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Wohlstand, Gesundheit und soziale Mobilität
ОглавлениеDie Kuznets-Kurve ist auch bei der Betrachtung anderer Kennzahlen der Ungleichheit widerlegt worden. Die Vermögensungleichheit, die die Ersparnisse, Investitionen und andere Kapitalbestände widerspiegelt, die Einzelpersonen besitzen, ist in vielen Ländern sogar noch ausgeprägter. Und im Gleichschritt mit diesem Wohlstandsgefälle werden private Bildung und hochwertige Gesundheitsversorgung, die große Summen erfordern können, immer mehr zu einem Privileg, das der oberen Mittel- und Oberschicht vorbehalten ist. Das ist vor allem in Ländern ohne geeignete öffentliche Angebote der Fall.
Diese Realität ist vielleicht am stärksten in den Vereinigten Staaten zu spüren, die in dieser Hinsicht eher den Schwellenländern Indien und Mexiko ähneln als der fortgeschrittenen Wirtschaftsnation, die sie sind. Die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman haben berechnet, dass das Vermögen, das im Besitz von dem einen Prozent der reichsten Amerikaner ist, von weniger als 15 Prozent in den 1970er-Jahren auf über 40 Prozent Anfang der 2010er-Jahre gestiegen ist.48 Damit ist die Vermögensungleichheit doppelt so hoch wie die Einkommensungleichheit.49
Diese beiden Ungleichheiten – Vermögen und Einkommen – bauen auch aufeinander auf und schaffen einen Teufelskreis.50 Ein Artikel der Financial Times aus dem Jahr 2020 fasst zusammen, dass Ende September 2019 ein Rekordwert von 56 Prozent aller US-Aktien von dem obersten einen Prozent der vermögendsten Haushalte gehalten wurde: 21,4 Billionen Dollar. Halten Sie sich das vor Augen: Das »eine Prozent« besitzt in der Tat mehr als die Hälfte aller Aktien in den USA. Dieser Prozentsatz sei in den letzten drei Jahrzehnten stetig gestiegen, und der Anstieg sei »durch stagnierende Löhne für viele Amerikaner angetrieben worden, was sie davon abhielt, an den Gewinnen des Aktienmarktes im letzten Jahrzehnt teilzuhaben«.
Die 0,1 Prozent haben sogar noch größere Sprünge gemacht. Sie häuften in den 2010er-Jahren weit über ein Fünftel des amerikanischen Vermögens an, ein Anteil, der fast dreimal so hoch ist wie Mitte der 1970er-Jahre. Diejenigen am unteren Ende der Skala hingegen sahen ihren Vermögensanteil und ihre Ersparnisse rapide sinken, bis hin zu dem Punkt, dass sie oft nicht einmal mehr in der Lage waren, für gesundheitliche Notfälle und Bildung aufzukommen,51 wie sich während der Pandemie 2020 schmerzlich gezeigt hat.
Die Folge dieses zunehmenden Wohlstandsgefälles, so der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, ist, dass die wirtschaftliche Mobilität in den USA zunehmend der Vergangenheit angehört. Selbst ein langes oder gesundes Leben ist für viele unerreichbar. Er beklagt die Situation in seinem 2019 erschienenen Buch People, Power and Profits: Progressive Capitalism for an Age of Discontent (deutsche Ausgabe: Der Preis des Profits: Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten!) und in einem früheren Artikel in der Fachzeitschrift Scientific American: »Familien der unteren 50 Prozent haben kaum Bargeldreserven für einen Notfall«, schrieb er. »Die Zeitungen sind voll mit Geschichten über Menschen, für die eine Autopanne oder eine Krankheit eine Abwärtsspirale in Gang setzt, von der sie sich nie wieder erholen. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Ungleichheit ist die Lebenserwartung in den USA, noch dazu von einem außergewöhnlich niedrigen Niveau, fortwährend gesunken.«52
Und in der Tat ist das Phänomen, das Anne Case und Angus Deaton als »Tod durch Verzweiflung« bezeichnet haben,53 auf dem Vormarsch in den USA (und zunehmend auch in Großbritannien54). Die Menschen fallen von der wirtschaftlichen Leiter und verarmen oder sterben an einer Drogen-Überdosis, Depressionen oder anderen gesundheitlichen Problemen, die mit ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage zusammenhängen.
