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4 Drache in der Höhle

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Freitagabend. Ich war zeitig losgefahren, die Kinder abzuholen. Bei meiner Ankunft in Mainz war es dunkel. Es war das erste Mal seit über eineinhalb Jahren, dass ich die Wohnung meiner Frau betreten würde. Zum letzten Mal war ich im August 2004 hier gewesen, zu jenem grauenvollen „begleiteten“ Umgang. Damals hatte die „Entführungshypothese“ meiner Frau einen normalen Umgang verhindert. Damals hatte jede Versöhnung wie ein undenkbarer Traum angemutet. Doch nun schien sie vollzogen – und normaler Umgang möglich.

Tatsächlich?, wunderte ich mich.

Ich parkte den Wagen vor dem Haus, in dem meine Frau wohnte. Konzentriert überprüfte ich den Sitz meines Haars im Rückspiegel (wie ein Halbgott sah ich wieder aus!), stieg aus, und ging zur Haustür. Ich fühlte mich mulmig, starrte auf die Klingel.

Immer noch die zweite von unten auf der rechten Seite. Und noch immer stand da „Max, Moritz & Magnolia Zucker“. Von daher also nichts Neues. Ich fasste mir ein Herz und klingelte. Vielleicht würde es ja diesmal klappen!

Nach einem Moment hörte ich Schritte im Treppenhaus. Die Holztür vor mir öffnete sich und da stand sie: Meine noch–Frau! Schön wie ehedem! Und wie ehedem Claudia Schiffer pur!

Lächelnd neigte sie ihren Kopf zur Seite, strich sich elegant durch das lange blonde Haar, und sagte:

„Die Kleinen packen gerade ihre Sachen. Sind schon ganz ungeduldig, dass du endlich kommst, die beiden Möpse.“ Ich schmunzelte. Mit gedämpfter Stimme fuhr sie fort: „Dann gehen wir besser schnell nach oben, dass sie nicht noch irgendein Chaos anrichten. Kennst sie ja.“

Wir begaben uns nach oben. Ich ging hinter ihr. Sie trug an diesem Tag eine graue Stoffhose, die ihren Hintern hervorragend in Szene setzte. Ich wunderte mich, warum ich diesen betrachtete. Inzwischen wollte ich wirklich nichts mehr von ihr. Und von ihm auch nicht. Aber dieser Hintern, der war exquisit. Prall und edel gerundet, nicht zu klein und nicht zu groß. Wie ein Pärchen Honigmelonen! Ich mutmaßte, es sei schlicht das Kennerherz, das meinen Blick an diesen süßen Früchten kleben lasse. Oder der Umstand, dass ich auf der Treppe hinter ihr ginge und sich nur ihr Hintern auf meiner Blickhöhe befinde. Sollte ich etwa auf den Boden schauen? Oder rückwärts die Treppe hochgehen? Nein, dann fiele ich ja um! Und ginge sie, meine Frau, rückwärts die Treppe hoch, ...

Endlich waren wir auf gleicher „Blickhöhe“ und betraten die Wohnung. Ich hörte Max‘ und Moritz‘ Stimmen aus einem Zimmer am Ende des Flurs. Meine Frau drehte sich zu mir um, flüsterte, die Kleinen hätten nicht mitbekommen, dass ich geklingelt hätte, und lud mich zwinkernd und mit einer Winkbewegung der Linken ein, mich dem Schleichmodus ihres Gangs anzuschließen. Lautlos und nur von gelegentlichem Knarren des alten Parkettbodens unterbrochen, näherten wir uns dem Zimmer, und blieben vor der Tür stehen.

Die Kinder knieten auf dem Fußboden und fummelten eifrig an ihren Köfferchen herum. Die Koffer kannte ich noch aus Austin. Sie waren mit Spiderman– beziehungsweise Batman–Motiven bedruckt. Die Knirpse räumten hochkonzentriert Sachen ein und wieder aus und schienen noch nicht die richtige Systematik für das Packen gefunden zu haben.

„Sind sie nicht putzelig?“, flüsterte meine Frau mir zu.

