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Kapitel 1
ОглавлениеRimania City, Antarktis, 30. April 2049
Tom Rickmans Büro lag in der Antarktis, nahe dem Marie-Byrd-Land, in Richtung zum geographischen Südpol. Besser gesagt, es lag unter dem Eis der Antarktis. Und Büro war wohl der falsche Ausdruck für den riesigen, fensterlosen Raum mit den vier wandfüllenden Bildschirmflächen, die auf Wunsch dreidimensional und täuschend echt das Aussehen einer festen Mauer, einer Unterwasserlandschaft oder eines Ausblicks in den Weltraum annehmen konnten, meist aber Landkarten, Diagramme oder Nachrichtensendungen aus aller Welt zeigten. Kommandozentrale wäre die treffendere Bezeichnung, denn von hier aus steuerte Rickman sein weltweites Firmen-Imperium, leitete seine zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsprojekte und koordinierte die Ankäufe für seine gigantische Kunstsammlung.
Momentan zeigten die Wandflächen des Raumes nichts als ein sanftes, angenehmes Weiß. Rickman saß an einem Schreibtisch, der nur aus einer großen, ovalen Platte aus satiniertem, schwarzem Glas bestand, die auf zwei dünnen, fast unsichtbaren Säulen ruhte, welche aus der Nähe wie zerstoßenes Eis aussahen. Das ungewöhnliche Möbelstück war ein Entwurf des weltbekannten, zeitgenössischen Künstler Claas Vanraedam, dessen Werke Preise von mehreren Millionen Euro erzielten.
Ansonsten war der Raum fast leer. Schubladen oder Schränke suchte man vergebens, bei Bedarf ließ der Computer die benötigten Elemente aus dem Boden hochfahren. Sämtliche Kontroll- und Bedienungselemente, die Rickman brauchte, konnten durch einen akustischen Befehl holografisch über und auf der Tischoberfläche projiziert werden. Selbst Beleuchtungskörper fehlten. Die Decke strahlte in einem gleichmäßigen, hellen Blaugrau, das dem Tageslicht entsprach und den Eindruck erweckte, als würde sich über dem Raum, der in Wirklichkeit in vielen Metern Tiefe lag, ein freier, wolkenloser Himmel öffnen. Manchmal brauchte Rickman das Gefühl, das ihm leere, weite Räume mit einfachen Strukturen vermittelten, um über komplexe Sachverhalte nachdenken zu können.
Er atmete die kühle, klare Luft, deren feine Nuancen - von alpin bis mediterran - vom Umwelterhaltungssystem ganz nach Wunsch aus hunderten von Komponenten zusammengestellt werden konnten. Heute bevorzugte Rickman einen kaum wahrnehmbaren Hauch frischer Bergamotte.
Er gab dem Computer den Befehl, die vier Wandflächen in eine Live-Ansicht der Außenwelt zu verwandeln. Die Illusion war mehr als perfekt. Man hätte glauben können, Rickman säße an seinem Schreibtisch inmitten einer sonnenbeschienenen, endlosen Eislandschaft. Er schätzte die meist ereignislose, weiße Fläche, die sein Domizil bis zum Horizont umgab. Oft war er es müde, seine Augen und seinen Geist mit überflüssigem Ballast zu belasten, den er gleichwohl durch seinen Reichtum fast unvermeidlich um sich herum ansammelte. Denn natürlich genoss er auch die Annehmlichkeiten, die sein extremes Vermögen mit sich brachte und die exklusiven Dinge, mit denen er sich oft in verschwenderischer Fülle umgab. Er zweifelte nicht, ein Recht darauf zu haben, schließlich hatte er sich dies alles hart erarbeitet - er allein. Sein früheres Leben hatte anders ausgesehen. Ganz anders.
Rickman war jetzt 70 Jahre alt, aber unvoreingenommene Beobachter hätten ihn auf höchstens Mitte 50 geschätzt. Sein kurzgeschorenes, graues Haar und die stahlgrauen Augen, die ihr Gegenüber stets aufmerksam und meist etwas überheblich fixierten, standen in attraktivem Kontrast zu der glatt rasierten, sonnengebräunten Haut seines immer noch faltenlosen Gesichts. Die dünnen Lippen wirkten hart und kennzeichneten einen Menschen, der gelernt hatte, sich durchzusetzen und der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Auch seine geschmeidigen, kraftvoll wirkenden Bewegungen ließen nicht auf sein wahres Alter schließen.
