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New York, Mai 2003 Christina
ОглавлениеDie zehn Stunden im Flieger hatten Christina gutgetan. Sie hatte fast vier Stunden fest geschlafen und die restliche Zeit über Notizen und Unterlagen gebrütet. Der Mittelplatz links neben ihr war frei geblieben und der junge Mann am Fenster hatte während des Fluges kaum einen Mucks getan, sich ab und zu kichernd in T.C. Boyles Africa-Epos „Water Music“ vertieft oder vor sich hingeschlummert.
Wieder und wieder musste sie die alten Fotos betrachten und in dem Stapel alter Schulhefte stöbern. Christina hatte sie vor einigen Wochen in einem Karton im Nachlass ihrer Großmutter gefunden. Es waren ihre Tagebücher und sie reichten zurück bis ins Jahr 1936, als sie gerade mal 10 Jahre alt war und endeten Mitte 2002, einige Wochen bevor sie starb. Die Lebenslinie konnte man an der Handschrift über die Jahrzehnte hinweg ablesen, von der schnörkeligen, Stil suchenden Schrift der Kindheit bis zur geübten geradlinigen Hand einer erwachsenen Frau. Erst die Eintragungen der letzten Monate waren von ihrem Krebsleiden gezeichnet, zittrig, zuletzt kaum noch lesbar. Die Kriegsjahre 1940 bis 1945 fehlten zwar, aber die abenteuerlichen Geschichte ihrer Flucht aus Köln waren in einer Kladde des Jahres 1946 nacherzählt. Christina hatte Hinweise gefunden, dass die Oma Ihre Tagebücher aus der Kriegszeit auf ihrer Flucht hatte zurücklassen müssen. Christina war froh, dass sie während ihres Studiums einen Lehrgang in Sütterlin absolviert hatte. Die Einträge der ersten Jahre waren in dieser kompliziert aussehenden deutschen Schrift verfasst, erst später war ihre Großmutter zu der normalen lateinischen Schreibschrift übergegangen.
Christina war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, der sie und ihre Mutter zwar schon vor langer Zeit verlassen und einen Lehrauftrag in Pennsylvania angenommen, aber dennoch einen nicht geringen Einfluss auf die Erziehung und ihre geistige Entwicklung genommen hatte. Sie hatte an der State University Europäische Geschichte und Geographie studiert und nebenbei intensiv Deutsch gelernt.
„Frieden finden .…“ – so lautet der letzte Eintrag in den Tagebüchern; ohne Datum, die Sehnsucht einer Sterbenden. Von ihrer Mutter wusste Christina, dass Oma Michaela Liesenthal im Frühjahr 1943 über Holland nach England gekommen war. Während der Flucht vor dem Nazi-Regime war ihre Tochter Heidemarie, Christinas Mutter, zur Welt gekommen. Die damals 18-jährige Jüdin war auf einem Boot mit anderen Flüchtlingen auf die britische Insel gebracht worden und hatte dort einige Monate bei einer jüdischen Familie gewohnt, bis sie im Mai 1945 endlich eine Schiffspassage nach New York erhalten hatte. Dort angekommen hatte sie einige Tage gebraucht, um in diesem brodelnden Schmelztiegel zurecht zu kommen und die Familie ihres Großonkels Joseph Liesenthal zu finden. Dieser war schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgewandert und seine Nachkommen betrieben gemäß der Familientradition Goldschmiedegeschäfte in Manhattan. Es kostete Michaela einige Mühe, mit holprigem Englisch und dem Kleinkind auf dem Arm mit Hilfe der Angestellten bis zu dem großen Anwesen des Clans in Westchester County vorzudringen. Immerhin bot ihr die Familie eine neue Heimat und eine Beschäftigung im Haushalt und später als Verwalterin des familieneigenen Gestüts an. Erst viele Jahre später, 1972, zog sie nach Brockport im Monroe County, als ihre Tochter den Geschichtsprofessor Joseph Hudson heiratete, der an der dortigen State University Geschichte und Politik lehrte. Sie selbst hat nie geheiratet und Christina fand in den Tagebüchern auch keine Hinweise auf Liebschaften mit Männern, wohl aber eine Reihe von Andeutungen, die man mit etwas Phantasie als eine unterdrückte Sehnsucht nach nicht ausgelebten, gleichgeschlechtlichen Beziehungen interpretieren könnte. Nirgends gab es einen Hinweis auf den Vater ihrer Tochter. Wenn später einmal die Rede von Heidemaries Vater war, hieß es immer, er sei Deutscher und im Krieg geblieben.
