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Köln, November 1938 Anat
ОглавлениеAm nächsten Morgen wachten Anat und Rinah sehr früh auf. Es war noch dunkel draußen und auf die Scheibe der kleinen Dachluke tropfte dicker, nasser Schneeregen. Gemeinsam schlichen sie zum Treppenhaus und in ihre Wohnung im ersten Stock. Draußen schien alles ruhig, kaum ein Laut drang von der Straße herein. Vorsichtig spähte Anat durch die Gardinen auf die schwach beleuchtete Straße hinunter. Vor dem kleinen Krämerladen gegenüber lagen Holzteile von Regalen, Glas von der zertrümmerten Schaufensterscheibe, Konservendosen und andere Waren auf dem schmalen Bürgersteig. Auf einem Pappschild, das an der Laterne vor dem Haus befestigt war, hatte jemand „Hier wohnte eine Judensau“ geschmiert. Eine Frau, die einige Häuser weiter wohnte und von der Anat wusste, dass sie nachts beim Stadt-Anzeiger arbeitete, bog in die Straße ein, stockte kurz, als sie den Trümmerberg wahrnahm und stiefelte dann, ohne dem zerstörten Geschäft ihres Nachbarn weitere Aufmerksamkeit zu gönnen, zu ihrer Wohnung. Die Inhaber des Ladens Margot und Werner Spiegel waren keine ausübenden Juden und kamen nur sehr selten zur Synagoge. Sie lebten bereits in der dritten oder vierten Generation in der Stadt und waren als korrekte Geschäftsleute bekannt. Anat sollte die beiden und ihre 10-jährige Tochter nie wiedersehen.
Er atmete einmal tief ein und aus. „Es geht los! Schau mal auf die Straße raus.“ Rinah trat ans Fenster und wich erschreckt wieder zurück, als sie auf die Reste des Lädchens sah. „Jesse!“, entfuhr es ihr unwillkürlich.
„Es muss etwas geschehen, und zwar sofort. Du bleibst mit den Kindern im Haus. Ich gehe heute noch mal zum Ühm. Er muss mir seinen Wagen leihen, damit ich die Sachen aus der Rheinstraße wegschaffen kann.“
„Sei vorsichtig!“, mahnte sie. Anat erzählte ihr noch einmal von seinem Besuch bei Rinahs Großvater. „Der Ühm hat versprochen, uns zu helfen.“ Sie wusste, wie schwer es ihrem Mann gefallen sein musste, den alten Knochen um Hilfe anzugehen.
„Was hast du vor?“, Rinah bebte. Sie liebte ihre Heimatstadt. Neuerungen und Änderungen in ihrem Leben waren ihr nur schwer zu vermitteln. Sie hatte viele trübselige Monate verbracht, nachdem sie vor drei Jahren aus dem großen Haus ausziehen mussten, als die Nazis es beschlagnahmten und ihnen die kleine Wohnung zuwiesen. Und nun sollten ihr auch die letzten Wurzeln ausgerissen werden.
„Warum willst du die alten Sachen wegschaffen? Und wohin damit?“ – „Wilhelm und Heidrun kommen doch am Wochenende. Ich wollte sowieso mit ihnen darüber sprechen, ob wir die Werkzeuge und das Material aus der Rheinstraße nicht irgendwo bei ihnen auf dem Hof lagern können. Wir können das unmöglich hier zurücklassen, und wenn die uns heute oder morgen abholen, kriegen wir das nie mehr da heraus.“
„Was ist an dem alten Kram so wertvoll, dass du unsere Freunde da mit hineinziehst?“ Rinah war immer noch nicht klar, worum es eigentlich ging. Sie wusste, dass Anat mit dem alten Hannes, seinem letzten Angestellten, den er voriges Jahr hatte entlassen müssen, die Werkzeuge aus der Goldschmiedewerkstatt in das Lager in der Rheinstraße gebracht hatte.