Dies kam nicht von ungefähr. Nicht nur, dass er seit Jahrzehnten eisern ein strenges Fitness-Programm absolvierte und sich nach einem wissenschaftlich ausgearbeiteten Plan ernährte, es stand auch ein ganzes Team von Fachärzten und Physiotherapeuten sowie Heilpraktiker, Reiki-Meister, Fachleute für alte chinesische Medizin und sogar ein Schamane rund um die Uhr zu seiner persönlichen Verfügung. Für Notfälle gab es in der riesigen Station eine mit den neusten technischen Errungenschaften eingerichtete Klinik und einen Operationssaal, welcher dem der Charité in Berlin in nichts nachstand. Im Gegenteil. Seit dem Kollaps der staatlichen Gesundheitssysteme in den meisten Ländern und der fast weltweiten Abschaffung der Krankenkassen zugunsten einer „eigenverantwortlichen Vorsorge“ - wie es damals euphemistisch in der politischen Propaganda hieß - waren erstklassige medizinische Dienstleistungen sowieso nur noch den Begüterten zugänglich und Rickman leistete sich auch hier das Beste vom Besten.
Während er den Blick über die beruhigende Eintönigkeit seiner Umgebung schweifen ließ, dachte er an einen Aphorismus von Oscar Wilde, den er sehr schätzte. Wilde hatte einmal geschrieben, er habe einen einfachen Geschmack – immer nur das Beste.
Rickman lebte nach diesem Motto. Die riesige Station, die er sich nach eigenen Plänen von einem Heer von Experten hatte bauen lassen, glich einer Festung. Einer sehr komfortablen Festung allerdings, denn es fehlte hier an keinem nur erdenklichen Luxus. Es gab sogar parkähnliche Gärten unter dem ewigen Eis. Mit immensem technischem und energetischem Aufwand war unter anderem eine Südseelagune mit üppiger Vegetation nachgebildet worden - ein Paradies, bei dem nur der strahlend azurblaue Himmel mit seinen sanft dahinziehenden, weißen Wölkchen auf einer optischen Illusion beruhte.
Als man 1959 im Antarktis-Vertrag den unabhängigen politischen Status des Gebietes um den Südpol festgeschrieben und kein Staat der Erde klassische Territorialansprüche geltend gemacht hatte, wurde die Nutzung für friedliche und wissenschaftliche Zwecke gestattet, eine Klausel, die Rickman für sich zu nutzen verstand. Er beanspruchte im Jahre 2041 mit Billigung der UNO ein mehr als 70.000 Quadratkilometer großes Gebiet, was etwa der Fläche von Bayern entsprach, und errichtete darauf eine Forschungsstation. Er startete umfangreiche wissenschaftliche Projekte, welche die Möglichkeit menschlicher Siedlungen in einer 4500 Meter dicken Eisschicht testen und die Auswirkungen des Klimawandels auf die Südpolregion und die gesamte Erde mit neuartigen Messtechniken untersuchen sollten.
Seine Forschungsergebnisse überließ er allen Staaten der Erde uneingeschränkt und kostenlos. Darüber hinaus gab es in Rimania City, wie er die Station - das Zentrum seines Landes - nannte, bestens ausgestattete wissenschaftliche Labors mit Gästesuiten, die Forschern aus der ganzen Welt für unterschiedlichste Projekte frei zur Verfügung standen. Hochintelligenten jungen Menschen gewährte er großzügige Stipendien und Bildungsmöglichkeiten ohne Ansehen ihrer Herkunft und ohne lange zu fragen, ob ihre Forschungsziele "sinnvoll" seien, denn auch er hatte seine beispiellose Karriere auf Visionen aufgebaut, die fantasielose Bedenkenträger zunächst als Spinnereien abgetan hatten, bis er sie eines Besseren belehrte. Den Stipendiaten wurde auch gestattet, interdisziplinär Forschungseinrichtungen der Station zu nutzen und sich überall frei zu bewegen.
Fast überall.
