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Köln, November 1938 Anat
ОглавлениеAnat hatte es vorgezogen, zu Fuß bis zu seinem Lager in der Rheinstraße zu marschieren. Er hätte zwar ein Stück weit die Elektrische nehmen können, aber er wollte heute keine Menschen um sich haben. In den Straßen und Gässchen der Stadt kannte er sich gut aus und konnte einfach die Richtung wechseln, sollte er Menschen begegnen, die er sich ersparen wollte. Er würde zwar fast eine Stunde am Rheinufer entlang unterwegs sein, aber auf dem Marsch von der Innenstadt bis knapp vor Rodenkirchen hoffte er seine Gedanken ordnen zu können. Auf den Straßen war es ruhig geblieben und so hatten sie zwar wieder in ihrer Wohnung übernachtet, aber weder er noch Rinah hatten wirklich Ruhe finden können. Seine Frau hatte sich in einen unruhigen Schlaf geweint und Anat war erst in den frühen Morgenstunden eingeschlafen.
Gegen acht Uhr stand er auf dem kleinen Hof vor der knapp sechs Meter breiten und 25 Meter langen Lagerhalle aus roten Ziegeln. Er öffnete das fensterlose Holztor, trat ein und verschloss den Eingang hinter sich. Emil würde erst in einer Stunde kommen und so lange hatte Anat Zeit, alles vorzubereiten. Er schaltete das Licht ein und sofort wieder aus, als ihm einfiel, dass die hellen Jupiterlampen von draußen durch die kleinen Fenster mit den blinden Scheiben gesehen werden konnten. Links stand eine Reihe Regale, die bis unter die schräge Dachkonstruktion reichten. Die fünf Meter lange Leiter lehnte am obersten Regalboden. Er erinnerte sich, dass sein Vater immer böse geworden war, wenn er sich als Kind nach oben gestohlen hatte und über die Regale geturnt war. Auf der rechten Seite standen über die gesamte Länge Werkbänke, an denen früher etliche Hilfskräfte Halsketten und andere Schmuckstücke in Serien produziert hatten. Mit dieser Billigproduktion, u.a. für die Kaufhäuser der Familie Tietz, waren die Liesenthals über schlechte Zeiten hinweggekommen.
Am hinteren Ende der Halle war durch eine Wand aus Glasfenstern ein kleines Büro abgetrennt, in dem sich der Sekretär oder ab und zu sein Vater aufhielten und die Arbeiten überwachten. Überall standen Möbel und Gerätschaften herum, die Anat noch rechtzeitig aus ihrem Haus hatte schaffen können, als er den Tipp bekam, dass die Nazis seine Villa in Hahnwald beschlagnahmen würden. Auch einige der Glasvitrinen aus seinem Schmuckgeschäft in der Innenstadt waren hier abgestellt. Bisher hatten sich die Nazis noch nicht für diesen Schuppen interessiert, aber das konnte sich jeden Tag ändern.
Links am vorderen Ende des Regals stand ein Paar relativ neue Überschuhe wie feine Herrschaften sie trugen, wenn sie durch Dreckswetter zur Oper oder einem Empfang gingen. Anat hatte sie schon vor vielen Wochen hier deponiert. Unter die normale Sohle hatte er eine zweite, wesentlich kleinere Sohle von einem Kinderschuh geklebt. Die Spuren, die er in der dünnen Staubschicht des Bodens zurücklassen würde, würden die eines Kindes sein. Er schlüpfte hinein, kämpfte sich durch das verstaubte Chaos der Lagerhalle und versuchte, dabei eine kleine Gasse zu schaffen, indem er das eine oder andere Möbel ein wenig zur Seite schob. Unterwegs ins hintere Büro nahm er von einem der Werkbänke einen Stechbeitel und einen Hammer an sich. Der Schlüssel hing wie seit mehr als vier Jahrzehnten an einem Nagel oberhalb der Tür und Anat musste daran denken, dass ihn sein Vater oder Großvater dereinst dort eingeschlagen hatte. In dem kleinen Büroraum standen ebenfalls allerlei Gerümpel und sehr viele alte Akten, Pläne und Zeichnungen von Gegenständen, die hier gefertigt worden waren. Anat schaltete die kleine Schreibtischlampe an. Das schwache Licht würde von draußen nicht zu sehen sein. Er verspürte den Impuls, sich in die alten Unterlagen zu vertiefen, besann sich aber auf den Grund seiner Mission und begann, den riesigen Schreibtisch und den Teppich zur Seite zu schieben. Das ging nicht ganz ohne Lärm ab und Anat hoffte, dass niemand draußen herumstrich und ihn hörte. Denunziantentum stand hoch im Kurs und einen Juden bei einer derartigen Tätigkeit zu erwischen, konnte einen Bürger in der Gunst der braunen Brut ziemlich weit nach vorne bringen. Als er die Stelle endlich freigekämpft hatte, tauchte darunter eine ca. 80 x 80 cm große Klappe in dem Dielenfußboden auf. Anat schob seinen Zeigefinger in ein Astloch, hob den Deckel nach oben und stellte ihn zur Seite. Der etwa 50 cm tiefe Raum wurde von mehreren stabilen Holzkisten und zwei kleinen Säckchen aus grober Jute ausgefüllt.
