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Wahlscheid, Juni 1955 Joachim
ОглавлениеDer enge Feldweg am Bach vorbei bis zur Katharinenbach war mit Fahrzeugen aller Art zugestellt: Einige Autos, Traktoren, Motorräder, merkwürdig aussehende, dreirädrige Selbstbau-Gefährte mit Ladeflächen aus rohen Holzplanken, ein kleiner LKW und sogar ein Pferdegespann standen halb auf dem ausgefahrenen Weg und halb auf der Uferböschung des kleinen Wildbachs, der sich den Hügel herunterschlängelte.
Es würde wieder allerhand Volk unterwegs sein. Der „Schüereball“ auf dem kleinen Weiler oberhalb von Wahlscheid war in jedem Jahr Anlaufstelle für alle Schichten der Bevölkerung. Hier saßen „Drogi“, der Inhaber der kleinen Drogerie und der örtliche Autohändler neben dem polnischen Knecht, der auf irgendeinem Bauernhof in der Nähe schuftete, die Vorsitzenden von Sportverein und Männerchor versuchten mit dem Bürgermeister sich gegenseitig unter den Tisch zu saufen und die Dorfjugend nutzte den Abend für das eine oder andere Techtelmechtel und um die Angebetete zu mehr als einem flüchtigen Kuss ins Heu zu zerren. Auf diesem Fest, neben der Kirmes im August wichtigster Treff für kollektives Wirkungstrinken, wurde sich ebenso oft endgültig zerzankt wie wieder vertragen.
Ursprünglich gab es diese Feiern, um eine neu errichtete Scheune („Schüer“ oder „Schür“) einzuweihen, die tags zuvor in einer gemeinsamen Aktion der Bauern von den umliegenden Höfen errichtet worden war. Man half sich gegenseitig und der Lohn bestand dann darin, dass der Besitzer der neuen Scheune eine Sau schlachtete und ein Fass aufmachte. Dieser alte Brauch war längst vergessen, aber „der Baacher“, wie der Pächter der Katharinenbach genannt wurde, und seine Frau Elisabeth hatten die alte Sitte aufgegriffen und feierten einmal im Jahr das Scheunenfest, und das Volk nahm dankbar an, dass es zu kleinen Preisen reichlich kaltes Bier, jede Menge meist selbstgebrannten Schnaps und Berge deftiger Hausmannskost gab.
An diesem warmen Samstag in Juni war es denn auch wieder soweit und alles, was Rang und Namen hatte, fand sich in der leer geräumten alten Scheune der Katharinenbach ein. Das Heu vom letzten Jahr war von den wenigen Kühen, die der Bauer besaß, in den Wintermonaten aufgefressen und das neue Gras noch nicht gemäht und eingefahren. Die wenigen Maschinen, die Karren und den kleinen Traktor hatte man draußen geparkt und Platz für gut hundert Sitzplätze geschaffen. An einem der mit Birkenzweigen maßvoll dekorierten Balken hing ein Schild mit der Aufschrift: „He weet nit jeschmück und och nit jekränz, mir lije em Bett un maache Pänz.“ Auf dem Grill qualmten etliche Bratwürste und Koteletts vor sich hin, einer der Tische bog sich unter Schüsseln voll mit Kartoffelsalat, Wurst und Schinken. Zehn Jahre nach dem Krieg hatte sich das Landleben allmählich wieder normalisiert und die Menschen konnten sich ab und zu was leisten.
An einem der Tische saßen ein paar Frauen zusammen, tauschten Nachrichten aus oder erfanden neue. Ihre Männer gehörten der Freiwilligen Feuerwehr an, die nachmittags noch ausrücken musste, um irgendwo in einem der Dörfer einen kleinen Brand zu löschen. Das war schon ein paar Stunden her und sicher saßen die Kerle jetzt nach getaner Arbeit irgendwo in der Kneipe, um den Qualm aus der Kehle zu spülen. Sie würden entsprechend aussehen und von ihren Heldentaten erzählen, wenn sie gleich eintrudelten – selbstverständlich mit eingeschalteter Sirene des alten Magirus-Löschzugs.