„Ja, das sind sie!“, hauchte ich, und wandte meinen Blick wieder auf die Kinder.

Wie bei unserem letzten Treffen, im November 2005 in den Räumen des Kinderschutzbundes (nach wie vor belustigte mich diese geschmeidige Phrase: „in den Räumen des Kinderschutzbundes“), erschienen mir die beiden noch so klein und goldig wie zu Zeiten, als wir in Austin gewohnt hatten. Die gleichen Pausbäckchen, die gleichen Stupsnasen. Max hellbraune Haare standen in alle Himmelsrichtungen, und dem kleinen Moritz klebten die blonden Strähnen verschwitzt an Stirn und Schläfen. Die beiden mussten gerade gerauft haben.

„Schaut mal, wer da ist!“, rief meine Frau plötzlich.

Max und Moritz blickten auf. – Und sie strahlten und es ertönte „Papa!“ wie aus einem Munde. Wuselig sprangen sie auf, rannten auf mich zu und hopsten mir in die Arme. Max in den rechten, Moritz in den linken – wie üblich. Ich hatte mich gebückt, um ihnen den Einstieg in ihren „Sitz“ zu erleichtern. Nachdem sie sicheren Halt gefunden hatten, erhob ich mich mit ihnen und lupfte sie rhythmisch auf und ab, während wir erzählten und ich mit ihnen im Zimmer umherging. Sie hielten sich dabei an meiner Nase und meinen Ohren fest. Dieses Hüpfen auf meinen Armen mochten die Kinder sehr. Wir pflegten uns auf diese Weise zu begrüßen. Rituale halten sich.

„Mama hat gesagt, wir dürfen bei dir schlafen.“

„Zwei Tage“, näselte ich.

„Und bei Oma Flora?“

„Klar.“

„Wir müssen jetzt aber nicht gleich ins Bett.“

„Nein, ihr könnt ja morgen ausschlafen. Ein Stündchen können wir schon noch spielen.“

„Au ja. Spielen wir dann ‚Drache in der Höhle‘?“

Dies war ein Spiel, das ich mit den beiden in Austin nach dem abendlichen Zähneputzen gespielt hatte. Ich wunderte mich, dass sie sich daran erinnerten. Das Spiel eröffneten wir damit, dass ich mich in einer Höhle verstecken musste, die ich aus Couchpolstern gebaut hatte. Max und Moritz waren die Ritter, die den Drachen (mich) mit ihren (Plastik–)Schwertern erlegen mussten, was natürlich gefährlich war, denn der Drache hatte lange Fangarme, mit denen er die Ritter in die Höhle zerren konnte, um sie dort genüsslich zu verspeisen. Wir spielten den „Drachen in der Höhle“ meist solange, bis die Ritter rote Köpfe hatten oder es meiner Frau zu bunt wurde. Danach gingen die Kleinen ins Bett und bekamen von mir eine Gutenachtgeschichte zum Abkühlen und Einschlafen erzählt.

„Logo“, antwortete ich, „Heute Abend spielen wir den ‚Drachen in der Höhle‘.“

„Au ja.“

So ging es eine Weile. Meine Frau lehnte, die Arme verschränkt, am Türrahmen und betrachtete das Treiben, bis sie sagte:

„So. Jetzt macht mal, dass ihr loskommt! Es ist schon spät.“

Wir packten zusammen und brachen auf. An der Wohnungstür (die Knirpse stürmten schon mit ihren Köfferchen die Treppe hinunter und ich sah ihnen besorgt nach) sagte meine Frau:

„Ich fahr mit den Kids über Weihnachten zu meiner Großmutter nach Cuxhaven. Können wir dann mal unseren zweiwöchigen Besuchsrhythmus ändern? Was hältst du davon, wenn du die beiden zum Ausgleich dann schon nächstes Wochenende wieder hast.“

Ich war erstaunt über diese mir inzwischen fremde Großmut, rief nach unten „Nicht auf die Straße gehen!“ (die Kleinen schienen sich an die Anweisung zu halten) und antwortete meiner Frau:

„Kein Problem. Geht klar.“ (Ich lugte nach unten. Max und Moritz rauften, was mich beruhigte. Meine Frau sagte:)