Anat machte sich sofort daran, die erste der Holzkisten aus dem Loch zu heben, den vernagelten Deckel zu öffnen und den Inhalt aus dem leicht öligen Papier zu wickeln. Das Material, das er in Händen hielt, hatte seine Faszination auch in diesem staubigen Halbdunkel nicht verloren: Gold! Anat hielt inne und lauschte nach draußen, aber das Geräusch eines herannahenden Automotors wurde wieder dünner und nach einigen Sekunden war es wieder still um die Lagerhalle.
Er schleppte die Holzkisten, jede für sich sicher zehn Kilo schwer, nach vorne zum Eingang der Halle und stellte sie nebeneinander neben das Tor auf den Boden. Die Säcke öffnete er nicht, denn sie waren mit Siegeln der Notenbank verplombt. Er wusste auch so, was darin war und man konnte nie wissen, wozu die Siegel noch einmal gut sein würden. Die Münzen knirschten leicht aneinander, als Anat sich die beiden Säcke über die Schulter warf. Einer der beiden würde ausreichen, um einen Wagen wie den zu kaufen, der ihn gleich abholen würde, und dem Besitzer darüber hinaus einige sorgenfreie Jahre ermöglichen.
Nachdem alles umgeräumt war, überlegte Anat kurz, ob er das Loch geöffnet zurücklassen sollte, um die Nazis zu ärgern, sollten sie in Kürze diese Halle inspizieren. Das würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und die Vorstellung, dass irgendein Nazibonze vor Wut schäumt, weil gerade erst ein wahrscheinliches Schatzkistchen ausgegraben und weggeschafft worden war, trieb Anat einen wohligen Schauer über den Rücken. Aber er musste vernünftig sein, seinen Plan einhalten und auch an die denken, die zurückblieben. Sicherlich würde man das Umfeld vom Ühm und damit Emil und wahrscheinlich auch seine Wahlscheider Freunde unter die Lupe nehmen. Also suchte er willkürlich ein paar alte Unterlagen aus dem Aktenschrank heraus, die ihm verdächtig genug erschienen und warf sie in das Loch. Die Spuren versuchte er so gut es ging wieder zu beseitigen und hoffte, dass die tumben Stiefelträger bei einer Durchsuchung bemüht sein würden, möglichst großen Schaden anzurichten und damit einige der Spuren verwischten.
Als alles wieder an seinem Platz stand, betrachtete er sein Werk und stieg dann auf den Schreibtisch, um auch dort einige Fußspuren zu hinterlassen. Er hoffte, dass seine Meinung über die Nazischergen richtig und sie verblödet genug waren, um die falsche Fährte zu schlucken.
Er blickte auf die Uhr – in wenigen Minuten würde Emil hier sein und Anat beeilte sich nun, die Tür zu verschließen, den Gang wieder mit Möbeln zuzustellen und die Überschuhe auszuziehen. Einen alten Besen stellte er außen vor das Tor. Er hatte gerade seine Kleider abgeklopft und geordnet, als er das typische Geräusch des Horch 12-Zylinders hörte. Dass er ausgerechnet jetzt an die vielen Streitgespräche denken musste, die dieses Auto immer wieder auslöste. Alle Welt meinte, dass das Fahrzeug ein 8-Zylinder sei, aber es war typisch für den alten Ühm, dass er eines der wenigen 12-Zylinder-Modelle der Baureihe ergattert hatte.