Kein Phänomen zeigt den Zusammenhang von »Reichtum und Gesundheit« in Amerika deutlicher als COVID-19, von dem Menschen mit weniger Geld viel stärker betroffen sind als andere. New York City liefert ein eindrucksvolles Beispiel. In den ersten Wochen der Pandemie konnten viele der wohlhabenderen Bewohner Manhattans in einem Anwesen im Norden des Staates oder außerhalb Schutz suchen, sich in einem Privatkrankenhaus behandeln lassen oder sich anderweitig vor dem Virus schützen. Ärmere New Yorker waren dagegen viel stärker gefährdet. Sie arbeiteten und lebten eher in risikoreichen Umgebungen, hatten seltener eine adäquate Gesundheitsversorgung und waren größtenteils nicht in der Lage, an einen anderen Ort zu ziehen. Eine frühe Studie ergab: »Coronavirus-bedingte Krankenhauseinweisungen und Todesfälle waren am höchsten in der Bronx, die den höchsten Anteil (38,3 %) an Afroamerikanern und das niedrigste jährliche mittlere Haushaltseinkommen (38.467 $) sowie den niedrigsten Anteil (20,7 %) an Einwohnern mit mindestens einem Bachelor-Abschluss aufweist.«55 Dieses Muster wiederholte sich auch anderswo in den Vereinigten Staaten – und in Wahrheit auf der ganzen Welt.
Doch trotz des globalen Trends, dass Krankheiten wie COVID ärmere Bevölkerungsschichten härter treffen, sind in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften die Ungleichheiten im Gesundheitsbereich bisher viel geringer geblieben, und die Lebenserwartung steigt weiter. Dies sollte kaum überraschen, da außerhalb der USA praktisch alle hochentwickelten Volkswirtschaften über eine Form der staatlichen Gesundheitsversorgung verfügen. Unter den 36 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hatte beispielsweise nur Mexiko einen geringeren Prozentsatz an versicherten Personen als die USA, und die meisten Länder erreichten eine Versorgungsquote von 100 Prozent,56 entweder durch öffentliche oder private Krankenversicherungen.
Die globale Bilanz zur sozialen und wirtschaftlichen Mobilität ist eher gemischt. Der 2020 Global Social Mobility Index des Weltwirtschaftsforums stellte fest, dass es »nur eine Handvoll Nationen mit den geeigneten Bedingungen zur Förderung der sozialen Mobilität gibt« und dass »die meisten Länder in vier Bereichen unterdurchschnittlich abschneiden: faire Löhne, sozialer Schutz, Arbeitsbedingungen und lebenslanges Lernen«, obwohl das Erreichen eines höheren Niveaus an sozialer Mobilität ein wichtiger Bestandteil der Umsetzung eines Stakeholder-basierten Kapitalismusmodells ist. Konkret heißt es in dem Bericht:
Betrachtet man alle Volkswirtschaften und das durchschnittliche Einkommensniveau, so zeigt sich, dass Kinder, die in weniger wohlhabende Familien hineingeboren werden, normalerweise mit größeren Hindernissen auf dem Weg zum Erfolg konfrontiert sind als ihre wohlhabenderen Altersgenossen. Außerdem steigt die Ungleichheit selbst in Ländern, die ein schnelles Wachstum erlebt haben. In den meisten Ländern sind Menschen aus bestimmten Gruppen historisch benachteiligt, und eine geringe soziale Mobilität erhält und verschärft solche Ungleichheiten. Ungleichheiten dieser Art können wiederum den Zusammenhalt von Volkswirtschaften und Gesellschaften untergraben.57
Andere Studien stellten eine ähnliche Dynamik fest. Ein Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2018 zeigt, dass nur 12 Prozent der jungen Erwachsenen in Regionen wie Afrika und Südasien eine höhere Bildung haben als ihre Eltern – oft eine Voraussetzung, um auf der sozioökonomischen Leiter nach oben zu klettern.58 In anderen Regionen, darunter Ostasien, Lateinamerika sowie dem Nahen Osten und Nordafrika, hat sich die durchschnittliche wirtschaftliche Mobilität laut dem Bericht verbessert. Der Bericht warnt aber auch: »Obwohl die Mobilität tendenziell zunimmt, wenn die Volkswirtschaften reicher werden, ist dieser Vorgang nicht vorprogrammiert. Vielmehr wird die Mobilität mit der Entwicklung der Volkswirtschaften wahrscheinlich zunehmen, wenn die Chancengleichheit steigt, was normalerweise höhere öffentliche Investitionen und bessere politische Maßnahmen erfordert.«59 Mit anderen Worten: Ohne öffentliche Investitionen – eine immer wahrscheinlicher werdende Realität für Regierungen mit knappen Budgets – könnte sich die wirtschaftliche Mobilität in vielen Ländern eher verschlechtern als verbessern.