Auf diesen großzügigen Gesten baute Rickman ein diplomatisches Bravourstück auf: Er wandelte seinen Besitz in einen Kleinstaat um, der von allen Mitgliedsstaaten der UNO zunächst rechtlich und politisch geduldet, später jedoch offiziell als souverän anerkannt wurde, wobei reichlich Geld geflossen sein soll. Seit die klassischen Staatengebilde des 20. Jahrhunderts von einer wirtschaftlichen Krise in die nächste schlitterten und vor allem Geld - viel Geld - brauchten, um ihre bankrotten Staatshaushalte zu sanieren oder wenigstens die Zinsen ihrer gigantischen Schuldenberge bedienen zu können, legte man Verträge und internationale Vereinbarungen oft etwas großzügiger aus und war manchem Ansinnen begüterter Zeitgenossen aufgeschlossener als früher.
Tom Rickman hatte mit der Gründung seines Staates Rimania den Status eines Staatsoberhauptes über seine mehr als 1500 dort ständig lebenden Mitarbeiter erlangt und konnte daraus international etliche Privilegien ableiten, die ihm bei seinen Plänen und profitablen Geschäften äußerst dienlich waren und seinen ohnehin immensen Einfluss noch vergrößerten.
Sein Blick ruhte immer noch auf der glitzernden Eisfläche.
Er dachte an Mord. Genauer gesagt, an ein Haus, in dem zehn Morde geschehen waren. Und an sein Museum, in dem dieses Haus und die darin begangenen Gewaltverbrechen gezeigt werden sollten.
Er telefonierte. Hierzu sprach er einfach in den Raum hinein, der Computer sorgte für die nötige Verbindung und garantierte deren akustische Qualität.
„Krämer, nehmen Sie Kontakt zu Merkmann in Hamburg auf. Übergeben Sie die vorbereiteten Unterlagen und betonen Sie die Priorität der Mission. Sanders soll alle juristischen Probleme erledigen und im Erfolgsfall die sofortige Translozierung des Gebäudes veranlassen. Er hat alle Vollmachten. Ich erwarte schnelle Ergebnisse.“
„Wie Sie wünschen, Dr. Rickman.“
Das Gespräch war damit beendet. Rickmans Anweisungen waren wie immer klar und unmissverständlich. Rückfragen erübrigten sich wie stets. Seine persönlichen Assistenten erwarteten von ihm keine Höflichkeitsfloskeln oder gar eine Verabschiedung.
Die Schiebetüren des geräumigen Lifts in Rickmans Büro schlossen sich lautlos, nachdem er die Kabine betreten hatte. Ausschließlich von hier aus - und dies war nur wenigen Menschen bekannt - konnte man bis in das 13. Stockwerk der riesigen Station hinunterfahren.
Diese Etage barg das Allerheiligste, in das der Multimilliardär nur besonders auserwählte Gäste führte: seine Kunstsammlung. Unnötig zu erwähnen, dass es sich um die größte private Kunstsammlung der Welt handelte und nur Institutionen wie der Louvre oder die Vatikanischen Museen konnten es an Qualität und Quantität mit dieser Kollektion an Schätzen aufnehmen. Wenn überhaupt. Rickman hatte mehrere große Privatsammlungen aufgekauft sowie einige komplette kommunale Museen, die aus Mangel an öffentlichen Geldern schließen mussten. Finanzschwache Länder, wie etwa Ägypten, veräußerten Spitzenstücke aus ihren staatlichen Museen, um soziale und humanitäre Projekte zu finanzieren und wenigstens die dringendsten Probleme in den Griff zu bekommen, wobei Rickman sich stets äußerst großzügig zeigte. Er beschäftigte weltweit zahlreiche Agenten, die ständig nach neuen Optionen Ausschau hielten. Sie boten als Strohmänner für ihren Auftraggeber bei Auktionen, kauften für ihn verdeckt im offiziellen Kunsthandel, aber auch auf dem Schwarzmarkt und sogar von dubiosen Schatzsuchern, die es mit den örtlich geltenden Bestimmungen zum Schutz von Kulturgut nicht so genau nahmen.
Gestohlene Objekte erwarb Rickman jedoch grundsätzlich nicht, und er gab auch keine Diebstähle oder Einbrüche in Auftrag. Er achtete die Gesetze so gut es ging, legte manche Bestimmung und Verordnung aber oft großzügig aus, wenn er deren Sinn in Frage stellte. So gab es Menschen und Behörden, die meinten, ein Kunstwerk müsse an seinem Ursprungsort verbleiben. Doch wo wären heute die herrlichen Parthenon-Friese eines Phidias, wenn nicht die Briten sie vor langer Zeit mehr oder weniger illegal aus Athen fortgeschafft hätten? Man konnte sie immer noch im Britischen Museum in alter Pracht bewundern, während die beklagenswerten Teile, die am Tempel auf der Akropolis verblieben, schon am Ende des 20. Jahrhunderts von den Autoabgasen der Millionenstadt bis zur Unkenntlichkeit zerfressen gewesen waren.