„Pass jetzt genau auf, was ich dir sage!“ Anat trat dicht an seine Frau heran und sagte so eindringlich und dennoch so leise wie möglich: „Es sind nicht nur die Werkzeuge und ein bisschen Material. Ich habe fast 200 Kilo Gold in der Rheinstraße gebunkert. Das ist Gold, das unsere Familie seit vielen Jahren zurückgelegt hat. Das kann und darf den Nazis nicht in die Hände fallen. Wir müssen es wegschaffen. Ich kann doch nicht einfach zur Bank marschieren und das Gold zum Kauf anbieten, und den Ühm kann ich doch auch nicht einweihen. Wer weiß, was ihm dann einfällt. Aber ich brauche sein Auto. Ich wollte mit Willi darüber reden, wenn er am Wochenende kommt und ihm vorschlagen, dass wir es bei ihm auf dem Hof verstecken. Einen Teil davon würde ich ihm schenken. Das da drüben bei Spiegels ist kein Einzelfall. Wir müssen jetzt sofort etwas unternehmen.“
Wie in Trance hatte Rinah ihrem Mann zugehört. Sie drehte sich um und machte sich mit fahrigen Handbewegungen am Herd zu schaffen, um die restliche Glut neu zu entfachen. Anat stellte sich hinter sie und umarmte sie. „Es wird alles gut. Der Ühm und Willi werden uns helfen und in einigen Wochen sind wir in Sicherheit. Mach mir einen Tee, bitte. Ich hole die Kinder runter und gehe dann zum Ühm. Der ist ja immer früh auf den Beinen.“
Eine halbe Stunde später machte sich Anat zum zweiten Mal in dieser Woche auf den Weg zum Bankhaus Weber. Er betrat die weitläufige Schalterhalle und merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Atmosphäre wirkte irgendwie gedrückt. An dem kleinen Eichentisch links neben dem Eingang saß ein Kunde mit dickem Wintermantel und Pelzkragen. An dem Schalter mit dem Schild „Kasse“ stand eine Kundin und verhandelte mit dem Angestellten. Am Fuß der Treppe, die nach oben auf die Galerie und die Zimmer der leitenden Verwaltung führte, stand Emil, eine Art Faktotum des Bankhauses. Der lange, stets mit einem korrekt sitzenden Frack bekleidete Mann aus dem Norddeutschen war um die Fünfzig und stand wie immer kerzengerade bereit, um kleinere Handreichungen oder Botengänge für die Angestellten zu erledigen. Anat hatte ihn im Krieg kennen und schätzen gelernt. Emil war für sein Organisationstalent berüchtigt und bei den Küchenbullen und den Etappenhasen gefürchtet gewesen. Er klaute alles, was er kriegen konnte, und verschaffte seinen Kameraden so manch gute Mahlzeit. Nach dem Krieg war er plötzlich bei Anat in Köln aufgetaucht, und der Jude hatte dem Veteranen die Anstellung beim Ühm beschafft, dem er treu ergeben war, und Anat mutmaßte, dass er so manches kleine oder größere Geheimnis des Alten bewahrte.
Emil kam sofort auf Anat zu, als er ihn erblickte. „Ist das nicht schrecklich. Gut, dass du sofort gekommen bist.“
„Was ist denn Schlimmes passiert?“, fragte Anat. „Ja – weißt du denn nicht ….?“ Anat schüttelte verblüfft den Kopf. „Nein, erzähl!“
„Der Ühm ist gestorben. Gestern Abend. Ich habe noch den Peters gerufen, aber es war zu spät. Als der endlich hier war, war der Ühm schon tot. Das Herz, sagt der Doktor.“ Dr. Peters war Leibarzt der Kölner Prominenz und enger Freund des Bankers gewesen. Der wusste natürlich um die Herzschwäche seines alten Freundes und hatte ihn vielfach vor seinen Exzessen im Mohr-Baedorf gewarnt, was ihn aber nicht daran hinderte, eifrig selbst daran teilzunehmen.
Anat war geschockt. Auch wenn sein Verhältnis zum Großvater seiner Frau eher gespannt gewesen war, so fühlte er doch unmittelbar eine Traurigkeit in sich aufsteigen. Er dachte an Rinah, deren Leben heute schon reichlich aus den Fugen geraten war. Und natürlich waren seine Pläne zunächst vollkommen zunichte gemacht. Er musste seine Gedanken neu ordnen.