Was würde Simon Kuznets also zu all diesen Erkenntnissen sagen, von denen viele seiner eigenen Theorie zuwiderlaufen?
Wir brauchen nicht zu spekulieren. Laut seinem Kollegen am National Bureau of Economic Research, Robert Fogel, warnte Kuznets wiederholt, dass seine »Anspielungen auf fragmentarische Daten keine Beweise, sondern ›reine Vermutungen‹ seien«.60 Kuznets war sich mit anderen Worten nur allzu bewusst, dass seine Erkenntnisse in den 1950er-Jahren möglicherweise nur unter ganz bestimmten Umständen gültig waren, die sich in der Tat als das goldene Zeitalter des Kapitalismus herausstellten. Fogel wies auch darauf hin, dass Kuznets schon damals »Faktoren fand, die im Laufe des Wachstums auftraten und einen Druck erzeugten, der entweder zu mehr oder zu weniger Ungleichheit führte«.
Branko Milanovic, ein früherer leitender Ökonom bei der Weltbank, hat kürzlich versucht, angesichts dieser Erkenntnisse eine neue Kuznets-Kurve zu erstellen. Kuznets verwies vor allem auf die Technologie als einen Faktor, der sich positiv oder negativ auf die Ungleichheit auswirken kann. Milanovic leitete daraus eine Ungleichheitskurve ab, die angesichts der Entwicklung, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, viel vollständiger erscheint. Er nennt sie die Kuznets-Welle, und sie zeigt, dass die Ungleichheit schwankt, wenn Wellen des technischen Fortschritts und politische Maßnahmen darauf einwirken (siehe Abbildung 2.5 unten).
Abbildung 2.5: Erwartetes Muster der Veränderungen der Ungleichheit im Verhältnis zum Pro-Kopf-Einkommen, basierend auf dem Stand der technologischen Revolution
Quelle: Nachgezeichnet aus Piketty, Saez, and Zucman (2018), World Inequality Report 2018.
In dieser Grafik entspricht die erste technologische Revolution von Milanovic in etwa den ersten beiden industriellen Revolutionen, in denen die Eisenbahn und die Dampfkraft bzw. der Verbrennungsmotor und die Elektrizität zur Anwendung kamen. Die zweite technologische Revolution entspricht in etwa der dritten und vierten industriellen Revolution, die uns unter anderem den Computer und die künstliche Intelligenz brachten. Sein Ansatz ist klar: Technologie hat die Tendenz, Ungleichheit zu erhöhen, aber wenn wir uns an sie anpassen und Maßnahmen ergreifen, um mit der von ihr geschaffenen Ungleichheit umzugehen, können wir später die Ungleichheit reduzieren. Wir werden auf diesen Gedanken in Teil II des Buches zurückkommen.
Doch trotz der frühen Warnungen von Kuznets und der neueren Arbeiten von Milanovic setzten die politischen Entscheidungsträger auf der ganzen Welt weiterhin eine Politik um, die das Spitzenwachstum gegenüber der inklusiven Entwicklung und den schnellen Einsatz von Technologien gegenüber einer überlegten technologischen Steuerung favorisierte. Das war ein Fehler, denn die aktuellen Zeiten der rasanten technologischen Entwicklung tendieren naturgemäß dazu, die Ungleichheit zu erhöhen. Umso wichtiger ist es für die Politik geworden, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um diesen Trend zu verlangsamen oder zu stoppen. Dass wir dies nicht getan haben, markiert den zweiten Kuznets-Fluch und bedeutet, dass viele Menschen auf der Welt einen sehr hohen Preis für den technologischen Fortschritt zahlen, den wir in letzter Zeit gemacht haben.