühte sich, die aufkommende Verärgerung zu unterdrücken.
„Das macht nichts, jetzt wissen Sie es ja. Ich wollte mich ein wenig umsehen, wenn Sie nichts dagegen haben - Herr Graf.“
Die scheinbar höfliche, doch durch eine kleine Pause unnötig akzentuierte Anrede klang aus Rickmans Mund eher abwertend und herablassend, doch Parneck überhörte es, wie er alle derartigen Spitzen Rickmans überhörte.
Graf Gero von Parneck war Kunsthistoriker mit den Schwerpunkten Architektur und Mediaevalistik und bekleidete seit vier Jahren die Stelle des Museumsdirektors. Er stammte aus einem alten Adelsgeschlecht und hatte eine exzellente humanistische Bildung genossen, was er seiner Umgebung manchmal spüren ließ. Dazu trugen auch Äußerlichkeiten wie sein schmaler Schnurrbart, die kurzgeschorenen, trotz seiner 41 Jahre bereits ergrauten Haare und die stets makellos manikürten Fingernägel bei. Die rechte Hand zierte ein dunkelblauer Siegelring mit dem Wappen derer von Parneck. Man konnte seinem fein geschnittenen, gepflegten Gesicht ansehen, dass er Herrenkosmetik nicht nur aus der Lektüre des „Connoisseurs“ kannte und seine Anzüge, wahrscheinlich von einem englischen Schneider maßgearbeitet, wirkten schlicht, elegant und teuer.
Oberflächlich betrachtet, sahen sich Rickman und Parneck nicht einmal unähnlich, fast hätte man sie für Vater und Sohn - oder noch besser, für Brüder - halten können, da Rickman den Altersunterschied durch seine jugendliche Erscheinung ausglich. Auch er hatte sehr kurzes, graues Haar und durchaus vergleichbare Gesichtszüge, wenngleich schärfer und kantiger geschnitten und mit einem Ausdruck von Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen, der Parneck gänzlich fehlte.
Rickman unterstrich dies auch durch seine Kleidung: Wie so oft trug er heute nur den einfachen, schwarzen Overall der Cheops-Besatzung mit dem goldenen, gleichseitigen Dreieck an der rechten Brustseite. Parneck dachte kurz daran, dass der Multimilliardär damit wieder sein bekanntes Steckenpferd ritt - den Traum vom Weltall. Unendliche Weiten und so weiter. Fantasie-Uniformen. Kindisches Getue eines alten Mannes, der sein Geld mit Spielzeug verdient hatte. Unverschämt viel Geld. Und der gut bezahlte. Ihn gut bezahlte. Und dafür konnte man manches tolerieren. Schließlich hatten Rickmans Spinnereien ihn zu dem gemacht, was er heute war.
Spinnereien! Parneck musste unvermittelt an die Zeit zurückdenken, als er noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthalle in Hamburg tätig war. Damals hatte er sich an einem Wettbewerb des Bundesbildungsministeriums beteiligt, den man unter Museumsangestellten deutschlandweit ausgeschrieben hatte. Aufgabe war es, ohne Bedenken auf die Realisierbarkeit, Visionen für eine Museumslandschaft der Zukunft zu entwickeln.
Er wollte zuerst nicht daran teilnehmen, schließlich sandte er aber doch das Exposé einer Idee ein, die ihn bereits seit langem beschäftigte. Er entwarf dabei ein großes Museumsgelände, eine Art Freilichtmuseum, in dem sich Gebäude verschiedener Epochen zu einem grandiosen Überblick über die Kulturgeschichte zusammenfinden sollten: eine Höhle mit Malereien der Steinzeit, ein ägyptisches Grab mit kompletter Ausstattung von der Mumie bis zu den Grabbeigaben, ein griechischer Tempel mit einem riesigem Götterbild in der Cella, eine römische Villa mit Wandgemälden, eine frühchristliche Kirche mit Mosaiken in der Apsis, eine mittelalterliche Burg, ein Renaissance-Palast, ein barockes Schloss, ein feudales Jugendstilhaus, ein Haus der 20er Jahre im Stil des Art Decó, ein unmenschlich-faschistoider Bau des Dritten Reiches, ein Wohnhaus der 50er Jahre mit allen Errungenschaften des beginnenden Wirtschaftswunders - und alle Gebäude sollten bis ins letzte Detail ausgestattet sein mit originalen Kunstwerken und Gebrauchsgegenständen der jeweiligen Zeit, darüber hinaus mit menschenähnlichen Puppen in originalen Kostümen der jeweiligen Epoche, insgesamt eine kulturhistorische Gesamtschau, wie sie noch nie in dieser Zusammenstellung dargeboten wurde, Lehrobjekte von allerhöchstem Rang und dem Reiz des Authentischen ...
„Träumen Sie, Parneck?“, fragte Rickman scharf.
„Äh nein, Sir, natürlich nicht.“ Parneck stand auf. „Was kann ich für Sie tun, bleiben Sie länger auf der Insel?“
„So lange es mir nötig erscheint. Aber bestimmt ein paar Tage. Ich hoffe, die Merkmann hat Erfolg und ich kann den Aufbau des neuen Hauses miterleben.“
Parneck wusste natürlich von den Plänen und er war nicht sonderlich begeistert, dass so kurz vor der geplanten Eröffnung noch ein weiteres Gebäude versetzt werden sollte. Nicht nur das Zusammenfügen der Teile mit all ihren statischen und logistischen Problemen, vor allem die Planung der Innenausstattung, die in diesem Fall fast völlig abhanden gekommen war, konnte nicht so einfach übers Knie gebrochen werden, selbst mit dem Geld und den Verbindungen Rickmans lagen Objekte für ein stimmiges Interieur nicht einfach auf der Straße. Außerdem musste das neue Haus auch in die Veröffentlichungen des Museums eingebunden werden. Die Propaganda-Maschinerie für die geplante Eröffnung war längst angelaufen. Die Entwürfe für Werbung und Kataloge, Einladungen, Prospekte, Plakate und Ansichtskarten lagen schon mehr oder weniger fertig bei den Druckereien. Erste Werbefilme waren bereits produziert worden. Und erst die Figuren - in diesem Fall müssten es mehr als ein Dutzend werden - die konnte Murr auch nicht von heute auf morgen einfach so aus dem Boden stampfen. Das alles brauchte Zeit. Umfangreiche wissenschaftliche Recherchen und Feinarbeit waren erforderlich. Schließlich leitete er, Gero von Parneck, ein kulturhistorisch erstklassiges Museum und nicht eine Geisterbahn oder eine Fantasterei.
