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cc) Sozialrechtliche Grenzen des Standards

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Nämliches gilt im Falle einer Diskrepanz zwischen sozialrechtlichem und haftungsrechtlichem Standard. Wenn der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine Methode oder ein Heilmittel als nicht notwendig und damit nicht erstattungsfähig bezeichnet und der Arzt daher von deren Anwendung absieht, weil die Leistung schon aus dem Versorgungsauftrag der GKV ausscheidet, darf ihm „grundsätzlich kein Fehlervorwurf gemacht werden“,[221] solange der Patient zur Übernahme der Kosten nicht bereit ist. Die zunächst erst zu begründende und zu legitimierende Sorgfaltserwartung lässt sich ebenso wie eine ggf. relevante Garantenstellung nicht in einer Weise begründen, die den Arzt berufsbedingt zu einem Mitbürger macht, der kurzerhand fremden Bedürfnissen unterworfen ist. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn hierdurch eine bereits begonnene pflichtgemäße Behandlung ggf. nach einem negativen nachträglichen Votum des GBA gem. den §§ 135, 136 Abs. 1 Nr. 2 oder 137c SGB V als Leistung der GKV abzubrechen ist. Oftmals wird im Schrifttum aber auch eine gegenteilige Ansicht vertreten, die jedenfalls einen eigenständigen zivilrechtlichen Haftungsstandard vertritt, der über die Schranken des Sozialrechts tendenziell auch ohne eine gesicherte Finanzierung hinausgehen kann.[222] Damit besteht die Gefahr, dass Einsparzwänge und Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen auf dem Rücken der Ärzte ausgetragen werden, obschon diese keine zwangsrekrutierten Staatsbediensteten darstellen, sondern die Behandlung nur nach den Maßstäben des Vertragsrechts (der strafrechtlichen tatsächlichen Übernahme) durchführen. Dies gilt im Besonderen, solange die ärztlichen Gutachter auf die finanziellen Grenzen und Knappheitsfolgen im medizinischen Alltag nicht oder kaum hinweisen, da sie sich oft „aus dem Bereich der Spitzenmedizin rekrutieren“[223] und von derartigen Einschränkungen weniger betroffen sind. Auch dieses Phänomen fördert medizinische Ideal-Standards, die zum Teil wirklichkeitsfremd der Beurteilung der erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt des Arztes zugrunde gelegt werden. Hier muss einbezogen werden, dass sich angesichts der weit überwiegenden gesetzlichen Versicherung vieler Patienten nicht ohne weiteres ein allgemein anerkannter und praktizierter Standard wird bilden können. Auch in diesem Kontext bleibt es gleichwohl stets notwendig, den Patienten in die Entscheidung bzw. Verantwortung einzubinden. Soweit sich medizinisch und zivilrechtlich ein höherer Standard jenseits der GKV formulieren lässt, darf der Arzt nicht kurzerhand nach dem rationierten GKV-Standard behandeln und auf den fremden Körper zugreifen. Kommt es ernsthaft in Betracht, einen über das Sozialrecht hinausgehenden Standard zu formulieren oder befürwortet der Arzt gar selbst eine vorrangig gebotene Behandlung, muss er den Patienten über die ökonomisch bedingten Einschnitte in der Versorgung informieren, damit der Patient den Standard privat finanzieren oder, im ersteren Fall, eine Unterstandardbehandlung (siehe § 630a Abs. 2 Hs. 2 BGB) vereinbaren kann.[224]

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Ob und inwieweit die Zivil- und Strafgerichte eine entsprechende Reduktion des Facharztstandards aus ökonomischen Gründen billigen, ist bis heute noch nicht klar entschieden.[225] Soweit sich die Rechtsprechung für einen uneingeschränkten objektiven Standard entscheiden sollte,[226] bleibt im Strafrecht abermals daran zu erinnern, dass die konkret für den Einzelnen erschwerenden Umstände auf der Ebene der Schuld unter anderem unter den Aspekten der individuellen Vermeidbarkeit und der Zumutbarkeit Beachtung finden können und ggf. müssen. Dies gilt auch deshalb, weil sich ein Übernahmeverschulden angesichts der gerade aus den Vorgaben etwa des GBA resultierenden objektiven Handlungsgrenzen schwerlich wird begründen lassen.

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Auf wirtschaftliche Grenzen der Sozialversicherung kann sich ein Vertragsarzt allerdings grundsätzlich nicht berufen, wenn Rationalisierungsmaßnahmen bzw. implizite Rationierungen, die nicht an einer einzelnen Behandlung ansetzen,[227] wie die vorgesehenen Regelleistungsvolumen die Behandlung erschweren. Hier darf die gegenüber dem Patienten übernommene Sorge so verstanden werden, dass der Arzt den Versorgungsstandard der GKV leisten wird.[228] Insoweit ist allenfalls unter besonderen Umständen und Zuspitzungen eine Unzumutbarkeit denkbar, die dann aber noch immer nicht zur stillen Anwendung eine Unterstandards, sondern zum Gespräch mit dem Patienten führen muss. Ist keine unmittelbare Notlage gegeben, kann die Garantenstellung ggf. niedergelegt werden.

Arztstrafrecht in der Praxis

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