„Gut. Dann kannst du sie ja dann wieder am Freitagabend bei mir abholen, halt. Oder ist das dann zu eng für dich, wenn du dann aus Dänemark kommst?“

Dem wieder einmal beeindruckenden Partikelgebrauch meiner Frau widmete ich in diesem Moment keine Aufmerksamkeit (ohnehin hatte ich mein Partikelbüchlein nicht zur Hand!), denn ihre Satzaussage erschreckte mich. Ich glaube nicht, dass ich blass wurde, als ich mir die Ursache meines Schreckens vor Augen führte:

Klar, Magnolia wusste ja nicht, dass ich nicht mehr in Kopenhagen arbeitete!

Ich fing mich sofort und vergegenwärtigte mir, dass unsere derzeitige Situation Verstrickungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle bot! Lügen wollte ich nicht. Ich verabscheute Lügen. Sicher sah ich die Notwendigkeit, dass man nicht immer „die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ verkünden konnte, und zwar vor allem nicht, wenn man sich dadurch schadete. Aber lügen war für mich obsolet. Ich half mir in verzwickten Lagen damit, die Wahrheit kompakt und situationsgerecht unter Auslassung unnötiger Teilaspekte zu schildern (ein Kugelfisch ist ein Kugelfisch, egal ob ausgestopft, aufgeblasen oder froh–besinnlich im Meer treibend!). Redundanzen lagen mir nämlich auch nicht. Und falls erforderlich, konnte man auf die später immer noch zu sprechen kommen („aufgeblasen“ also). Ganz sauber war dieser Ansatz freilich nicht, für mich indes in besagten Notlagen grenzwertig akzeptabel. Kurzum, die mir aktuell gestellte Frage war grenzwertig, doch leicht zu beantworten, denn losfahren würde ich ja schon aus Skagen „vor Freitagabend“ (wenn auch mit einem „kleinen“ Umweg), und Skagen lag in Dänemark:

„Freitagabend dürfte kein Problem sein. Weiß noch nicht genau, wie mein Zeitplan ist. Aber Freitag geht klar.“

Ich verabschiedete mich von meiner Frau, gesellte mich zu den Kleinen, die sich unterdessen an den Ohren zogen, und ging mit ihnen zum Wagen. Glücklicherweise hatte ich die Neugierde der Kinder, was meine Leben in Dänemark anging, schon während des begleiteten Umgangs in den Räumen des Kinderschutzbundes befriedigt. Von daher waren also – vermutlich – keine Komplikationen zu erwarten.

Im Wagen fragten mich die Kleinen, ob wir jetzt wirklich zu Oma Flora führen. Sie hingen sehr an meiner Mutter und hatten sie zwei Jahre nicht mehr sehen dürfen. (Meine Frau hatte meine Mutter dereinst in ihr „Maßnahmenpaket zum Schutze der Kinder“ mit aufgenommen.) Die Kinder freuten sich riesig über meine Mitteilung, sie könnten heute wirklich bei Oma Flora übernachten.

Wir besprachen unsere Pläne für das Wochenende. Natürlich wollten sie wieder in ein Vergnügungsbad. Max tendierte wegen des Kannibalendorfs zum „Rebstockbad“, Moritz hingegen äußerte ob der Regenbogenrutsche und des Riesenspuckdelfins klare Präferenz für das „Taubertsbergbad“. Wir einigten uns auf einen Kompromiss: Samstag „Rebstockbad“, Sonntag „Taubertsbergbad“. Ich war stolz: Meine Jungen waren schon richtig groß und vernünftig geworden!

In Höningen war ich erst einmal abgemeldet. Die Kinder spielten mit meiner Mutter. Sie mimte das Pferd und ritt sie abwechselnd und zuweilen zusammen durch die Wohnung. Nach dem Abendessen war Bett angesagt. Den „Drachen in der Höhle“ mussten wir allerdings noch spielen. So wurde aus der geplanten Stunde eine Doppelstunde bis zum Schlafengehen.