Rickman hatte moralisch kein Problem damit, bedeutende Kunstwerke der Menschheit zu erhalten, indem er sie der Menschheit vorenthielt. Hier unten, tief im antarktischen Eis, lagerten unermessliche Schätze, die Kunsthistoriker in aller Welt das Staunen gelehrt hätten.
Er erreichte die unterste Etage.
„Letztes Stockwerk. Eine Weiterfahrt ist nicht möglich“, hörte er die Computerstimme.
„Weiterfahren. Autorisation Riker alpha.“
Rickman lächelte. So alt er auch sein mochte, er hing immer noch an seinen Jugenderinnerungen, vor allem an den Science-Fiction-Serien, die er damals regelrecht verschlungen und denen er letztlich seine berufliche Karriere und seinen heutigen Status zu verdanken hatte: Innovativster Erfinder. Reichster Mann der Erde. Staatsoberhaupt von Rimania und schon bald - Nobelpreisträger.
Die Metalltüren glitten leise zur Seite und gaben den Blick auf einen schier endlos langen Korridor frei, von dem zahlreiche weitere Räume abzweigten. Ein dunkelgrauer, weicher Bodenbelag dämpfte seine Schritte. Das Licht war schwach und erhellte sich automatisch nur in den Räumen, die ein Besucher durchschritt.
Die Luft roch auch hier frisch und angenehm. Relative Luftfeuchtigkeit und Temperatur waren optimal auf die jeweiligen Objekte abgestimmt und wurden vom Computer ständig überwacht und korrigiert.
Rickmans Ziel war ein ganz bestimmter Raum. Vier großformatige Ölgemälde hingen hier, jedes an einer der Wände: Eine grausige Enthauptung des Holofernes, ein David mit dem blutenden Haupt des Goliath in der Hand, eine Darstellung von Abraham, der gerade seinen Sohn Isaak mit einem Messerstich opfern will, und an der Stirnseite Rickmans Lieblingsbild. Alle gemalt von einem der großartigsten und extremsten Künstler, den das frühbarocke Italien hervorgebracht hatte.
Hierher kam Rickman oft, und das kleinste der Bilder, vor dem er nun stehengeblieben war, gehörte zu denen, die er immer und immer wieder wie aus einem inneren Zwang heraus betrachtete - dabei aber jedesmal erneut voller Genuss. Gewiss gab es in seiner großen Sammlung kunsthistorisch Bedeutenderes und künstlerisch Wertvolleres, etwa das monumentale Gemälde der Anghiari-Schlacht von Leonardo da Vinci - ein wunderbares, kraftvolles Motiv, von dem alle Welt glaubte, dass davon nur ein nie vollendetes und nach kurzer Zeit wieder übermaltes Wandgemälde im Palazzo Vecchio in Florenz existiert hätte, von dessen Aussehen heute nur noch einige Skizzen eine schwache Vorstellung vermittelten.
Keines der über dreitausend Gemälde hier war beschriftet, denn Rickman wusste auch so, wer sie gemalt hatte und welche Geschichten sie erzählten. Ein Beschriftungsschild hätte den ästhetischen Genuss beim Betrachten des Kunstwerkes gemindert. Im Bedarfsfall hätte der Computer auch auf Zuruf über jedes Objekt erschöpfend Auskunft geben können. So auch über dieses.
Caravaggio. Die Stigmatisierung des Hl. Franziskus. Gemalt für eine kleine Kirche in Triest: Santa Maria in Valletta. Als Rickman davor stehenblieb, entstand neben dem Gemälde aus dem Nichts eine holografische Figur mit dem Aussehen von Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, anhand von Selbstbildnissen des Malers vom Computer rekonstruiert.
Während Rickman in einem bequemen Fauteuil Platz nahm, blickte er dem Künstler in die Augen.
In die Augen eines Mörders.