Eine Fantasterei - so hatten sie damals seine Ideen abgekanzelt. Erst wurde die „Suche nach Visionen“ großartig aufs Banner geschrieben und dann hatte man seine Ideen als Fantastereien abqualifiziert. Diese Kretins! Parneck hätte den Brief des Ministeriums heute noch auswendig zitieren können, er würde den Wortlaut sein Leben lang nicht vergessen. Blamabel. Mehr als blamabel. Er wusste bis heute nicht, wie Rickman von der Sache erfahren hatte. Parneck hielt die Email zunächst für einen üblen Scherz seiner Kollegen, bis der Multimilliardär dann tatsächlich persönlich vor ihm stand und ihm die Leitung eines Museums anbot. Eines ungewöhnlichen Museums. Nicht viel weniger als die annähernde Verwirklichung seiner Vision. Und damit die Gelegenheit zur Satisfaktion, zur Rache an all den fantasielosen Bedenkenträgern, die ihm völlig unerwartet von Rickman wie auf einem silbernen Tablett serviert wurde.
Parneck hatte akzeptiert. Alle Bedingungen bedenkenlos akzeptiert. Dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, ist ihm erst viel später klar geworden. Rickman als Mephistopheles - das also war des Pudels Kern. Parnecks Beziehung zu Lydia ist damals daran zerbrochen. Seither lebte er nur noch für dieses Projekt.
Sicherlich, die Grundidee, wertvolle originale Gebäude mit ebensolcher Ausstattung auf einem Museumsgelände zusammenzustellen, konnte er mit einigen Abstrichen verwirklichen. Natürlich hatte Parneck damals bei seinem Ideen-Entwurf nicht ernsthaft angenommen, dass man ägyptische Grabkammern und steinzeitliche Höhlen so mir nichts dir nichts herbeizaubern konnte oder dass man tatsächlich existierende Gebäude, wie etwa Kirchen, einfach mal so eben versetzte. Obwohl das Translozieren von Bauwerken bereits im späten 20. Jahrhundert erfolgreich praktiziert worden war, einmal sogar mit einer ganzen ägyptischen Tempelanlage, die man vor der Überflutung durch einen Stausee rettete, indem man sie an einer anderen Stelle wieder aufbaute. Aber das, was heute hier durch Rickmans Geld und Einfluss auf der Insel in der Ostsee entstanden war, kam seinem Traum doch sehr nahe. Aber um welchen Preis! Parneck wurde heute von vielen seiner einstigen Kollegen angefeindet und verlacht - er würde einem Kultur-Disneyland vorstehen.
Die Arbeitsbedingungen waren ihm zunächst ideal erschienen: Er hatte eine der höchstdotierten Stellen im deutschen Museumsbetrieb inne, die Geldmittel, welche die Rickman Foundation für das Projekt bereitstellte, waren astronomisch. Dafür hatte er seine Unabhängigkeit aufgeben müssen, er lebte seither auf dieser Insel, die er nicht nur der Mörder wegen manchmal sarkastisch als „Alcatraz“ zu bezeichnen pflegte - oft kam er sich selbst wie im Gefängnis vor. Meist war er mehr oder weniger nur Befehlsempfänger. Rickman bestimmte, wo es lang ging. Sein Wort war Gesetz.
Und Faust hatte seine Seele verkauft. Amen.
Rickman, der kurze Zeit aus dem Fenster geblickt hatte, um zu kontrollieren, ob die Arbeiten am Jugendstil-Haus endlich der Vollendung entgegen gingen, wandte sich um.
„Nun gut, Nummer Eins, Bericht!“ Parneck zuckte leicht zusammen. Er hasste diesen Star-Trek-Blödsinn, diese infantile Diktion, die Rickman aus dieser von ihm so vergötterten Fernsehserie von Jugendzeit an adaptiert hatte und deren Verwendung er schon gar nicht mehr bemerkte, so sehr war sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Nun gut, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Wie stets würde Parneck nicht weiter darauf eingehen. Er antwortete nur sachlich: „Das Wohngebäude aus dem Fin de siècle ist vollendet, die Überarbeitung des Interieurs wurde gestern abgeschlossen. Es konnten noch eine Tiffany-Lampe und zwei Vasen von Gallé und Poschinger erworben werden, weiterhin wurde das kleine Buntglasfenster in der Belle Etage rekonstruiert. Herr Murr nimmt noch ein paar Feinabstimmungen an einer Figur vor, die ... sich noch nicht richtig einfügt. Aber ich glaube, das ist bereits erfolgreich abgeschlossen.“
Parneck hatte im Satz nur kurz irritiert innegehalten. Rickman registrierte dies sofort, runzelte die Stirn und sah ihn scharf und fragend an.