Ihre Großmutter war eine bildschöne Frau gewesen und Christinas Mutter hatte erzählt, dass es nicht an Gelegenheiten gemangelt hatte, nette und meistens steinreiche junge Männer kennenzulernen, die im Hause der Liesenthals ein- und ausgingen. Mit ihrem freundlichen, aber zurückhaltenden Wesen hielt sie sich indes alle Interessenten auf Distanz und bald wurde aus der „harten Nuss“ in Anspielung auf ihre deutsche Herkunft ein „everlasting Fraulein“. In ihrem Tagebuch hatte sie an einer Stelle dazu geschrieben: „… ewig dumm, ewig langweilig, ewig gleich, was wirklich ewig ist, wissen sie nicht.“ Andeutungen wie diese fanden sich zuhauf in den Heften und sie waren es auch, die Christina neugierig gemacht hatten, mehr über die Vergangenheit ihrer Großmutter zu erfahren.
„Die Eltern, der Bruder sind tot – so viele sind gestorben, das böse Pack überlebt und hat alles genommen.“ Christina hatte diesen Eintrag zuerst auf die Judenpogrome und die Tatsache bezogen, dass in beiden neuen deutschen Staaten viele der Naziverbrecher weiterhin als unbescholtene Bürger leben und sogar hohe und höchste Ämter besetzen konnten. Nach und nach begriff sie aber, dass diese Anmerkungen sehr konkret auf Ereignisse anspielten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit persönlichen Erinnerungen aus der Jugend Michaelas stehen mussten.
Einen deutlichen Beweis dieser These fand sie schließlich zwischen den vielen Papieren und Unterlagen, die Oma Michaela mit nach Brockport gebracht und dort auf dem Dachboden der Hudsons verstaut hatte. Der Brief aus dem Jahr 1959 stammte von einem Anwalt aus Bonn und war mit einer einfachen Schreibmaschine geschrieben und in deutscher Sprache verfasst. Vielfach auseinander- und wieder zusammengefaltet, hatte er arg gelitten. Überdies war das Papier irgendwann einmal feucht geworden und einige Textpassagen waren mit einem Tintenfüller unterstrichen. Nun war der Text nicht mehr vollständig zu entziffern.
„… können wir Ihnen mitteilen, daß die Fa-----------Gemeinde Wahlscheid lebt und mehrere größere Gewerbebetriebe ----------------------handel unterhält. --------------- verheiratet und hat einen dreijährigen Sohn --------- …“
Anbei lag eine Kostennote über 800 Deutsche Mark, darauf der handschriftliche Hinweis, dass die Rechnung bezahlt worden sei. Ihre Großmutter musste gute Gründe gehabt haben, sich mit Hilfe eines deutschen Anwaltes Auskünfte über Menschen in einer kleinen Gemeinde nahe Köln zu beschaffen. Möglicherweise hatte sie versucht nach dem Vater ihres Kindes zu forschen, aber die Suche irgendwann aufgegeben.
Ausgerechnet die Namen waren offenbar unterstrichen worden und dadurch nicht mehr lesbar und Christina hatte vergeblich versucht, die Fragmente durch Informationen aus den Tagebüchern zu ergänzen. Auch ein früherer Studien-Kollege, der sich mit alten Schriften beschäftigt hatte, konnte ihr nicht weiterhelfen.
In den Aufzeichnungen ihrer Großmutter fanden sich viele Hinweise auf Besuche eines Bauernhofs, der einer gewissen Familie Merkelbach gehörte. Offenbar waren Michaelas Eltern mit dieser Bauernfamilie eng befreundet gewesen und sie hatte noch im Jahre 1938 gemeinsam mit ihrem Bruder Daniel einen Teil der Sommerferien in Wahlscheid verbracht.