Einer der Tische war als Theke umfunktioniert und davor hatten sich einige Männer eingefunden, um die ersten Testbierchen zu trinken und die Brandursache zu diskutieren. Ihr Wortführer Joachim Schiermeister, einziger Sohn des örtlichen Baulöwen, hatte sich nachmittags schon reichlich Bier in einer der Kneipen genehmigt und schwadronierte munter drauflos. Dieser Schiermeister-Clan hatte sich nach dem Krieg saniert, als Joachims Vater Richard wie aus dem Nichts Maschinen und LKW anschaffte, etliche Leute zu Hungerlöhnen einstellte und sich eine Reihe öffentlicher Aufträge unter den Nagel riss. Viele der Umstehenden waren „beim Boss“ angestellt und so konnte sein 30-jähriger Sohn sicher sein, eine Horde von Kopfnickern um sich zu haben.
„Ist doch klar, dass diese alten Hütten abbrennen. Die Provinzial dürfte die gar nicht mehr versichern, diese alten Strohkaten. So was gehört abgerissen und neu gebaut. Stein auf Stein – wie es sich gehört.“ Beifälliges Murmeln und Kopfnicken. „Und für euch ist das doch jede Menge Arbeit. So machen wir aus dem Dorf das Schönste weit und breit. Die Allee-Bäume an der Hauptstraße bis zum Schloss machen wir nieder und verbreitern die Straße, damit endlich die LKW unbehindert durchfahren können. Der Papp hat den Antrag schon gestellt und bei der nächsten Sitzung vom Gemeinderat wird das genehmigt.“
Für die Arbeiter bedeutete ein solcher Auftrag Lohn und Brot für mehr als zwei Jahre. Dass der Boss den Auftrag einfangen würde, daran zweifelte hier niemand, denn Konkurrenten um die lukrativen öffentlichen Aufträge wurden regelmäßig verbellt. Da hatte der alte Schiermeister so seine Tricks. Die Seilschaften funktionierten auch heute noch, obwohl die Zeit, als er von den Nazis als Dorfschulze eingesetzt worden war, schon mehr als ein Jahrzehnt zurücklag.
Joachim bestellte wortreich noch eine Runde für die Männer, schnappte sich ein Bier und wankte zum Tisch, an dem seine Kumpel saßen. Als er am Tisch der Feuerwehr-Frauen vorbeikam, meinte er abschätzend: „Na – sind eure Kerle wieder am Katen löschen? Ich hab´ eher das Gefühl, dass die in der Kneipe sitzen. Aber Weiber wie ihr sind ja das, was die Katholiken in die Wirtshäuser treibt.“
„Du solltest dich was schämen.“ Eine der Frauen wollte das nicht so stehen lassen. „Wenn dein Vater das hören würde, der würde dir links und rechts ein paar um die Backen hauen.“ – „Der Boss ist viel zu sentimental für euch. Wenn ich demnächst das Sagen habe, geht das hier noch ganz anders rund.“ Er kippte sich das Bier in den Schlund und torkelte zu seinen Kumpanen, die ihm sofort einen Platz am Tisch frei machten.
Der alte Schiermeister hatte in der Tat seinen Sinn für die Vereine behalten, auch wenn ihm viele nicht verzeihen konnten, dass er sich in den Dreißigern, als die Nazis auch in Wahlscheid die Richtlinien zu bestimmen begannen, für den Posten des Dorfschulzen hatte einfangen lassen. Aber er war schlau genug, es sich mit seinen dörflichen Nachbarn nicht zu verscherzen. Den Ortsvereinen hatte er immer reichlich gespendet, dem Sportverein sogar das gesamte Material für das neue Vereinsheim am Sportplatz. Es war kaum anzunehmen, dass er das umnebelte Geschwafel seines Sprösslings gutheißen würde.
Nach und nach füllte sich die Scheune und auch draußen saßen reichlich Menschen auf improvisierten Bänken oder dem Karren, tranken Bier oder Wein und unterhielten sich. Aus irgendeiner Ecke dudelte ein Kofferradio und aus dem kleinen Backes neben der Haustüre duftete es verführerisch nach Schweinebraten, der dort seit ein paar Stunden vor sich hinschmurgelte, als der Magirus der Feuerwehr mit lauten Tatütata die Einfahrt heraufwackelte und neben der Scheune anhielt. Rund ein Dutzend Männer sprangen vom Wagen oder aus dem Führerhaus und traten in die Scheune, winkten kurz ihren Frauen zu und versammelten sich an der kleinen Theke.
