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Kapitel 6

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Rimania City, Antarktis, 5. Mai 2049

Rickman stand vor der Wand eines kleinen, eher unscheinbaren Raumes seiner Kunstsammlung, tief im Eis der Antarktis. Einige Skizzen mit raffiniert gedrehten und verkrümmten Figuren des manieristischen Kupferstechers Jacques Bellange hingen an den Wänden, denen er aber im Moment keine Beachtung schenkte.

Er drückte seinen Daumen auf ein kleines Feld von nur geringfügig unterschiedlicher Färbung, das ein uneingeweihter Beobachter wohl gar nicht wahrgenommen hätte. In der Wand bildete sich in Augenhöhe langsam eine eigenartig geformte Vertiefung, die immer mehr das Aussehen eines Gesichtes annahm, bis es eine frappierende Ähnlichkeit mit ihm hatte und eigenartigerweise aus der Wand hervorzutreten schien. Selbst Rickman, der den Effekt kannte, war immer wieder fasziniert davon, dass das menschliche Gehirn ein nach innen geformtes Gesicht so wahrnahm, als sei es plastisch nach außen gestülpt. Es kostete ihn stets ein wenig Überwindung, entgegen dieses Eindrucks sein eigenes Gesicht in den Hohlraum hineinzuschieben. Dort wurde die Retina seines Auges von Sensoren abgetastet und eine Reihe weiterer Parameter gemessen und mit den gespeicherten Referenzwerten verglichen. Als der Computer ihn absolut zweifelsfrei identifiziert und als zugangsberechtigt erkannt hatte, glättete sich die Vertiefung wieder.

Es gab außer ihm nur noch eine weitere Person, die der Computer als zugangsberechtigt eingestuft hätte. Aufgrund ihres Fingerabdrucks auf dem Wandfeld hätte sich ein anderes Gesicht als Hohlform gebildet.

Doch diese zweite Person wusste nichts davon.

Noch nicht.

Rickman hoffte, es würde niemals nötig sein, dass sie davon erfuhr.

Die Wand fuhr zur Seite und gab eine Rolltreppe frei. Als er sie betrat, setzte sie sich sofort in Bewegung und stoppte 18 Meter tiefer vor einem ebenso hohen, quadratischen Raum, dessen fugenlose Wände aus mattem, schwarzem Metall bestanden. Seine Seitenlängen betrugen exakt neun Meter. Ein weicher, schwarzer Bodenbelag dämpfte jeden seiner Schritte, kein anderer Laut war zu hören.

Das schwache, diffuse Licht tauchte die Göttin in ein mystisches Halbdunkel. Er hob den Blick. Obwohl er wusste, was ihn erwartete, war der Anblick jedesmal von neuem faszinierend.

Vor ihm erhob sich bedrohlich die zwölf Meter hohe Gestalt einer Frau in einer antiken Rüstung. An ihrem Arm lehnte eine lange Lanze mit silbern blitzender Spitze, ihre Hand stützte sich auf einen fünf Meter hohen, bronzenen Rundschild, hinter dem eine gewaltige Schlange hervorsah. Auch von der Brust der Kriegerin züngelte ein Gewirr von Schlangen, die das Haar eines abgeschlagenen Kopfes bildeten. Ihr goldener Helm mit den Wangenklappen war bekrönt von einem Sphinx und beidseitig von je einem geflügelten Pegasus.

Jedem unvorbereiteten Besucher hätte beim Anblick dieser lebensecht wirkenden Kolossalstatue der Atem gestockt. Doch es gab hier keine unvorbereiteten Besucher. Es gab hier überhaupt keine Besucher. Hierher gelangte nur Rickman. Und das genügte ihm.

Die zuverlässigen Hilfskräfte, die unter höchster Geheimhaltung den Transport dieses einzigartigen Kunstwerks bewerkstelligt hatten, ließen sich damals freiwillig und gegen eine großzügige Abfindung ihr Wissen mit modernsten technischen Mitteln aus dem Gedächtnis löschen. Das war humaner, fand Rickman, als die Methode der Pharaonen, die alle Mitwisser um ihre Schätze kurzerhand mit eingemauert hatten.