Im Internet hatte Christina weder Informationen über den Bonner Anwalt gefunden noch Hilfreiches über den Ort Wahlscheid oder deren Einwohner in Erfahrung gebracht. Sie hatte per Email Kontakt zu dem Betreiber einer privaten Homepage der Stadt Lohmar aufgenommen. Wahlscheid war in den 60er Jahren nach Lohmar eingemeindet worden und nurmehr Ortsteil der Stadt. Immerhin konnte ihr der ferne Webmaster mitteilen, dass ein Werner Merkelbach in einem Altenwohnheim lebt und sich offensichtlich guter Gesundheit erfreut. Die Homepage des Wohnheims sagte lediglich, dass ein „Relaunch“, eine Neugestaltung des Internet-Auftritts unmittelbar bevorstünde.
Christinas Mutter war ihr keine große Hilfe bei der Auflösung des Rätsels. Heidemarie lebte seit der Trennung von ihrem Mann vor 10 Jahren in einer Scheinwelt, verließ ihr Zuhause so gut wie überhaupt nicht mehr und saß nur im Wohnzimmer, um dümmliche Soaps im Fernsehen anzuschauen oder in Frauenzeitschriften zu blättern. Auf Fragen reagierte sie kaum und gab nur ausweichende Antworten, wenn die Sprache auf Ereignisse kam, die außerhalb der gemeinsamen Jahre mit ihrem Ehemann lagen.
So hatte Christina beschlossen, nach Deutschland zu reisen. Nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums hatte sie nun die Zeit dazu. Sie hatte etwas Geld von ihrem Vater erhalten und frei von Beziehungen sonstiger Art war sie auch. Was lag also näher, als sich ein wenig das alte Europa anzuschauen und dabei vielleicht etwas über ihre Großmutter und ihre eigene Herkunft herauszufinden. Ihre Mutter in dem Haus in Brockport allein zu lassen, fiel ihr natürlich schwer, aber sie dachte sich, dass sie sich vielleicht ein bisschen neu besinnen würde, wenn sie sich mal eine Weile selbst um die täglichen Belange kümmern müsse.
Christina starrte durch das kleine Fenster auf die Wolkendecke, die sich unter dem Flieger ausbreitete und dachte an die gemeinsamen Jahre mit ihren Eltern in dem kleinen Häuschen in der Nähe des Campus der Universität, an ihre stille, immer etwas bekümmert wirkende Mutter und ihren Vater, der die Attitüden des intellektuellen 68er-Studenten auch als Dozent einer Universität nie abgelegt hatte. Sie musste lächeln, als sie ihren Vater inmitten einer kleinen Schar von Studenten vor sich sah. Mit seinem Strubbelkopf, den fleckigen Jeans und dem alten T-Shirt sah er aus wie einer von ihnen, wenn sie nächtelang über Gott und die Welt diskutierten, Rotwein tranken und große Joints rauchten. Eine Zeitlang hatten sie das vor dem kleinen, rothaarigen Mädchen zu verbergen versucht, aber irgendwann hatte ihr Vater ihr erklärt, was es damit auf sich hatte, und sie hatte den qualmenden Gestank als eine der vielen Merkwürdigkeiten der Erwachsenen akzeptiert. Mutter verbrachte diese Stunden meist in der Küche, kochte Suppe und machte Sandwichs für die Bande.
„Madam – bitte schnallen Sie sich an. Wir landen in wenigen Minuten.“ Die Stewardess holte Christina in die Gegenwart zurück. Sie band ihre roten Locken zusammen, verstaute die Unterlagen wieder in die alte Ledertasche und ihren Laptop in den Rucksack.
Sie hatte in Köln ein Hotel gebucht und wollte sich dort zunächst ein paar Tage orientieren. Es war nicht weit nach Bonn, wo sie den Anwalt aufzutreiben hoffte, und auch das Nest Wahlscheid lag nur eine halbe Autostunde entfernt, wie sie auf ihrer Roadmap im Internet festgestellt hatte. Für die meisten Reisenden aus den USA war Köln eine „One-Stop-City“, eine Stadt, die man nur der einzigen Sehenswürdigkeit, des Doms wegen, besuchte. Sie wusste es besser, ein Kommilitone hatte eine Weile in Köln gelebt und ihr eine Menge mehr Interessantes über die Stadt erzählt.