Wider Erwarten hatten sie richtig ran gemusst, der Brand eines Schuppens neben einem alten Fachwerkhaus ist eine gefährlich Sache, und wenn es nicht völlig windstill ist, kann schnell ein ganzes Gehöft dran glauben müssen. Entsprechend groß war der Durst. Für die freiwillige Brandwache, die vor Ort geblieben war, würden sie das eine oder andere Bier mittrinken müssen, bis sie abgelöst wurde.
„Na ihr Helden! Habt ihr wieder ein Jehööch vor dem Aussterben bewahrt?“, ließ sich Joachim Schiermeister hören. Er war aufgestanden, zu den Feuerwehrmännern gewankt und starrte sie provozierend und unverschämt grinsend an.
„Halt du doch den Mund. Wo warst du eigentlich? Immerhin ist der Hof, wo deine Mutter geboren ist, fast abgefackelt. Eigentlich solltest du jetzt dort Wache schieben und nicht dein alter Ühm. Aber dazu bist du wieder viel zu besoffen.“ Herbert Pütz war Drehermeister und arbeitete wie viele andere in einer Maschinenfabrik im Nachbarort. Er musste den Schiermeisters nicht nach der Pfeife tanzen und konnte dem reichen Widerling gut einen einschenken.
„Was geht mich die alte Kate an? Gehört sowieso bald alles mir. Und es ist mir scheißegal, ob die Kate jetzt abbrennt oder ich sie niedermache und Wohnhäuser hinpflanze.“
„Du warst immer schon ein widerlicher Arsch. Wie kann man so über seine Familie sprechen. Wenn dein Alter das hören würde!“
„Wenn du noch einmal meinen Alten erwähnst, hau´ ich dir eine rein.“ Joachim ging drohend einen Schritt auf Herbert zu, der aber keinen Millimeter zurückwich. Da er den Betrunkenen um fast einen Kopf überragte, musste er sich auch nicht vor den Handgreiflichkeiten fürchten, die offenbar unmittelbar bevorstanden.
„Komm Herbert, lass den Idioten in Ruhe. Hier hat keiner Lust, sich wegen so einem Dummschwätzer den Abend verderben zu lassen. Wir wissen doch alle, dass das eine dumme Nuss ist.“ Werner Merkelbach hatte sich eingemischt, schob sich zwischen die beiden Kampfhähne und drehte Joachim demonstrativ den Rücken zu. „Zum Wohlsein!“ Er zwinkerte seinen Kameraden zu und hob sein Glas an die Lippen, als ihn ein heftiger Schlag am Kopf traf. Joachim hatte ihm die Faust an die Schläfe geschwungen, dabei aber das Gleichgewicht verloren und lag nun am Boden. Seine linke Hand blutete, weil er in das eigene Glas gefallen war.
„Ich glaube, der junge Mann braucht eine Abkühlung.“ Herbert zerrte den am Boden liegenden am Hosenbund nach oben. Einige andere Männer schnappten sich Arme und Beine und schleppten den wild um sich strampelnden Schiermeister hinaus. „Passt auf die anderen auf“, meinte Herbert noch beim Rausgehen, als er bemerkte, dass sich am Tisch von Joachims Freunden etwas rührte.
„Ihr bleibt brav da sitzen und trinkt euer Bier!“ Die Drohung einer der Feuerwehrmänner war unmissverständlich.
Inzwischen waren Herbert und seine Helfer draußen angekommen. Jeder wusste, was zu tun war. Einer hob den Deckel von der großen Regentonne am Ende des Dachablaufs des Wohnhauses, schaute hinein und meinte „Voll genug.“ Der Wasserpegel stand fast am Rand des alten Holzfasses, das die Hausfrau als Reservoir für Blumenwasser benutzte. „Ihr Schweine – das werdet ihr bezahlen.“ Joachim gefiel die Angelegenheit nicht, denn er wusste genau, was ihm bevorstand. Gegen das Dutzend starker Arme konnte er aber außer heftigem Zappeln und panischem Kreischen nichts ausrichten und so verschwand er kopfüber bis zu den Knien in der Regentonne.
Das Gezeter erstarb augenblicklich und der allgemeine Geräuschpegel wurde durch den Applaus der Umstehenden abgelöst. Joachim Schiermeister war alles andere als beliebt und die Abreibung gönnte ihm fast jeder hier. Aber alle wussten auch, dass diese Art der Bestrafung sehr gefährlich war. Der Delinquent konnte sich nämlich unmöglich selbst aus dieser misslichen Lage befreien. Man konnte sich nicht umdrehen, um den Kopf über Wasser zu bekommen, es war auch unmöglich, mit den Händen an den Rand des Fasses zu gelangen, um sich wieder hochzuziehen und die Unterschenkel knickten ziemlich hilflos über den Rand.