„Nun, beim Probelauf hat sich ein Sequenzfehler bei der Figur von Geheimrat Liebeneiner offenbart. Er hat versehentlich ... auch sich selbst getötet. So etwas dürfte eigentlich überhaupt nicht vorkommen. Es liegt wohl daran, dass die Varianzmöglichkeit in den Zufallsroutinen zu hoch ist. Ich glaube, wir benötigen einfach noch etwas mehr Zeit, Sir. Der Feinschliff ist von großer Bedeutung, auch für die Sicherheit der Besucher. Außerdem haben wir Probleme mit der Dom-Liga. Sie haben in Bansin am Strand eine Art Basis-Lager errichtet. Sie zahlen sogar Kur-Taxe und tun so, als wären sie harmlose Touristen. Die Polizei hat keine Handhabe gegen sie, aber wir sind sicher, dass die Demonstrationen und kleinen Störaktionen von dort aus geplant und gesteuert werden.“
„Was genau sind das für Leute?“ Der Blick aus Rickmans stahlgrauen Augen wurde noch eine Spur härter.
„Ein bunt gemischtes Völkchen, würde ich sagen. Da gibt es die religiösen Eiferer, die glauben, dass es eine Sünde ist, einen Dom zu translozieren, sie schwafeln etwas von einem ‚Kreuzzug’. Manche halten Sie sogar für den Antichristen.“
Rickman lächelte kalt und Parneck fuhr fort: „Dann sind da die Lokalpatrioten aus Florenz - es gibt eine 'Liga gegen die Translozierung des Domes'. Die wollen sich nicht mit der Kopie zufriedengeben und Sie kennen ja die Italiener mit ihrem Temperament. Das sind die lautesten Schreihälse, wenn es um einen Auftritt vor laufenden Fernsehkameras geht. Und dann existiert da noch eine gemäßigte Fraktion, die einen kulturhistorischen Schaden sieht, wenn das Original des Domes in einem anderen Land steht. Sie haben einen Sprecher, einen gewissen Calaprese, ein durchaus gebildeter Mann, Professor für Philosophie, arbeitet an der Universität in Florenz und gelegentlich beim Goethe-Institut. Er ist auch offiziell für die UNESCO tätig. Ich habe ein Interview mit ihm im italienischen Fernsehen gesehen und auch mehrfach mit ihm korrespondiert. Er ist hauptsächlich dagegen, dass der Dom vom Gotteshaus und kultureller Schatzkammer italienischer Frührenaissance zum Tatort degradiert worden ist. Es gibt auch einige kluge, durchaus erst zu nehmende Artikel von ihm in der Fachpresse.“
Rickman zögerte - für Parnecks Empfinden außerordentlich lange, bis er schließlich sagte: „Ich kenne ihn. Bringen Sie ihn her, ich will mit ihm reden - oder besser noch: machen Sie das. Vielleicht lässt er sich überzeugen, wenn er das Konzept des Museums näher kennenlernt und übt einen mäßigenden Einfluss auf die anderen Gruppen aus.“
„Da sind natürlich noch ein paar ganz unangenehme Trittbrettfahrer, Kriminelle, denen es nur auf Provokation und Randale ankommt und die sich sicherlich nicht um Professor Calapreses Meinung scheren werden.“
„Probieren wir es trotzdem.“
„Gut, ich werde versuchen, ihn zu erreichen. Wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten, Sir“, wechselte Parneck das Thema, „ich halte es nicht für erstrebenswert, so kurz vor der geplanten Eröffnung noch ein weiteres Objekt auf das Gelände zu nehmen. Die Imponderabilien sind groß und ...“
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, fiel ihm Rickman ins Wort, „wenn das neue Haus nicht rechtzeitig fertig wird, dann wird es eben nicht rechtzeitig fertig. Wir eröffnen zum angekündigten Termin und Sie werden das gefälligst hinkriegen. Und sehen Sie zu, dass nichts über Pannen in die Öffentlichkeit dringt ... oder sich offenbart“, er imitierte kurzzeitig Parnecks gewählte Diktion, „Wir haben schon genug Gegenwind, es fehlte noch, dass die Presse schreibt, unsere Besucher liefen Gefahr, hier ermordet zu werden. Wir reden morgen weiter. Kümmern Sie sich sofort um eine Verbindung zu Sanders und dem Bauleiter. Ich brauche den aktuellen Sachstand. Machen Sie ihm nötigenfalls Dampf.“
„Sicher, Sir. Ich kümmere mich selbstverständlich gleich darum.“
„Tun Sie es sofort.“
Mit einem unangenehmen Geräusch zerbrach der metallene Kugelschreiber einer Nobelmarke in Parnecks Hand.
Rickman ging grußlos hinaus. Der Graf fühlte sich elend. Er fragte sich, ob er nicht einen zu hohen Preis zahlte. Er hätte gerne etwas Abstand von den Ereignissen gewonnen, Zeit zum Nachdenken, hätte gerne die Insel wenigstens für kurze Zeit verlassen. Wie lange war er schon hier? Viel zu lange. Drüben am Strand konnte er sich kaum blicken lassen, aber ein Ausflug mit der Cheops nach Dänemark hinüber, das würde ihn locken. Er war noch nie an Bord des legendären Flugschiffes gewesen, er teilte Rickmans Begeisterung für hochtechnische Spielereien nur bedingt. Seit der Aufstellung des ersten Hauses war er nicht mehr weg gewesen. Urlaub war für ihn sowieso ein Fremdwort. Rickman hatte ihm einmal gesagt, er solle froh sein, dort arbeiten zu können, wo andere Urlaub machen wollen.
Freunde hatte er hier nicht gefunden, auch intellektuell adäquate Gesprächspartner waren rar. Mit den hochqualifizierten Technikern hatte er wenig gemeinsamen Gesprächsstoff. Vor allem nicht mit Murr. Der Chef-Ingenieur war nicht gerade ein angenehmer Zeitgenosse. Ein Genie in seinem Fachgebiet, unbestritten, aber in seiner Art irgendwie verbiestert und als Kollege ziemlich indiskutabel. Parneck hätte nie freundschaftliche Gefühle für ihn entwickeln können, selbst wenn er vom gleichen Stand gewesen wäre.