Die gigantische Skulptur aus der Blütezeit der griechischen Antike war ein Meisterwerk des Bildhauers Phidias und galt für die Menschheit seit langem als verschollen. Nur noch kleine Marmorkopien und Beschreibungen in der antiken Literatur zeugten der kunsthistorischen Wissenschaft heute von ihrem einstigen Aussehen.

Schon im späten 5. Jahrhundert nach Christus wurde sie von einem römischen Kaiser geraubt und nach Konstantinopel verschleppt, wo sie 1204 bei den Plünderungen im 4. Kreuzzug verschwunden sein soll. Natürlich war dies eine Lüge. Figuren dieser Größe verschwanden nicht einfach so. Wie Rickman vor einigen Jahren richtig vermutet hatte, wollte damals ein mächtiger Mann dieses einzigartige Kunstwerk ganz für sich alleine besitzen, so, wie jetzt Rickman. Und er kannte ihn und seine Nachfolger. Wem hätten es die christlichen Kreuzritter wohl bringen können? Rickman lächelte. Den gegenwärtigen Amtsinhaber hatte er überzeugen können, dass eine heidnische Göttin nicht ganz so gut zur ideellen Ausrichtung seiner Institution passte und bei ihm, Rickman, doch viel besser aufgehoben sei. Er lächelte wieder, als er an die Einzelheiten des Deals dachte, der sicherlich zu den außergewöhnlichsten gehörte, die der Vatikan je abgeschlossen hatte - und das wollte etwas heißen! Ein fairer Tausch: eine Figur gegen die andere. Die Figur einer heidnischen Göttin aus Gold und Elfenbein gegen die Figur eines Stellvertreters Christi auf Erden aus Licht und ein paar Atomen mit dem passenden Aussehen - für viele Gelegenheiten. Quid pro quo.

Die Athena Parthenos! Nun besaß er sie allein! Ihr Anblick war sowieso nicht für jeden gedacht gewesen. Sie stand einst im Parthenon, dem größten Tempel auf der Akropolis von Athen, jedoch in der Cella, tief im Innern des Tempels, verborgen hinter dicken Mauern, die man im Innern der nach außen so luftig und offenen anmutenden griechischen Säulenarchitektur gemeinhin nicht vermuten würde.

Nur die Priester durften die Cella betreten und der Eindruck, den das riesige Götterbild in seiner Lebensechtheit auf sie gemacht haben mag, muss gewaltig gewesen sein.

Gesicht und Hände waren aus poliertem Elfenbein gearbeitet, die Fingernägel aus Silber. Aus den lebendig scheinenden Augen aus hellem Elfenbein blickten dunkle, glänzende Pupillen, die aus Regenbogen-Obsidianen geschliffen worden waren. Im Schein der Fackeln musste es damals ähnlich ausgesehen haben wie heute - als würden sie von innerem Feuer leuchten und den Betrachter mit ihrem Blick bis in jeden Winkel des Raumes verfolgen.

Athena! Die Göttin der Weisheit und der Kunst, aber auch des Krieges und der Strategie. Hier stand sie als Kriegerin. Der an der Hüfte gegürtete Peplos, der bis zum Boden reichte, war aus Goldplatten kunstvoll zusammengefügt. Über 1150 Kilo reines Gold waren in ihrer Kleidung, den Sandalen und dem Helm verarbeitet. Die Ägis, ein Schulterumhang aus Ziegenfell, den sie über dem Peplos trug, konnte der Mythologie zufolge Blitze und Donner schleudern und war mit einem Gorgonenhaupt verziert, dessen Schlangen sich im dämmrigen Licht zu bewegen schienen und der Sage nach jeden, der sie ansah, zu Stein erstarren ließen. Zu ihrer Rechten stand eine Marmorsäule mit einer kleinen, aber nach menschlichen Maßstäben immerhin noch überlebensgroßen Gestalt der Siegesgöttin Nike.