Es war ein herrliches Bild, 92 cm hoch und 128 cm breit, das viele Jahre in der später abgerissenen Kirche hing, bevor es durch die Wirren des 2. Weltkrieges über viele Hände in amerikanischen Privatbesitz geriet, wo Rickman es aufkaufen ließ. Ein geniales Meisterwerk, gemalt von einem Mörder.
Und nicht nur das - es erzählte auch die Geschichte seines Mordes.
Rickman betrachtete das Bild so genau, als sähe er es heute zum ersten Mal: Vor einem fast schwarzen Hintergrund, der nur durch ein paar fahle, vegetabile Elemente belebt ist und in der Mitte mit wenigen hellen Strichen den nahen Morgen erahnen lässt, liegt diagonal hingestreckt die Gestalt des Heiligen Franziskus. Die braune Kutte hüllt ihn fast ganz ein, nur ein bloßer Fuß und die beiden Hände ragen hervor. Von den Stigmata, den Wundmalen Christi, die der Heilige gerade empfangen haben soll, ist eigenartigerweise nichts zu bemerken, die Handflächen sind wie zufällig nach innen gedreht. Nur ein kleiner Riss in der Kutte über der rechten Brust gibt dem kundigen Gläubigen einen Hinweis auf das soeben Geschehene. Der Kopf liegt zurückgesunken, die Augen sind geschlossen, die Gesichtszüge kraftlos, ja leblos. Oberkörper und Kopf ruhen im Schoß eines jungen Engels, der sich zu Franziskus hinabbeugt und ihn sinnend, jedoch eigenartig betrübt betrachtet.
Wenn man ganz genau hinsah, wie Rickman es jedes Mal tat, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Heilige nicht etwa überwältigt vom mystischen Geschehen in eine tiefe Ohnmacht gefallen, sondern tot war.
Rickman war überzeugt davon, dass Caravaggio unter dem Deckmantel der Schilderung eines Wunders aus der Franziskus-Legende hier in Wirklichkeit ein Verbrechen zeigte.
Sein eigenes Verbrechen.
Der Engel, der sich über den Toten beugt, ist Caravaggio selbst, die Ähnlichkeit mit der aus den Selbstbildnissen generierten Holo-Figur war unübersehbar, die leblose Gestalt des Heiligen hingegen trägt die Züge von Rannuccio Tommasoni aus Turin, den der Künstler 1606 im Streit erschlagen hatte und daraufhin aus Rom geflohen war.
In diesem Bild verarbeitete der damals 36jährige Caravaggio dieses traumatische Erlebnis, stellte sich selbst und sein Opfer der ganzen Welt vor Augen, indem er das Gemälde an die Kirche Santa Maria in Valletta verkaufte. Jedem Gläubigen, der das Gotteshaus besuchte, führte das vielbestaunte Meisterwerk Caravaggios dessen chiffriertes Geständnis vor Augen.
Wollte er, dass alle Welt es sah? Dass die Öffentlichkeit Zeuge seiner Tat wurde? Seine Bekümmerung darüber erkannte, die sich subtil in den Gesichtszügen des Engels spiegelt? Strafte er sich dadurch selbst? War es seine Art der Sühne?
Oder wollte er öffentliche Aufmerksamkeit, wie mancher Serienkiller? War es gar nur freche Eitelkeit, überheblicher Spott über die Unfähigkeit der Justizbeamten, denen er von der Kirchenwand herab eine lange Nase drehte?
Oder wollte er vielleicht unbewusst einen Hinweis auf seine Schuld geben, um gefasst und angeklagt zu werden? Um endlich gestehen zu können, sich von dem Druck der Selbstvorwürfe zu befreien und endlich, endlich Ruhe zu finden?
Stellte er vielleicht sein Verbrechen in einem Gotteshaus dar, unter den Augen des Allmächtigen, um dessen Gerechtigkeit und Gnade zu erflehen? Oder verhöhnte er mit seinem Geniestreich auch Gott und die katholische Kirche?
Konnte ein so begnadetes Genie wie er überhaupt ein Mörder sein? War dies seine Entschuldigung? Gab er darum seiner Schuld eine so großartige, eine so überirdisch schöne Form, die man einfach nur staunend bewundern musste und um derentwillen man nicht anders konnte, als ihm sein aufbrausendes Temperament, seine spontane Tat zu verzeihen?