Natürlich waren Murr und sein IT-Team für Parneck von immenser Bedeutung, denn von der Technik der Holo-Figuren verstand der Graf nur wenig, schließlich war er Kunsthistoriker und kein Informatiker. Murr war erst leitend ins Team gekommen, als schon die ersten Holo-Figuren von Dr. Helen Monsheimer ins Klitzke-Haus eingefügt worden waren. Sie verließ dann die Insel, um an anderen Projekten Rickmans in Rimania City zu arbeiten, wo ihr Spezialwissen noch nötiger gebraucht wurde als hier. Leider war sie kurze Zeit später durch einen Unfall ums Leben gekommen.
Die Translozierung dieses ersten Gebäudes auf die Insel hatte Parneck noch selbst geleitet, was jedoch nicht weiter schwierig gewesen war. Das Haus war seit dem Zeitpunkt des Raubmordes nahezu unverändert und in der kompletten Ausstattung erhalten geblieben, ein Glücksfall, dass Rickman es aufgetrieben hatte. Alles sollte an seinem Ort bleiben, nichts durfte verändert oder korrigiert werden. Bei den älteren Gebäuden hingegen mussten oft erhebliche Rekonstruktionen durchgeführt werden. Hier war Parneck in seinem Element, denn hier konnte er Innenausstattungen planen und originale Gegenstände der jeweiligen Zeit in aller Welt erwerben, ohne große Rücksicht auf die Kosten. Für einen Museumsmann ein Ausflug ins Schlaraffenland.
Freilich war das Klitzke-Haus kein kulturhistorisches Highlight, vielmehr ein simpler, typischer Wohnungsbau des späten 20. Jahrhunderts, wie es noch Tausende davon gab, aber immerhin authentisch ausgestattet. Originale Gebrauchsgegenstände aus dieser Zeit waren heute schon recht rar, weil sich wegen ihrer Geringwertigkeit niemand die Mühe gemacht hatte, sie systematisch zu sammeln. Es dauerte immer eine lange Zeit, bis Museen den Wert einer zurückliegenden Epoche erkannten; statt rechtzeitig zu sammeln, hinkten sie oft Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinterher und erwarben dann für teures Geld, was ihre geschätzten Vorgänger einfach im Laden hätten einkaufen können. Wie in diesem Fall: In 200 oder 500 Jahren, wenn man alle anderen Wohnungsbauten dieser Zeit längst durch modernere Neubauten ersetzt haben würde - wogegen keine Denkmalschutzbehörde der Welt einschreiten konnte - dann würden sich manche Museen glücklich schätzen, ein solch durch und durch originales und sozialgeschichtlich aussagekräftiges Exponat zu besitzen.
Parneck fühlte sich völlig überarbeitet. Wenn nur diese ständigen Kopfschmerzen nicht wären, manchmal hatte er Schwindelgefühle, vielleicht vom allgegenwärtigen Blick auf das leicht bewegte Meer. Bisweilen hatte er sogar Schwierigkeiten, sich an weit zurückliegende Ereignisse zu erinnern. Und diese ständigen Alpträume. Wirres Zeug. Oft träumte er, dass ein Mann zu ihm käme, der auf einem Teufelsrochen ritt. Der Mann riss dann Parnecks Kopf auseinander und flüsterte heiser: „Kramarka.“ Parneck hatte gelesen, dass ungewöhnliche Worte in Träumen eine besondere Bedeutung für den Träumenden haben sollen, vor allem, wenn diese mehrfach vorkamen, doch er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Er kannte das Wort nicht, hatte es nie gehört und auch seine diesbezüglichen Recherchen hatten nichts ergeben. Kramarka hatte keinerlei Bedeutung. In keiner ihm bekannten Sprache. Er hatte sogar einmal einen Web-Crawler darauf angesetzt, doch ohne Erfolg.
Parneck verdrängte den Wunsch nach Urlaub und Auszeit und stellte eine Verbindung zu Sanders her.
Rickman öffnete die Tür, auf der „Heinz-Otto Murr - Dipl. Ing.“ stand und fuhr erschrocken zurück. Vor ihm stand ein Hüne von einem Mann in einer silbernen Rüstung und holte mit einem riesigen Schwert zum Schlag gegen ihn aus.
„Dolly!!“, brüllte eine Stimme unter dem Tisch hervor, „Welcher Trottel kann denn da wieder mal nicht anklopfen? Habt ihr denn alle Gehirnerweichung oder seid ihr lebensmüde?“
Ein bärtiger, junger Mann mit gekräuseltem, rotem Haar kroch unter einem mit Computerkonsolen, Messinstrumenten und Kabelverbindungen völlig überladenen Tisch hervor, stieß dabei einen vor Zigarettenkippen förmlich überquellenden Aschenbecher herunter und sah Rickman überrascht an.
„Oh, Dr. Rickman. Ich dachte ... ich wusste natürlich nicht, dass Sie ... ich meine ...“
„Schon gut, Murr, ist ja nichts passiert. Was haben Sie denn hier für einen Recken? Aus der Burg, nehme ich an?“
Dabei betrachtete er missbilligend die verstreuten Zigarettenkippen, deren kalter, abgestandener Rauch das ganze Zimmer erfüllte. Es gab heutzutage nur noch wenige Menschen, die den schadstoffhaltigen Rauch von brennendem Tabak inhalierten und dafür eine geringere Lebenserwartung in Kauf nahmen. Murr gehörte dazu und kultivierte diese Unart. Ohne Zigarette sah man ihn selten an seiner Arbeit.
„Ja, wir haben ein paar Probleme.“
Rickman zog fragend die Augenbraue in die Höhe und Murr fuhr fort: "Wie Sie ja wissen, will Parneck nach Möglichkeit viele der Holo-Figuren in originale, zeitgenössische Kleidung stecken, aber das bringt einige Schwierigkeiten mit sich und hier bei Ulrich geht das gar nicht."
