Читать книгу Stakeholder-Kapitalismus - Klaus Schwab - Страница 27
Einkommensungleichheit
ОглавлениеEs gibt eine eiternde Wunde in unserem globalen Wirtschaftssystem, und diese Wunde ist die steigende Einkommensungleichheit.
Die Geschichte beginnt mit einer unerwarteten Wende. Die globale Einkommensungleichheit, gemessen an der Verteilung der Einkommen aller Menschen auf der Welt, ist in den letzten 30 Jahren tatsächlich stetig zurückgegangen37 (siehe Abbildung 2.3). Dies mag für viele Leser überraschend sein, da man in vielen Ländern das Gegenteil vermutet. Doch der globale Trend ist eindeutig: Weltweit erzielen die Menschen nicht weniger, sondern mehr gleiches Einkommen.
Der Rückgang der Ungleichheit erfolgte aufgrund einer unglaublich starken Kraft: den enormen wirtschaftlichen Einkommenssprüngen in einigen der größten (und zuvor ärmsten) Ländern der Welt. Vor allem China hat sich seit der Reform und Öffnung von einem Land mit niedrigem Einkommen zu einem Land mit mittlerem Einkommen entwickelt.38 Nach eigenen Berechnungen hat es rund 740 Millionen Menschen aus der Armut geholt.39 Auch Indien durchlief mehrere Phasen schnellen Wachstums und schaffte es dadurch, das Einkommen vieler Menschen zu erhöhen.
Der Einfluss dieser beiden Länder auf die globale Ungleichheit war gewaltig: Der Ökonom Zsolt Darvas vom Bruegel-Institut zeigte, dass ohne die Veränderungen in China und Indien die globale Ungleichheit unverändert geblieben wäre oder sogar deutlich gestiegen wäre, je nach Berechnungsmethode (siehe Abbildung 2.3).
Abbildung 2.3: Der Einfluss von China und Indien auf die globale Einkommensungleichheit (gemessen in Gini-Indizes)
Quelle: Nachgezeichnet aus Zsolt Darvas, Global income inequality is declining -largely thanks to China and India, 18. April 2018.
Dies verdeutlicht das eigentliche Problem, das die Ungleichheit heute darstellt. Die globale Ungleichheit mag abgenommen haben, aber die Ungleichheit innerhalb der Nationen hat sich drastisch verschlechtert.
Für viele Menschen ist es viel wichtiger, wie es ihnen im Vergleich zu ihren Mitbürgern geht, als im Vergleich zur restlichen Weltbevölkerung. In allen Ländern, bis auf wenige Ausnahmen, hat die nationale Ungleichheit zugenommen, und das oft ziemlich schnell.
Das traditionelle Maß für Ungleichheit, der Gini-Koeffizient, wird der Schwere des Problems nicht gerecht. Der Gini-Koeffizient übersetzt den Grad der Ungleichheit in eine Zahl von 0 (alle haben das gleiche Einkommen) bis 1 (eine Person hat das Einkommen der gesamten Volkswirtschaft). Während ein höherer Wert im Laufe der Zeit anzeigt, dass die Ungleichheit gestiegen ist, ist es schwierig zu verstehen, was das in der Praxis bedeutet. In den USA zum Beispiel stieg der Gini-Koeffizient von seinem Tiefpunkt von 0,43 im Jahr 1971 auf ein Nachkriegshoch von heute 0,58.40 Es ist natürlich ein Anstieg, aber wie gut oder schlecht ist die jeweilige Zahl genau? Thomas Piketty, ein französischer Wirtschaftswissenschaftler, hat das Problem besser beschrieben. In seinem 2013 erschienenen Buch Capital in the Twenty-First Century41 (deutsche Ausgabe: Das Kapital im 21. Jahrhundert) zeigte er auf, wie sich der Anteil des Einkommens, das an die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher ging, im Laufe der Zeit entwickelt hat. Seine Daten zeigten, dass 1971 die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher ein Drittel des nationalen Einkommens erhielten. Anfang der 2010er-Jahre erhielten sie die Hälfte des Einkommens. Das bedeutet, dass die große Mehrheit der Arbeiter – die restlichen 90 Prozent – nur die Hälfte des nationalen Einkommens unter sich aufteilen können.
Spätere Zahlen aus dem World Inequality Report, an dem Piketty als Co-Autor beteiligt ist, zeigten, dass der Trend für die oberen ein Prozent sogar noch ausgeprägter ist. Im gleichen Zeitraum, 1971 bis Anfang der 2010er-Jahre, hat sich ihr Einkommensanteil verdoppelt42 und ihr Einkommen mehr als verdreifacht. Das bedeutet, dass zu Beginn der 2010er-Jahre mehr als 20 Prozent des gesamten Volkseinkommens an das oberste 1 Prozent der Einkommensbezieher gingen. Für die Menschen am unteren Ende der Einkommenspyramide war die Situation noch viel düsterer. Viele Arbeitnehmer mussten seit Anfang der 1980er-Jahre einen Rückgang ihrer Realeinkommen und ihrer Kaufkraft hinnehmen (Abbildung 2.4). In Großbritannien fand eine ähnliche Verschiebung statt.
Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser sich verschärfenden Ungleichheit in den USA sind höchst problematisch. Es gibt wieder viele Working Poor in Amerika, ein schmerzhaftes Ergebnis im reichsten Land, das die Welt je gesehen hat. Guy Standing, ein britischer Wirtschaftswissenschaftler, prägte sogar den Begriff Prekariat, für »eine aufstrebende Klasse, die die schnell wachsende Zahl von Menschen umfasst, die mit einem unsicheren Leben konfrontiert sind und immer wieder in Jobs wechseln, die ihrem Leben wenig Sinn geben«.43
So gesehen ist es kein Wunder, dass 2011 ein einseitiger Aktionsaufruf in einer Aktivistenzeitschrift zu einer der amerikanischen Protestbewegungen mit der größten Unterstützung dieses Jahrhunderts führte. Auf der Seite in AdBusters hieß es: »17. September. Wall Street. Zelt mitbringen.« Tatsächlich tauchten an diesem Tag Demonstranten in Lower Manhattan auf, die Zelte mitbrachten, und damit war Occupy Wall Street geboren. Unter Bezugnahme auf die extreme Ungleichheit in den USA wurde »Wir sind die 99 Prozent« zum Schlachtruf der Bewegung. Die Demonstranten prangerten den Reichtum, das Einkommen und die Macht an, die von dem einen Prozent der reichsten Einzelpersonen und Unternehmen in Amerika angehäuft wurden. Wie aus Abbildung 2.4 ersichtlich ist, war diese Diskrepanz zwischen dem einen Prozent und dem Rest der Einkommensbezieher keine Einbildung.
Das gleiche Muster gibt es in anderen Teilen der Welt, und in einigen Ländern ist die Empörung über diese Ungleichheiten mit gleicher Wucht ausgebrochen wie in der englischsprachigen Welt. Tatsächlich waren es Bewegungen im Mittelmeerraum und im Nahen Osten, die Occupy Wall Street inspirierten, so Kalle Lasn, einer der Gründer von Occupy, 2012 in einem Interview.44 So gingen in den ersten Jahren dieses Jahrzehnts die spanischen Indignados auf die Straße um zu protestieren. Ein Jahr später gingen die Demonstranten des Arabischen Frühlings in Tunesien, Ägypten, Syrien und anderen Ländern auf die Straße, um ihrer Wut über wirtschaftliche Ungerechtigkeiten in ihren Ländern Ausdruck zu verleihen. In Tunesien erzwangen sie einen Regimewechsel.
Abbildung 2.4: In den USA ist die Einkommensungleichheit stark angestiegen
Quelle: Nachgezeichnet aus Piketty, Saez and Zucman (2018), World Inequality Report 2018.
»Wir sahen, was in Tunesien mit dem Regimewechsel geschah, und begannen, darüber nachzudenken, wie das in Amerika aussehen würde«, so Lasn. Ein »sanfter Regimewechsel« in den USA, sagte er, würde bedeuten, den großen Konzernen, die »jeden Teil meines Lebens« bestimmten, Macht und Geld zu nehmen. »Wir spürten, dass wir eine Situation erreicht hatten – mit der Arbeitslosigkeit junger Menschen, riesigen Studentenschulden und ohne gute Jobs –, in der wir keine Zukunft haben würden, wenn wir nicht für unsere Zukunft kämpfen würden. Das war der Kerngedanke hinter Occupy Wall Street.«
In anderen Ländern, vor allem in den asiatischen Schwellenländern, war die soziale Empörung über die zunehmende Ungleichheit weniger ausgeprägt. Auch in China, Indien und vielen ASEAN-Staaten stieg die nationale Ungleichheit. Allerdings war das gesamtwirtschaftliche Wachstum in dieser Region deutlich höher, sodass eine steigende Flut tatsächlich die meisten Boote anhob. Dennoch schwebt auch über einigen dieser Länder das Gespenst der Klassenkonflikte (siehe Kapitel 3).
Wie der Autor James Crabtree in seinem Buch The Billionaire Raj hervorhebt, ist Indien heute eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt, bis hin zur Verkörperung einer neuen Gilded-Age-Gesellschaft. Anders als in Indien begann in China der größte Teil der Bevölkerung auf dem gleichen Stand, als sich das Land der Welt öffnete. Trotzdem ist auch in China die Ungleichheit stark angestiegen: Die obersten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen heute über 41 Prozent des Einkommens ihres Landes.45 In vielen anderen Schwellenländern ist die Situation noch schlimmer. Genau wie in den Vereinigten Staaten erzielen die oberen 10 Prozent in Ländern des Nahen Ostens, in Subsahara-Afrika und in vielen lateinamerikanischen Ländern einschließlich Brasilien mehr als die Hälfte des jeweiligen Volkseinkommens.
In Kontinentaleuropa ist die Ungleichheit etwas weniger ausgeprägt: 37 Prozent des Einkommens entfallen auf die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher. Die Ungleichheit hat zwar zugenommen, aber in einem deutlich langsameren Tempo als in den meisten anderen bedeutenden Volkswirtschaften. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Europa ein größeres System der Kontrolle und des Ausgleichs hat, das die Einkommensverteilung und Umverteilung erleichtert.
Aber auch hier gibt es weiterhin einige unbequeme Wahrheiten. In weiten Teilen Süd- und Osteuropas zum Beispiel bleibt die Arbeitslosigkeit auf einem hohen Niveau, insbesondere unter jungen Menschen. Gut bezahlte Jobs sind dort immer schwieriger zu bekommen, oft zum Nachteil sowohl von Arbeitern als auch von jungen Leuten mit Hochschulabschluss. Selbst in den nordeuropäischen Volkswirtschaften, die ein ordentliches Wachstumstempo hielten, obwohl die europäische Schuldenkrise ab 2010 das europaweite Wachstum belastete, stieg die Einkommensungleichheit im vergangenen Jahrzehnt an. Gegenbeispiele wie Belgien,46 Estland, Rumänien, die Slowakei oder die Tschechische Republik,47 die eine sinkende Ungleichheit erlebten, bleiben die Ausnahme.