„Sollen wir erst in Ruhe ein Bier trinken oder nur langsam bis hundert zählen?“ Die Männer hatten ihre helle Freude an der Sache, aber sie waren sich natürlich bewusst, dass sie ihr Opfer wieder befreien mussten, bevor die Lunge voll Wasser war. „Ich glaube der hat genug. Holt ihn wieder raus.“ Werner Merkelbach war dazugetreten und hielt sich ein Taschentuch an den Schädel. Offenbar hatte Schiermeister mit dem Bierglas zugeschlagen, denn er blutete an der rechten Schläfe. Die Männer zerrten das nasse Bündel aus dem Fass und stellten es auf den Boden. Er hustete heftig und sog gurgelnd Luft in die Lungen.
„Was ist hier los?“ Die donnernde Stimme sorgte für unmittelbare Ruhe. Richard Schiermeister war soeben mit seiner Frau auf dem Fest erschienen und rollte mit seinen knapp drei Zentnern auf die kleine Gruppe am Fass zu. „Wie siehst du denn aus? Hast du dich wieder zum Deppen gesoffen?“ Eine schallende Ohrfeige unterbrach das Gekeuche seines plötzlich ernüchterten Sohnes, dem jetzt die Tränen die Backen runterliefen.
„Du machst dich jetzt sofort auf den Heimweg und von euch will ich wissen, was hier passiert ist.“ Auch wenn seine Zeit als Dorfschulze längst vorbei war, hatte er Macht und Einfluss nicht ganz verloren. „Willi! Was ist hier passiert?“ Er redete Willi Fielenbach, den Leiter der kleinen Feuerwehrtruppe, direkt an. Sie waren alte Freunde und Kegelbrüder und ihre Freundschaft hatte das Tausendjährige Reich und den Krieg überstanden.
„Dieses Arschloch da hat mich geschlagen!“ Bevor Willi etwas sagen konnte, hatte sich Joachim wieder eingemischt und zeigte mit dem Finger auf Werner Merkelbach.
„Du weißt genau, dass du Scheiße redest. Lass es gut sein. Hör auf deinen Vater und verpiss dich.“ Werner winkte ab, tunkte das blutige Taschentuch in das Wasserfass und stapfte zurück Richtung Theke. Unvermittelt sprang ihn Joachim von hinten an, brachte beide zu Fall und würgte den Hals seines Kontrahenten. „Du Judensau! Hast du sie gehabt, das kleine Judenfrettchen – ich bring dich um. Du und deine Brut habt euch schon immer gegen uns gestellt und jetzt meinst du, dass du davon kommst, du Schwein. Wolltest dich und deine Judenfreunde bereichern, was? Aber da haben wir dir einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Er prügelte nun wie von Sinnen auf Werners Kopf ein, der versuchte, sich umzudrehen und zur Wehr zu setzen.
„Jetzt ist Schluss – endgültig!“ Der alte Schiermeister stellte sich hinter seinen Sohn und trat ihm sehr heftig zwischen die Beine, sodass dieser laut aufheulend von seinem Opfer abließ und sich zusammengekrümmt die Hoden hielt. „Verschwinde! Sofort! Ich will dich hier heute nicht mehr sehen!“
Joachim Schiermeister machte sich, die Hände zwischen die Beine geklemmt, jammernd davon. Seine Mutter hatte die Szene mit angesehen und starrte nun ihren Mann an, die Hände vor den Mund gepresst.
„Geht rein, Männer. Der Boss gibt einen aus.“ Er klopfte dem einen oder anderen versöhnlich auf die Schulter, ging zu seiner Frau und legte ihr den Arm um die Schulter. „Komm, Erna. Da drinnen gibt es Kalte Ente“, meinte er laut vernehmlich und leise raunte er ihr zu: „Wenn du darüber, was der Junge eben gesagt hat, nur ein einziges Wort gegenüber irgendwelchen Weibern verlierst, brech ich dir alle Knochen. Haste verstanden?“
Erna konnte nur nicken, zu sehr steckte ihr der Schreck in den Gliedern.