Er zeigte mit der Zigarette auf die Rüstung des Ritters, der seit Rickmans Eintreten wie erstarrt, aber noch immer mit erhobenem Schwert bedrohlich im Raum stand.
„Sehen Sie sich das mal an. Das hier“, er klopfte auf den Brustpanzer, „das ist ein Original-Harnisch von Plattnermeister Anton Pfeffenhauser aus Augsburg, 1565. Hat mal dem Herzog Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar gehört. Parneck hat sie der Kunstsammlung der Veste Coburg abgeschwatzt. Kostet uns insgesamt schlappe 120.000 Euro. Zugehörige Teile hat er nämlich noch in Dresden, Nürnberg, New York und der Wartburg zusammengesucht. Waren seit ewigen Zeiten in der ganzen Welt verstreut. Das Feinste von Feinen. Reinstes Eisen, gebläut, teilweise vergoldet und punziert, mit eingeschwärzten Ätzmalereien. Ist aber nicht flexibel genug. Manche Bewegungen, die der Computer die Figur gerne ausführen lassen möchte, scheitern an der Rüstung. Bei einem Menschen wäre der Bewegungsablauf hier einfach gestoppt, aber unsere Kerlchen haben etwas mehr Mumm, die würden so eine Rüstung einfach zerquetschen.“
Murr hustete heftig und lange. Rickman warf ungeduldig ein:
"Warum scannen Sie nicht die ganze Rüstung und projizieren sie einfach mit? Oder stellen Sie das gute Stück doch als Exponat in den Rittersaal und programmieren Sie ihm ein Kettenhemd oder sonstwas auf den Leib. Ich weiß, dass Parneck um historische Authentizität bemüht ist, aber da entstehen doch praktische Probleme - das haben wir alles schon hundertmal durchgekaut. Schluss damit! Simulieren Sie eine holografische Bekleidung für den Ritter - und auch eine holografische Waffe, keine originale“, entschied Rickman, „Parneck soll da nicht so pingelig sein. Und überhaupt. Ich denke, die Burganlage Wolfsegg ist längst fertig?“
„Fast, Dr. Rickman, ich tue, was ich kann und meine Leute auch. Aber der Tag hat auch für uns nur 24 Stunden."
"Brauchen Sie mehr Leute? Mehr Geld?"
"Nein, nein. Wir treten uns hier ohnehin schon gegenseitig auf die Füße. Es ist einfach die Feinabstimmung. Beim Ritter haben wir noch das Problem, dass sein Charakter sehr aggressiv angelegt ist und die Zufallsroutinen wohl etwas zuviel Spielraum bei den Handlungsparametern lassen. Im Klartext: Er ist ziemlich schnell mit der Waffe bei der Hand und das nicht nur bei den vorgesehenen Opfern. Im Moment geht er fast auf alles los, was wie ein Mann aussieht. Aber wir kriegen das schon noch hin."
Murr nieste heftig und schnäuzte sich in ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch. Rickman fühlte sich nicht wohl in seiner Gegenwart. Er mochte ihn einfach nicht, seine mangelnden Umgangsformen, seine ewigen Erkältungen, sein ständiges Lamentieren über dies und jenes. Aber er brauchte ihn. Murr war einer der besten Informatiker, ein Vollblut-Freak und es gab kein noch so verknülltes System, das Murr nicht wieder zum Laufen brachte. Er war ein wesentlicher Teil des Projektes und hatte darüber sogar seine Dissertation zurückgestellt - wahrscheinlich würde er sie ohnehin nie machen, ihm fehlte einfach der Ehrgeiz dazu. Und er hatte bei Rickman wahrscheinlich für den Rest seines Lebens ein gutes Auskommen. An seinen bisherigen Arbeitsstellen ist er an Reibereien mit seinen Vorgesetzten gescheitert. Mit seiner undiplomatischen Art machte er sich nur wenige Freunde. Eigentlich hatte er gar keine.
"Es ist halt viel Fummelei und da Sie die letzten Geheimnisse ihrer Technologie selbst mir nicht preisgeben, bin ich oft aufs Raten angewiesen, wenn irgendwo etwas schief läuft.“
Murr holte hörbar Luft, hustete und steckte sich eine neue Zigarette an. Dabei übersah er geflissentlich den missbilligenden Blick des Multimilliardärs.
„Apropos Probleme ... Wir haben da noch so eine seltsame Figur in unserer Menagerie ... Darf ich einen Vorschlag machen, Mr. Rickman?“ Ohne dessen Erwiderung auf die rhetorisch gemeinte Frage abzuwarten, fuhr er fort: „Wir sollten dieses Klitzke-Haus verschwinden lassen oder bald durch was anderes ersetzen. Sehen Sie, das Ding ist doch völlig unspektakulär und bringt überhaupt nichts. Architektonisch: Null. Innenausstattung: spießig, Standardware. Der Mord geschah 2009, aber die Einrichtung ist von Anno Tobak, 70er Jahre oder noch früher. Ein wüstes Sammelsurium an Geschmacksverirrungen. Das reißt doch keine Menschenseele vom Hocker! Vielleicht wird das Zeug in tausend Jahren ja mal interessant, aber jetzt ist das alles kalter Kaffee. Das Haus ist das hässliche Entlein unter unseren Bauten. Ich weiß, ich weiß, es war das erste, das hier landete. Vor meiner Zeit, aber darum geht es mir gar nicht. Es ist einfach nicht der Hit.“
Rickman war blass geworden. Nun rötete sich sein Gesicht wieder, jedoch mehr als normal, und seine Stimme klang ungewöhnlich scharf, als er erwiderte: „Der Dom ist auch viel früher erbaut worden und die Einrichtung älter als der Mordzeitpunkt.“
„Ja, schon. Aber das sind Kunstschätze von Rang. Das ganze Klitzke-Haus ist doch ein einziger Flohmarkt-Artikel.“
„Sonst noch was?“ Rickman presste die Lippen aufeinander.