Doch Athena war auch die Göttin der Künste und der Wissenschaften gewesen. Rickman schätzte diesen Dualismus sehr, diese Synthese aus brutaler Gewalt und Schöngeistigkeit, vereint im Sieg. Macht und Schönheit. Darauf hatte auch er sein Leben aufgebaut. Keine Kompromisse, im einen wie im andern nicht. Auch sie war nie eine Liebesbeziehung eingegangen, darum ihr Beiname „Parthenos“, die Jungfräuliche. Auch Rickman ist keine Beziehung eingegangen, bis auf einmal, bis auf seine angebetete Margeritte, seine heilige Blume, wie er sie nannte, aber das war lange her. Das Schicksal hatte es anders gewollt.

Athena hatte viele Beinamen getragen, so auch „die Unüberwindliche“. Rickman wusste, dass auch die als unüberwindlich titulierte Schutzgöttin der Stadt Athen die Einwohner vor ihren Feinden nicht hatte beschützen können. Nicht einmal sich selbst. Mit dem Untergang der griechischen Kultur hatte sie den Status ihrer Göttlichkeit noch für eine kurze Zeit ins römische Reich hinüberretten können. Die Römer adaptierten die Religion der Griechen für sich, wobei sie den Göttern einfach neue Namen gaben: aus dem Göttervater Zeus wurde Jupiter, die Liebesgöttin Aphrodite erhielt den Namen Venus und Athena verwandelte sich in die römische Minerva.

Eine komplexe Religion repräsentierte er, der griechische Götterhimmel mit seinen Machtspielen und Intrigen. Dem Gläubigen wurde allerhand zugemutet: Athena soll eine Tochter des Zeus und der Metis gewesen sein, die mit zwei Kindern schwanger war. Da man Zeus weissagte, die Tochter würde ihm ebenbürtig werden, der Sohn aber würde ihn stürzen, verschlang der Göttervater kurzerhand die Mutter seiner ungeborenen Kinder. Als ihn daraufhin große Kopfschmerzen plagten, befahl er Hephaistos, den Gott der Schmiede, ihm seinen Kopf zu spalten. Aus dem Haupt entstieg, in voller Rüstung, Athena.

Wer es glauben mag, wird selig, dachte Rickman.

Auch mit der Seele, so wusste er, war es bei den Griechen kompliziert: Sie unterschieden zwischen einem Geist, der den Toten verlässt und in den Weltgeist eingeht und einer individuellen Seele, die von Hermes, dem Psychopompos, als Führer in die Unterwelt geleitet wird, nachdem der Tote vom finsteren Fährmann Charon über den Styx gerudert worden war. Die Götter richteten über die Seele nach den Taten des Verstorbenen und entschieden, ob diese in die Elysischen Gefilde, einem Paradies von unermesslicher Freude und Glückseligkeit, eingehen durfte oder für ewig ein trostloses Schattendasein im Hades führen musste, in steter Sehnsucht nach dem früheren Leben.

Die komplexe Religion der Griechen versank schließlich im Orkus der Geschichte. Eine Religion voll Geschichten, die von Gewalt und Mord erzählten. Niemand fragt heute mehr nach ihr, sie ist Schulstoff und Allgemeinwissen, eignet sich bestenfalls noch für Fragen in den unzähligen Spielshows der privaten Fernsehsender. Ihre einst hoch verehrten Götter hatten ausgedient, wurden von Christentum, einer Religion mit kaum weniger unlogischen und unglaublichen Geschichten, hinweggefegt, so, wie sie gewesen waren: despotisch, selbstherrlich, launisch, unberechenbar, sadistisch, unbeherrscht, unmoralisch und mordlüstern.

Ein Spiegelbild der Menschen.

HOLO-TOD

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