Es dauerte eine Weile, bis Emil den Motor abstellte, ausgestiegen war und die Tür zuklappte – „Anlegen“, wie er das nannte. Anat öffnete das Hallentor ein wenig und trat zu Emil. Der Wagen stand mit dem Heck zur Halle, das Verdeck des Cabriolets hatte Emil geschlossen.
„Mojn Mojn“ – Emil zog seine Handschuhe aus und warf sie durch das offene Fenster auf den Fahrersitz. „Wo ist denn das Klavier?“ Er schien guter Laune zu sein. Dass sein Chef noch keine zwei Tage tot war, konnte man ihm nicht anmerken, aber irgendwie ahnte er wohl, dass ihm die bevorstehende Aktion eher Vorteile bringen würde.
„Es sind nur ein paar Holzkisten mit alter Ware, die man vielleicht mal verkaufen kann. Die Möbel kann ich eh nicht mitnehmen.“ Anat wusste, dass ihm Emil kein Wort glaubte, aber das musste ihm egal sein. Der Fahrer versuchte, einen Blick in das Gebäude zu werfen, aber Anat schloss sofort die Tür und meinte: „Ich reiche dir die Kästen an und du bringst sie ins Auto. Es ist nicht nötig, dass wir uns beide dreckig machen.“
So verschwand also Anat einige Male in der Halle und reichte Emil die Kästen an, die dieser im kleinen Kofferraum des Roadsters verstaute. Der ging zwar ein wenig in die Knie, aber bei dieser Herrschaftskarosse würde das nicht weiter auffallen. Zwei Kisten ließ er zunächst in der Halle stehen.
„So – das war´s. Du kannst schon mal das Fahrzeug starten; ich komme sofort nach“, meinte Anat. Er wartete, bis Emil stirnrunzelnd zum Auto ging und verschwand noch mal in der Halle, um die beiden Säcke, die beiden restlichen Kisten und die Stiefel zu holen und neben dem Fahrzeug abzustellen. Er verschloss sorgfältig das Tor und fegte den vom Regen der letzten Tage aufgeweichten Boden zwischen der Halle und dem Fahrzeug, um die Fußspuren zu verwischen. Die Reifenspuren musste er in Kauf nehmen. Emil sah ihm im Rückspiegel misstrauisch zu, hielt sich aber mit Bemerkungen zurück. Anat warf den Besen in hohem Bogen auf einen Stapel Bauholz neben der Halle, schnappte sich die beiden Säcke und die Stiefel, verstaute sie neben den Kisten und ließ den Kofferraum mit einem satten Knall zufallen. Emil öffnete ihm von innen die Türe und sah zu, wie Anat die beiden letzten Kisten hinter den Beifahrersitz auf den Boden wuchtete und sich in den Sitz fallen ließ.
„Fahr los – einmal um die nächste Ecke.“ Emil startete den schweren Wagen, fuhr sanft an, bewegte den Wagen bis zum Rhein hinunter, bog dann links Richtung Innenstadt ab und hielt einige Meter weiter unter einem der Alleebäume an.
„Watt nu?“, fragte er und blickte Anat verschwörerisch an. „Für wie viele Jahre wandere ich in den Knast, wenn wir erwischt werden?“
„Hör zu – hinter meinem Sitz stehen zwei Kisten mit 10 Kilo Gold in Barren. Das ist die sicherste Währung, die es gibt. Sie gehören dir. Damit kannst du aus Deutschland verschwinden und dir locker ein Luxusleben leisten, wenn du nicht alles auf einmal auf den Kopp haust. Dafür bringst du mich jetzt mit dem anderen Kram sicher nach Wahlscheid und stellst keine Fragen.“
„Und wenn ich noch eine Kiste haben will?“ Emil wollte wenigstens einen Versuch wagen.