Murr war so beschäftigt, sich wieder die Nase zu schnäuzen, dass ihm die deutlichen Warnsignale in Rickmans Mimik und Sprache völlig entgingen. Unbekümmert fuhr er fort: „Na ja, und was die Handlung anlangt, ist das auch nur billige Dutzendware. Eine nervige alte Frau wird von einem Raubmörder erschlagen, der bis heute nicht gefasst ist. So was kommt alle Naselang vor. Wo ist da der Witz, der besondere Kick für die Leute? Also, ich sehe den nicht.“
„Sie sehen manches nicht.“ Rickman beherrschte sich mühsam, seine Augen waren nur noch schmale Schlitze, doch Murr bemerkte es nicht, weil er gerade die am Boden liegenden Zigarettenkippen aufsammelte.
„Hören Sie, ich sage das ja nicht gerne, aber auch diese Frau Klitzke ist irgendwie inhaltlich nicht ganz stimmig, da gibt es immer wieder seltsame Probleme. Ich habe sie ja nicht programmiert. Ich weiß, die alte Frau war die erste Figur, die Sie für das Museum entwickelt haben und das war natürlich damals eine Riesenleistung - die erste interaktive Figur und gleich mit Zufallsroutinen und Nanostruktur und Steuerung durch die Computermatrix und allem. Hut ab, das macht Ihnen so leicht keiner nach. Die Klitzke ist ja praktisch die Vorlage gewesen für die anderen, daraus modifizierten Figuren, die ich wiederum als Vorlage für meine Schöpfungen nehme."
"Und?", fragte Rickman ungeduldig.
"Ich habe mir diese Frau noch einmal näher angesehen. Sie wissen selbst: Ich kann bei dieser Figur nicht alle Unterprogramme auslesen, die sind größtenteils chiffriert. Ich nehme an, von Ihnen. Ich verstehe nicht, wieso 90 Prozent der Daten für mich gesperrt sind. Nicht, dass ich sie unbedingt bräuchte. Wozu benötigt diese Figur sie überhaupt? Sie werden für den Betrieb gar nicht genutzt. Die anderen Figuren kommen auch mit viel weniger aus, obwohl die Handlung da oft komplexer ist. Der Speicherplatz, den die ungenutzten Daten verbrauchen ist enorm. Wozu? Ich verstehe das nicht!“
„Sie verstehen vieles nicht. Und das brauchen Sie auch nicht. Lassen Sie gefälligst meine Sorge sein, wofür wir Speicherplatz verbrauchen. Und machen Sie endlich die Zigarette aus!“
Murr überhörte die Aufforderung. Er steigerte sich in das Thema hinein.
„Aber da stimmt doch etwas nicht! Das spür ich in allen Knochen. Die wird uns Ärger machen. Auch wenn es ihre erste Figur war, oder vielleicht gerade deswegen - Sie sind da einfach übers Ziel hinausgeschossen. Wenns nach mir ginge, sollten wir die Figur herausnehmen und ersetzen. Sie ist einfach zu komplex. Eine von mir modifizierte, einfachere Kopie würde viel problemloser laufen. Oder noch besser - wir sollten diesen ganzen Klitzke-Mist einfach rausschmeißen ...“
„Herr Murr“, Rickman unterbrach ihn nun mit mühsam unterdrücktem Zorn und die Knöchel seiner geballten Faust traten weiß hervor, „Sie haben hier gar nichts zu wollen! Sie machen gefälligst ihre Arbeit! Lassen Sie ihre Finger vom Klitzke-Haus. Sie haben genug damit zu tun, die anderen Problem rechtzeitig in den Griff zu bekommen. Bald ist die Eröffnung. Es darf nichts schief gehen. Kümmern Sie sich also nicht um Dinge, die Sie nichts angehen. Haben wir uns verstanden?“
Der letzten Satz brüllte Rickman geradezu und Murr zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als die Tür ins Schloss knallte. Er wandte sich kopfschüttelnd seiner Arbeit zu.
Den Alten soll der Teufel holen!
Das wollen wir doch mal sehen, dachte Murr. Dem Tyrannen würde er sein despotisches Getue schon noch austreiben, darauf könne er Gift nehmen! Murr war von der übertrieben heftigen Reaktion Rickmans überrascht. Das war mehr als die Ehrenrettung des allerersten Exponats, an das vielleicht sentimentale, nostalgische Gefühle geknüpft sein mochten. Irgendetwas stimmte mit dem Klitzke-Haus nicht, und er würde schon noch dahinter kommen, so wahr er Heinz-Otto Murr hieß.
Er hatte sich bisher nie besonders um dieses Haus gekümmert. Er war damals noch nicht auf der Insel gewesen, als es versetzt wurde. Um genau zu sein, er saß um diese Zeit noch im Knast, die blöde Geschichte mit dem Pentagon, in dessen geheimes Archiv er sich mit ein paar Kumpels eingehackt hatte - nur so zum Spaß - nur um zu zeigen, dass sie es konnten und was sie alles so drauf hatten. Hätten es dann in der Presse veröffentlichen wollen, so nach dem Motto: junge Computergenies zeigen Löcher im Sicherheitssystem der USA auf, und so weiter. Je raffinierter die Sicherheitssysteme heute auch wurden, die Szene zog mit und Löcher gab es immer. Je komplexer die Systeme, umsomehr Probleme gab es und umso anfälliger wurden sie. Ging aber gewaltig nach hinten los, die Sache damals. Man war ausgerechnet auf Daten gestoßen, auf deren Bekanntwerden die US-Regierung nun so gar keinen Wert legte und die Sache endete schließlich mit einer Gefängnisstrafe für Murr, da er bereits über eine einschlägige Bewährungsstrafe verfügte. Seit der grundlegenden Novelle der weltweiten Internet-Gesetzgebung 2030 war man ziemlich schnell mit drakonischen Strafen bei der Hand.