Bestimmt hätte ein Psychologe die narzisstische Persönlichkeitsstruktur Caravaggios viel besser und wissenschaftlich fundiert erklären können.
Doch Rickman konnte ihn verstehen!
Er kannte diese Mischung aus Genialität und Mangel an Selbstbeherrschung, die morbide Vorliebe für das Schreckliche, die blinden Wutanfälle jenen gegenüber, die nicht verstanden und auch nicht verstehen wollten. Caravaggio versuchte seine Tat zu sühnen, indem er sie der ganzen Welt offenbarte. Und gleichzeitig erhob er sich durch die Großartigkeit der Darstellung geistig über die, die ihn nicht begreifen konnten, stellte sich mit seinem Genie einer höheren Gerechtigkeit als der irdischen. Kein Mord - Totschlag vielleicht, ein Anfall von Wut, ein Unfall, ein grausamer Zufall. Zur falschen Zeit am falschen Ort.
Genug.
Das Hologramm Caravaggios erlosch, als Rickman den Raum verließ.
Der Multimilliardär betrat wieder sein Büro und wies den Computer an, eine Karte des Museumsgeländes auf einer der Wandflächen zu zeigen. Augenblicklich erschien eine farbige 3D-Graphik, die aus der Vogelperspektive eine kreisrunde, offensichtlich künstlich angelegte Insel im Meer zeigte, die langsam um ihr Zentrum rotierte. Der eingeblendete Maßstab zeigte an, dass ihr Durchmesser etwa 600 Meter betrug.
Auf der Insel standen sechs Gebäude, die in leicht rötlicher Einfärbung von den anderen abgehoben waren. Eines, mit der Grundrissform eines lateinischen Kreuzes, brachte es auf stattliche 153 Meter Länge, ein zweites, mit verschachteltem Grundriss, stand ihm hierin deutlich nach. Drei weitere hatten hingegen nur die Ausmaße von Wohnhäusern, während ein weiteres, wieder etwas größer, von zwei Nebengebäuden flankiert wurde.
Bläulich eingefärbt waren das Verwaltungsgebäude mit dem angebauten Trakt der technischen Labors, das Wohnhaus des Personals, Hotel, Restaurant, Souvenirshop, Werkstätten und einige Lagerhäuser, die etwas abseits lagen.
Der Hubschrauberlandeplatz und die beiden Terminals mit den Landungsstegen am Ufer waren grün gekennzeichnet.
In fahlem Gelb stellte die Grafik die unterirdischen Anlagen dar, welche viele Stockwerke in den Meeresboden hinabreichten und die unglaublichen technischen Möglichkeiten des Museums erahnen ließen, über die bald weltweit Staunen herrschen würde.
Rickmans Blick verweilte zufrieden auf der Darstellung, dann sagte er mit leicht erhobener Stimme: „Die Cheops startklar machen. Wir fliegen nach Usedom.“
Die akustischen Sensoren des im Raum integrierten Computersystems erfassten seine Äußerung in Sekundenbruchteilen. Der Rechner erkannte sie als Befehl und gab sofort die entsprechenden Anweisungen. Fast augenblicklich erschien mitten im Raum ein Hologramm in Gestalt einer jungen, sehr attraktiven, schwarzhaarigen Asiatin und gab mit angenehm modulierter, leicht gutturaler Stimme die Bestätigung: „Die Cheops ist startklar, Sir. Die Flugzeit wird drei Stunden und 16 Minuten betragen.“
Die Startklar-Meldung war im Grunde überflüssig. Die Cheops war rund um die Uhr startklar. Dafür sorgten drei Pilotenteams, die sich alle acht Stunden abwechselten, ebenso wie ein halbes Dutzend Techniker und Servicepersonal.
Während Rickman mit dem Aufzug nach oben zum Hangar fuhr, liefen die Triebwerke einer fantastischen Maschine an - die der Cheops.
Sie war ein von ihm weitgehend selbst entwickelter Prototyp und mit der Bezeichnung „Flugzeug“ - oder in Rickmans Diktion „Flugschiff“ - nur unzureichend beschrieben. Sie war in vielerlei Hinsicht einzigartig. Kein Staat der Erde wäre finanziell und technisch in der Lage gewesen, ein solches Fluggerät zu bauen. Die Cheops konnte sogar Ausflüge bis in die Höhe der Van-Allen-Gürtel unternehmen und dabei deren Strahlung trotzen oder als U-Boot den Druck in Tiefen noch jenseits von 10.000 Metern standhalten.