„Dann müsste ich dir sagen, dass in diesem Fall mein Plan nicht funktioniert, und du außerdem schon bis zum Hals in der Sache drinsteckst. Oder was glaubst du, würde die Gestapo sagen, wenn sie dich jetzt mit einem Juden und Kästen voller Gold erwischte.“
„Abgesehen von dem, was wir da sonst noch transportieren, solltest du noch dazu sagen.“
„Jetzt komm schon. Das sind fast hunderttausend Schweizer Franken in Gold. Damit musst du nie wieder arbeiten und kannst dir irgendwo ein Häuschen kaufen. Ist doch ein fairer Handel, und wenn der Ühm noch leben würde, hätte ich dir gar nichts abgeben müssen.“
„In Ordnung – fahren wir.“ Emil war schlau genug, um zu erkennen, dass es dem Anderen ernst war und er nicht mehr herausschlagen konnte. Im Grunde wollte er das auch gar nicht, denn er mochte die Liesenthals und es war ihm klar, dass Anat und seine Familie das Land verlassen mussten und dafür eine ziemliche Menge Geld brauchten.
Die Brücke über den Rhein in Rodenkirchen war seit einigen Monaten im Bau, aber noch nicht fertiggestellt und so mussten sie den Weg durch die Stadt und über Deutz nehmen. Sie würden schon eine gute Stunde unterwegs sein und Anat hoffte, dass sie nicht in irgendeine der Kontrollen gerieten, die die SS in letzter Zeit immer häufiger ohne Vorwarnung aufstellte.
Sie nahmen die Autobahn, die erst seit einigen Jahren in Betrieb war und für die sich der Führer als Innovator feiern ließ. Eigentlich musste aber jedem klar sein, dass diese Fernstraßen mit geklautem Geld gebaut wurden und mit Plänen entstanden, die schon in den 20er Jahren vom Verein HaFraBa entwickelt worden waren, um die Hansestädte im Norden mit Frankfurt und Basel zu verbinden, und Anat war dabei gewesen, als 1932 die erste Autobahn zwischen Köln und Bonn von Kölns Bürgermeister Konrad Adenauer eingeweiht wurde. Die Bahnen wurden kaum genutzt, denn nicht einmal jeder hundertste Deutsche konnte sich ein Auto leisten und Hitlers hilfloses Projekt, durch ein Sparmarken-System jeder Familie eines der von Porsche entwickelten Kleinfahrzeuge zu verschaffen, war ebenso jämmerlich gescheitert wie der Versuch, mit dem Autobahnbau die Millionen Arbeitslosen zu beschäftigen.
In diesen Gedanken versunken rumpelten sie über die Betonpiste bis zur Ausfahrt im Königsforst, um von dort die Landstraße nach Wahlscheid zu nehmen. Gegen Mittag fuhren sie auf dem Hof der Merkelbachs vor.
Heidrun kam sogleich aus dem Haus gelaufen, wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Anat! – Was machst du hier? Und Emil?“ Heidrun war ziemlich erstaunt, drückte Anat einen kurzen Kuss auf die Wange und blickte fragend von einem zum anderen.
„Ich muss mit euch reden. Ist der Willi da?“ – „Willi ist auf dem Feld. Weil es ausnahmsweise mal nicht regnet, wollte er ein paar Zäune flicken. Werner kommt gleich aus der Schule heim. In einer halben Stunde gibt es Essen und dann sind beide da. Kommt doch solange rein.“
„Ich würde gerne etwas ausladen und für ein paar Stunden bei euch abstellen. Kann ich das mit Emil in den Anbau stellen? Es sind ein paar kleine Kistchen. Wir klären später, was damit gemacht wird, wenn Willi wieder da ist.“
Natürlich hatte Heidrun nichts dagegen, auch wenn ihr die Sache ziemlich merkwürdig vorkam, und so schleppten Emil und Anat die Kisten und die beiden Säcke in den kleinen Anbau, der für Anat und seine Familie so oft vorübergehende Heimat gewesen war, wenn sie am Wochenende oder in den Ferien zu Besuch waren.
Anat bat Emil noch, den Wagen in die Scheune zu fahren. Der Hof lag zwar etwas abseits vom Dorf, aber der auffällige Wagen musste nicht von jedem gesehen werden. Anschließend setzten sie sich in die Küche und warteten auf Wilhelm und Werner.
Dem neugierigen Augenpaar hinter den Brombeersträuchern im kleinen Kirschbungert entging nichts von dem, was auf dem Hof der Merkelbachs vor sich ging.