Murr zündete sich eine neue Zigarette an der alten an. Wie gesagt, war er bislang relativ uninteressiert an dem Haus gewesen; es stand schon fertig da, als er seine Stelle antrat, die Rickman ihm verschafft hatte. An Arbeit mangelte es ihm von Anfang an nicht, allein 67 Holo-Figuren für die Burg, zum Teil komplexe Charaktere, weit über hundert im Dom, insgesamt fast 350 Figuren. Im Klitzke-Haus gab es nur zwei Akteure in der Szenerie, die Frau und den maskierten Räuber - Kaspertheater.
„Avatar-Modus.“
Es erschien eine Männergestalt mit südländischem Aussehen.
„Akte Tatort Nr.1, Haus Klitzke, öffnen.“
Der Avatar bestätigte.
„Primärdaten, akustisch.“
„Erstes Haus des Rickman Museum of Crime Scenes. Translozierung am 20.7.2046. Verantwortlich für die Durchführung: Dr. Gero von Parneck. Verantwortlich im IT-Bereich: Dr. Helen Monsheimer.
Frühere Adresse des Hauses: Burggasse 14, Traunstein, Bayern, Deutschland.
Baujahr: 1970.
Tatzeitpunkt: 17.11.2009.
Tathergang: Marianne Klitzke (geboren am 13.2.1945) wurde um 21.32 Uhr von einem unbekannten Täter in ihrem Haus, wo sie sich alleine aufhielt, überfallen und durch einen Schlag mit einem spitzen Gegenstand auf den Hinterkopf getötet. Der Täter konnte unerkannt entkommen. Die polizeilichen Ermittlungen führten zu keinem Ergebnis. Ende der Primärdaten.“
Das war nicht eben viel, gerade das, was auch der Museumskatalog ausweisen würde, natürlich mit den entsprechenden kulturhistorischen Berichten über das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts und einer dramatisch ausgeschmückten Schilderung des Tathergangs.
„Weitere Daten nennen.“
„Keine weiteren Daten vorhanden.“
„Was? - Das ist ja wohl ein Witz? Unterlagen zur Translozierung aufrufen.“
„Keine Unterlagen vorhanden.“
Das konnte einfach nicht sein, wahrscheinlich waren die Unterlagen in Parnecks Computer gespeichert und der Zentralrechner konnte darauf nicht zugreifen, da sie gesichert waren.
Nun gut, es ging auch anders.
„Eine private Televerbindung herstellen. Zentrales Polizeiarchiv München. Herr Clarence Leibkowitz.“ Wenig später erschien auf dem großen Bildschirm an der Wand die obere Hälfte eines Mannes, der an einem sehr aufgeräumt wirkenden Schreibtisch saß und aussah, als würde er gleich die Fernsehnachrichten verlesen.
„Hallo Clarence.“
„Hallo Heinz, lange nichts von dir gehört. Was gibt es Neues?“, der Mann blickte Murr von der Wand herab fragend und auch ein wenig zurückhaltend an. „Wenn du mal wieder anrufst, heißt das doch wohl hoffentlich nicht, dass du dich wieder in die Nessel gesetzt hast?“
„Ach was, nein, die alten Zeiten sind vorbei, nur eine kleine Anfrage. Ich arbeite doch im Museum an dem Haus, in dem diese Frau Klitzke 2009 umgebracht wurde, wir hatten doch schon mal die Unterlagen von euch.“
„Und?“
„Habt ihr die Akten darüber noch im Computer? Ich müsste da noch ein paar Details herausarbeiten.“
„Ich verstehe schon - du hast sie verschlampt. Soweit ich mich recht erinnere, haben wir euch die Presseberichte und den Polizeibericht damals für euere Recherchen zur Verfügung gestellt. War vor deiner Zeit, da warst du, glaube ich, noch im ... Urlaub. Heißt das, ihr habt den Kram tatsächlich verbummelt?“
„Na ja, so was ähnliches.“
Leibkowitz hatte inzwischen schon einige Befehle über seine Tastatur eingegeben und prüfte das Ergebnis auf dem Monitor. „Hm, einfache Sache ... Raub ... die Frau ist niedergeschlagen worden ... mit Todesfolge ... kein Einbruch - hat den Täter wohl selbst reingelassen ... bis heute unaufgeklärt. Personendaten. Weiter nichts Ungewöhnliches. Was willst du denn damit noch?“
„Kannst du mir einfach alles nochmal mailen, bitte.“
„Na gut, warum nicht, aber pass diesmal besser drauf auf.“
„Mach ich, danke dir, hast was gut bei mir.“
„Tschau.“
Die Verbindung erlosch und Murr holte eine neue Packung Zigaretten aus seiner Jacke. Er ging zu seinem PC, wo die Email aus München bereits eingetroffen war. Er überflog den umfangreichen Textanhang, bis er auf eine Stelle stieß, die ihn interessierte: „Opfer: Marianne Klitzke (geboren am 13.2.1945), verwitwete Scherer, danach wieder verheiratet mit Karl Rieger, nahm, nachdem ihr 2. Ehemann sie 1979 verlassen hatte, wieder ihren Mädchennamen an. 2 Kinder: 1. Tochter: Franziska Scherer (geboren am 3.6.1970), später verheiratete Wollgast, stammte aus 1. Ehe der Marianne Klitzke mit Friedrich Scherer, lebte nur bis 1995 im Haus Burggasse 14, zog dann nach Ingolstadt. Nicht verheiratet, keine Kinder. Starb am 27.7.1997 an den Folgen eines Verkehrsunfalls.