Als sich die Lifttür öffnete, sah Rickman das mattschwarze Ungetüm vor sich. Obgleich - zumindest offiziell - ohne Bewaffnung, machte sie einen furchteinflößenden Eindruck und ihre Hülle aus Titan und speziellen Legierungen, die einer Panzerung gleichkam, hätte dem Bombardement modernster Kampfjets mühelos widerstehen können.
Sie glich einem riesigen, gleichseitigen Dreieck, das sich an einer Seite wie das gefräßige Maul eines Urzeittieres zur Mitte hin aufwölbte und dort die Triebwerke barg. Die Außenkanten schienen von weitem von beängstigender Schärfe zu sein, in Wirklichkeit jedoch immer noch gut einen Meter stark. Die Seitenlängen lagen bei jeweils 120 Metern, die Höhe bei beachtlichen 27 Metern. Die Oberfläche war nicht glatt, wie man auf den ersten Blick meinen konnte, sondern facettiert wie ein unregelmäßig geschliffener Brillant.
Captain Janette de St.Fleur sah Rickman über die unsichtbar integrierten Außenkameras kommen, denn selbst das Cockpit war ohne Fenster. Ihre Crew hatte längst die Plätze eingenommen. Fast alle trugen schwarze, elegant geschnittene Overalls mit einem goldenen, gleichseitigen Dreieck auf der rechten Brustseite. Der berühmte italienische Modeschöpfer Gianlorenzo Albertinelli hatte die Uniformen exklusiv für die Cheops-Besatzung entworfen. Eine weiße Lederkombination mit schwarzem Dreieck war dem jeweiligen Kommandanten vorbehalten.
Den Amerikanern hatte Rickman über seine unerschöpflichen Verbindungen, die in alle Kreise der Politik, des Militärs und der Geheimdienste reichten, die neusten Entwicklungen der Stealth-Technologie abgekauft und in das Konzept seines Flugschiffs integriert. In vielen Fällen flog die Cheops daher außerhalb der Erfassbarkeit durch Radar oder auch durch das menschliche Auge, denn durch eine neuartige Lackierung auf der Grundlage von Carbonyl-Eisen-Ferrit und einer zusätzlichen Plasmaschicht, die es ermöglichte, die Farbe der Hülle beliebig zu wechseln und dem jeweiligen Hintergrund anzugleichen, konnte sie sich auch optisch nahezu unsichtbar machen.
Die Cheops war auf der ganzen Welt bekannt und wo immer sie bei Starts oder Landungen kurz im sichtbaren Bereich auftauchte, verrenkten sich die Leute die Hälse, um sie für Sekunden zu bestaunen, bevor sie in den Wolken oder am Boden in speziellen Hangars verschwand, die auf den großen Flughäfen der Welt eigens für sie gebaut worden waren. Natürlich wurden die zuständigen Behörden über die meisten Flüge der Cheops informiert, denn entlang ihrer Routen gab es stets vermehrt Meldungen über angebliche UFO-Sichtungen - die aufgeregten Anrufer wurden von den offiziellen Stellen jedoch nur nachsichtig über ihren Irrtum aufgeklärt.
Die meisten Menschen kannten die inzwischen legendäre Maschine aus vielen Dokumentarsendungen des Fernsehens oder aus dem Internet. Sie war der Star in Comics und Zeichentrickfilmen und fast jedes Kind hatte ein 3D-Modell oder ein Hologramm von ihr im Zimmer und träumte davon, einmal mit ihr zu fliegen oder sie gar als Pilot selbst zu steuern. Allerdings war das Kommando über die Cheops weniger romantisch und abenteuerlich, als viele es sich vorstellten, denn die meisten Vorgänge wurden von einem Autopiloten erledigt. Ein Triebwerksschub von mehr als 500 kN wäre von einem Menschen allein nicht mehr zu beherrschen gewesen. Die genaue Art der manuellen Steuerung blieb jedoch Rickmans Geheimnis – nicht das einzige der Cheops. Speziell entwickelte, computergesteuerte Andruckabsorber sorgten für das Wohlbefinden der Passagiere auch bei extremen Beschleunigungen und Geschwindigkeiten weit über der Mach-Grenze. Wie weit darüber, wussten nur Rickman und einige Techniker von Rimania City.