Zur guten Nacht musste ich aus Traditionsgründen „Das tapfere Schneiderlein“ erzählen. Irgendwann wachte ich zwischen meinen Knubbelchen auf, Max in meinem rechten, Moritz in meinem linken Arm. Wie üblich. Und wie üblich waren die Kleinen aufgedeckt. Ich deckte sie zu, gab ihnen ein Küsschen auf die Stirn, zwickte ihnen in die Bäckchen, drückte ihnen auf die Stupsnäschen, und ging nach oben.

Meine Mutter war schon im Bett. Ich goss mir ein Glas Wein ein und begab mich damit nach draußen, um im Garten zu spazieren. Es war kalt und windig, was ich genoss. Und ich wünschte mir, dass meine Frau sich an unsere Abmachung halten würde. Irgendwie glaubte ich es in diesem Moment sogar. Meine Frau musste doch sehen, dass Max und Moritz ihren Vater haben wollten. War das nicht wichtiger, als all mein Geld aus mir herauszusaugen und mich zu demütigen?

Ich dachte an die Geburten der Beiden. An die Sorgen, die wir uns gemacht hatten, wenn sie als Säugling zu viel geschrien hatten und wir völlig aufgelöst mitten in der Nacht in die Ambulanz gerannt waren, wo man uns freundlich darauf hingewiesen hatte, dass Blähungen kein Grund zur Sorge seien. Ich dachte auch an unsere Pläne für die Zukunft unserer Kinder. An unsere Mühen, die richtige Schule und den richtigen Kindergarten für sie in Austin zu finden. Wir hatten uns vor der Trennung immer gemeinsam um die Kinder gekümmert, immer ihr Interesse im Zentrum unserer Überlegungen behalten. Bestand ein Grund, dass dies nach der Trennung anders würde? Meine Gedankengänge waren banal, aber ich schöpfte Hoffnung aus ihnen. Schließlich hatte sich meine Frau in den vergangenen beiden Tagen einwandfrei verhalten!

Ich war in dem Wäldchen angekommen, in dem ich mit den Kleinen bei unserem letzten Treffen in Höningen, im August 2004, das Baumhäuschen angefangen hatte. Ich hatte in diesem Wäldchen jedes Bäumchen selbst gepflanzt. Zwölf Jahre war ich damals alt gewesen und die Bäumchen waren alle angegangen und groß und stark gewachsen. Schön hätte ich es mir vorgestellt, wenn wir in diesem Wäldchen ein Baumhäuschen bauen würden. Ich mit meinen Jungs! Schon im März 2004 hatte ich es ihnen versprochen. Im August hatten wir es nicht fertigbekommen und es war nur ein „Gerippe“ geworden. Dieses stand noch unberührt da, bleich und schneebedeckt. Es hatte die Zeit bis jetzt schadlos überstanden. Das haben wir wirklich gut gemacht, damals!, dachte ich. Ich musste das Projekt unbedingt wieder mit den beiden in Angriff nehmen, unbedingt das Häuschen fertigbekommen. Sobald es im Frühling wärmer würde. Vielleicht war das unsere letzte Chance. Für das Häuschen. Ich leerte meinen Wein und ging ins Bett.

Das Wochenende mit den Kindern war wunderschön, nur leider wie im Flug vorbei. Am Sonntag gab ich sie bei meiner Frau ab. Wir bestätigten den Besuchstermin für das nächste Wochenende. Sie vergewisserte sich:

„Gut. Also bleibt es bei Freitag so gegen sieben?“

„Ja.“

„Fährst du jetzt direkt nach Dänemark oder schläfst du die Nacht bei deiner Mutter?“

Auch bei dieser Frage kein Problem, noch nicht mal grenzwertig: „froh–besinnlich treibend“, der Kugelfisch. Ich antwortete also:

„Ich fahr direkt los“, und ergänzte, ebenso wahrheitsgemäß: „Hab morgen einiges vor.“

„Na, dann mal gute Fahrt“, lächelte sie, „Tschüs dann.“

„Tschüs“, nickte ich, und wunderte mich nicht zum ersten Mal über das Faible meiner Frau für die Partikel „dann“.

Die Methode Cortés

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