2. Sohn: Thomas Rieger (geboren am 12.4.1979), stammte aus 2. Ehe der Marianne Klitzke mit Karl Rieger, lebte seit 1996 nicht mehr im Haus Burggasse 14, emigrierte später in die USA.“
Murr scrollte den Bericht weiter nach unten und suchte nach der Zusammenfassung über die Untersuchung der Fingerabdrücke des Tatortes, damals steckte die DNA-Analyse noch in den Kinderschuhen. Da!
„Auswertung der Fingerabdrücke vom Tatort Klitzke, Traunstein, Burggasse 14 (17.11.2009): Fingerabdrücke wurden von folgenden Personen gefunden (geordnet nach Spurenquantität): Marianne Klitzke (Opfer), Georg Nadler (Nachbar des Opfers), Friderike Maschner (Freundin des Opfers, fand die Leiche), Thomas Rieger (Sohn des Opfers), sowie drei weitere, nicht identifizierbare Abdrücke.“
Murr nieste wieder einmal heftig und schnäuzte sich. Er ging nachdenklich zum Regal und zog vorsichtig eine große, schwarze Scheibe heraus. Er legte sie in ein antikes Abspielgerät, das auf einem kleinen Tischchen stand. Die Scheibe drehte sich und Murr setzte eine Metallnadel, die an einem Arm angebracht war, dicht neben den Rand. Nach einigem Knacken und Rauschen ertönte die Stimme von Enrico Caruso, der „E lucean le stelle“ sang.
Murr nahm seinen privaten, nicht ganz legal erworbenen MPC aus dem Schrank, der einige Vorteile aufwies. Zum Beispiel war es dank einiger technischer Spielereien nicht möglich, den Standort oder gar den Besitzer des Gerätes zu ermitteln. Er benutzte nur die Tastatur und arbeitete hochkonzentriert etwa eine Viertelstunde, bis es ihm gelungen war, sich in die Datenbank der amerikanischen Einwanderungsbehörde einzuhacken.
Die Zigarette lag im Aschenbecher und brannte langsam ab, ohne dass Murr sich darum kümmerte. Er tippte den Namen „Thomas Rieger“ ein und grenzte den Zeitraum der Suche auf 1995-2005 ein. Augenblicklich erhielt er einen Treffer, der eigenartigerweise als geheim eingestuft wurde. Es kostete Murr viele Flüche und eine weitere Stunde Arbeit, bis er zu den Daten vorgedrungen war und ein hilfreiches Programm gab das Ergebnis gleich in einer erstklassigen Übersetzung ins Deutsche wieder: „Thomas Rieger, geboren am 12.4.1979, Sohn von Karl Rieger und Marianne Rieger, geborene Klitzke. Tag der Einwanderung: 12.2.1997. Ort der Einwanderung: New York. Erster nachgewiesener Wohnsitz: 42. Straße, No. 135, App. 205.“
Murr beschlich eine seltsame Ahnung. Es folgten eine Unmenge interner behördlicher Angaben, die ihn nicht interessierten. Er scrollte fieberhaft nach unten und sein Blick blieb starr an einem der letzten Sätze hängen, so, als könnte er zunächst nicht begreifen, was er da las. Während Caruso seine letzten Töne aus Tosca schmetterte und die Platte dann in der in sich geschlossenen Auffangrille mit einem leisen Klick-Klick-Klick ewig weiter im Kreis zu laufen schien, sprang ihn ein Name an: „Bei der Einwanderung angenommener, amerikanisierter Name: Tom Rickman.“
Bingo! Der Sohn des Opfers war Rickman persönlich und das lauschige Häuschen, das heute so friedlich auf dem Museumsgelände stand, nichts weniger als - sein Elternhaus.
Natürlich war der Name sicherlich ziemlich häufig, aber das Zusammentreffen konnte kein Zufall sein, auch wenn auf jeder Internet-Seite über Rickman nachzulesen war, dass er in New York geboren und als Findelkind in einem Waisenhaus unter deutscher Leitung aufgewachsen sei. Nun, für genügend Geld konnte man sich bestimmt auch wasserdichte Lebensläufe kaufen. Aber der hier war nicht wasserdicht genug.
Murr begriff nun, wieso Rickman so überaus wütend reagiert hatte, als er ihm vorschlug, das Haus zu entfernen. Fast tat es ihm jetzt ein wenig Leid. Sentimentaler alter Trottel! Das sah ihm natürlich wieder mal ähnlich. Es hätte ja einer denken können, er wäre zu menschlichen Regungen fähig. Augenscheinlich legte er keinen gesteigerten Wert darauf, der Welt seine Herkunft zu offenbaren. Man konnte verstehen, dass er nicht gerne öffentlich mit der Tragödie in Verbindung gebracht werden wollte. Aber warum hatte er dann das Haus hier in das Museum gebracht - wahrscheinlich sogar nur deswegen das Museum überhaupt aufgebaut? Wollte er auf diese skurrile Art seiner getöteten Mutter ein ewiges Andenken bewahren? Nein, das wäre alles zu absurd.
Vielleicht gab es dafür noch einen anderen Grund. Murr stutzte und rief noch einmal den Polizeibericht auf. Da war doch noch etwas ... hatte er es nicht irgendwo gelesen? Er scrollte noch einmal durch den Text zur Analyse der Fingerabdrücke. Hier war es: Thomas Rieger! Murr hatte sich nicht getäuscht. Wie kamen Rickmans Fingerabdrücke zum Tatzeitpunkt ins Haus, wo er sich doch bereits seit Jahren in den Staaten aufhielt?
Murr hob die Zigarette vom Boden auf, wo sie ein Loch in den Teppichboden gebrannt hatte. Da stinkt doch was, dachte er und schnäuzte seine gerötete Nase, da stinkt doch was gewaltig. Er würde sich diese Frau Klitzke noch einmal genauer ansehen ...