Sie war nicht nur ein technisches Wunder - sie war auch sein zweites Zuhause. Ohne jemandem zu begegnen, suchte Rickman seinen privaten Raum an Bord auf. Hier erinnerte nichts daran, dass man sich in einem Flugschiff befand. Der großzügig bemessene, hohe Raum mit seiner hölzernen Kassettendecke war mit dunklen Mahagonimöbeln und Bücherregalen ausgestattet, auf denen erlesene Kunstwerke und wertvolle Antiquitäten, darunter ein Fernrohr aus dem Besitz von Galilei, standen. An der Wand hingen einige zauberhaft leichte Pastell-Skizzen von Degas. Eine Gruppe heller Lederfauteuils versank geradezu in dem dicken Teppich, der jedes Geräusch angenehm dämpfte. Gegen den Maschinenlärm waren alle Räume ohnehin absolut schalldicht isoliert. Man hätte meinen können, sich auf einem abgelegenen englischen Landsitz zu befinden. Wenn Rickman es gewollt hätte, würden die Wandbildschirme sogar die Illusion von großen Fenstern erzeugen, die den Ausblick in eine weite, sonnige Parklandschaft freigaben.
Die Medienbibliothek des Schiffes konnte nahezu alle je gedrehten Kinofilme auf Zuruf abspielen sowie Millionen Musikstücke jeglichen Genres. Sie verfügte über ein umfassendes Archiv mit Hunderttausenden von Fernsehsendungen weltweit und konnte auf alle jemals digitalisierten Bücher oder Schriftstücke zugreifen und diese sogar akustisch präsentieren.
Rickman ließ das Nocturne in G-Dur von Chopin in der Interpretation von Rubinstein abspielen und entspannte sich.
Ein luxuriöses Schlafzimmer mit allem Komfort, eine Sauna, ein Dampfbad, ein Trainingsraum und ein Pool gehörten ebenso zur Ausstattung der Cheops wie eine geräumige Bar mit echtem Kamin.
Das Flugschiff konnte mehr als 300 Tonnen Nutzlast befördern. Im riesigen Frachtraum, in dem mehrere Panzer vom Typ Leopard III spielend Platz gefunden hätten, befanden sich normalerweise ein Power-Boot, ein schnelles Motorrad sowie eine Enduro-Maschine, ein Geländewagen vom Typ Hummer, eine große Lincoln-Stretch-Limousine neuster Bauart und ein 1985 gebauter, roter Ferrari Testarossa, der als Oldtimer mehr denn je Aufsehen erregte, wo immer er auftauchte, wenngleich sein Benzinmotor auch oft die Gemüter umweltbewusster Menschen erregte. Das exklusivste Fahrzeug an Bord war ein von BMW 2048 gebauter Pandora SX15, von dem es in dieser Version nur ein einziges Exemplar auf der Welt gab.
Bei Unglücksfällen und Naturkatastrophen in aller Welt hatte Rickman die Cheops schon häufig für humanitäre Hilfsaktionen wie Evakuierungen oder Lebensmitteltransporte zur Verfügung gestellt, jedoch Anfragen diverser Regierungen zu militärischen Kriseninterventionen stets strikt abgelehnt.
Warum die Cheops diesen geheimnisvollen Namen trug, wusste nur Rickman selbst. Die schmalen Lippen des Multimilliardärs verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Die Weltöffentlichkeit hätte wohl ein Gesprächsthema mehr, sollten seine Gründe je bekannt werden.
Doch diese sollten Rickmans Geheimnis bleiben. Ein kleines nur, denn die Festung unweit des Südpols verbarg noch weitaus größere. Geheimnisse, die er sich mit seinem Geld erkauft hatte. Es gab nichts, was man für Geld nicht kaufen konnte.
Fast nichts.
Er hob die Stimme:
„Gibt es Nachrichten vom Nobelpreis-Komitee?“
„Nein, Sir, immer noch nicht.“
Die Frage war überflüssig gewesen, man hätte ihn selbstverständlich sofort informiert. Er ärgerte sich über seine Ungeduld.
Die Cheops glitt lautlos aus dem Hangar und ließ bereits wenig später die Antarktis hinter sich. Nachdem sie eine Flughöhe weit oberhalb der gängigen Flugrouten erreicht hatte, beschleunigte sie scheinbar mühelos auf Mach 4.