Wenn das erst einmal rund war, würde es hier in der Bank vor Leuten wimmeln. Das konnte er am allerwenigsten gebrauchen und Emil und Friedchen Ennenbach, die Sekretärin, würden sich um alles kümmern, was es an administrativen Dingen zu regeln gab. Erbschaftsangelegenheiten waren nicht zu klären. Die Bank gehörte schon seit der Weltwirtschaftskrise vor 10 Jahren einem Konsortium, das den alten Ühm lediglich als Gallionsfigur, als Symbol traditioneller Zuverlässigkeit, an die Spitze des Aufsichtsrates gestellt hatte.
Anat wendete sich zum Gehen, als er sich noch einmal zu Emil umdrehte und ihn am Ärmel bis zum unteren Treppenabsatz führte, wo ihn niemand belauschen konnte. „Sag mal, Emil. Du fährst doch auch den Horch* vom Ühm. Ich hatte mit ihm vereinbart, dass ich ihn in den nächsten Tagen mal ausleihen kann, weil ich einige Sachen aus meinem alten Lager ausräumen muss.“ Wohl fühlte er sich nicht dabei, den dienstbaren Geist in dieser Situation mit diesem Problem zu konfrontieren, aber für Anat und seine Familie war es lebenswichtig.
„An sich kein Problem. Wo soll es denn hingehen?“ Anat wusste, dass Emil kein Freund der Nazis war und kurz entschlossen entschied er, den alten Zerberus des Bankers ins Vertrauen zu ziehen – jedenfalls ein bisschen. „Ich denke, dass man mir in Kürze das Lager in der Rheinstraße abnehmen wird. Da lagern eine Menge Sachen, die ich rausnehmen will, bevor das in falsche Hände kommt, verstehst du?“ Emil verstand sehr gut. Er war ungewöhnliche Aufgaben gewohnt und immer für Schandtaten zu haben, zudem sich hier die wahrscheinlich letzte Gelegenheit bot, das herrliche, dunkelblaue Horch-Cabriolet 780 zu fahren, mit dem er seinen Chef so oft zu feuchtfröhlichen Festivitäten kutschiert oder von dort heimgekarrt hatte.
„Ein Freund von mir im Bergischen hat mir etwas Platz in seiner Scheune angeboten, aber ich muss das in den nächsten Tagen geregelt haben.“
Emil freute sich auf die Tour. „Sicher nach Wahlscheid, nicht wahr. Da waren wir doch schon ein paarmal. Da lebt doch dein Kriegskamerad. Wenn mich hier keiner braucht, können wir morgen fahren. Die hier in der Bank werden mich nicht vermissen, weil die denken, dass ich mit der Beerdigung oder so was beschäftigt bin. Da merkt keiner was.“
Anat war sich sicher, dass Emil nichts von den Plänen erzählen würde. Er erinnerte sich daran, dass Emil sie früher ab und zu ins Aggertal gefahren hatte. Der Ühm war mit seinen Freunden häufig über die Kneipe im Wahlscheider Auelerhof hergefallen und sie hatten feuchtfröhliche Stunden während der alljährlichen Kirmes dort verbracht. Er würde dem Wirt, dem alten Schiffbauer, erzählen müssen, dass der Ühm gestorben ist.
„Gut – dann komme ich dich morgen Vormittag in der Budengasse abholen“, schlug Emil vor. „Auf keinen Fall! Das ist viel zu auffällig.“ Anat dachte an das Aufsehen, das es geben würde, wenn diese Edelkarosse vor seinem Haus anhielte, um einen Juden abzuholen. „Ich bin um 9 Uhr in der Rheinstraße. Komm einfach dorthin.“ Anat nannte ihm noch die Hausnummer und verabschiedete sich dann von Emil.
Wie in Trance marschierte Anat nach Hause. Hatte er sich bei seinem Gespräch mit Emil noch zusammengerissen, wurde ihm nun nach und nach klar, was der Tod des alten Ühm für ihn und seine Familie bedeuten konnte. Der kleine, schwache Rettungsanker, den der Banker ihm zugeworfen hatte, war nun von einem Tag auf den anderen wertlos geworden. Immerhin war er froh, dass ihm die spontane Idee gekommen war, mit Emil zu sprechen, und er hoffte, dies nicht irgendwann einmal zu bereuen. Nun musste erst einmal Rinah erfahren, dass sie ihren letzten Verwandten verloren hatte.